Erreichbarkeit nach Dienstschluss
Nicht mehr ständig auf Standby

Durch die ständige Erreichbarkeit gibt es keine „tote Zeit“ mehr
Durch die ständige Erreichbarkeit gibt es keine „tote Zeit“ mehr | Foto (Ausschnitt): © Fotowerk – Fotolia.com

Über Smartphones immer erreichbar zu sein, macht Arbeitnehmer krank, sagen Psychologen. Einige deutsche Konzerne ziehen Konsequenzen.

Der Anruf kam am Freitag eine Stunde nach Feierabend. Vielleicht hätte Martina D. – keine Managerin, sondern einfache Angestellte – nicht abnehmen sollen, aber das wäre doch irgendwie unhöflich gewesen. So hat ihr der Chef noch schnell mitgeteilt, dass er ihre Projektergebnisse für mangelhaft hält, eine halbe Stunde später hat er sie zudem per E-Mail für Montagfrüh in sein Büro bestellt. Immer wieder muss Martina D. daran denken, kann kaum schlafen, ihr Wochenende ist gründlich verdorben.

Ein konstruierter Fall, doch er ist beispielhaft für die heutige Arbeitswelt. Laut einer Studie des IT-Verbandes Bitcom vor den Weihnachtsfeiertagen 2011 gaben 71 Prozent der befragten Arbeitnehmer an, sogar an den Feiertagen telefonisch und per E-Mail verfügbar zu sein. Abends und am Wochenende sind nach verschiedenen Erhebungen zwischen 27 und 88 Prozent aller Berufstätigen permanent erreichbar. Generell sind Frauen noch besser greifbar: Während laut Bitcom drei Viertel der Frauen ständig auf Standby sind, sind es nur zwei Drittel der Männer. „Es gehört in unserer Gesellschaft derzeit zum guten Ton, ständig verfügbar zu sein“, sagt Dieter Zapf, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Frankfurt, „zudem hat die jüngere Generation eine viel höhere Affinität zum Smartphone, ist ständig damit beschäftigt und auch privat immer darüber in Kontakt“.

Warum tun Arbeitnehmer sich das an?

In der globalisierten Welt ist die ständige Verfügbarkeit in vielen Bereichen zwingend notwendig geworden – zum Beispiel, wenn ein Konzern international agieren möchte. Für Manager etwa ist die telefonische und digitale Dauererreichbarkeit sinnvoll. Doch warum tun sich normale Arbeitnehmer den Stress an? Sie sind nicht dazu verpflichtet, nach Dienstschluss erreichbar zu sein – auch nicht auf einem Diensthandy –, das Ganze scheint also absurd.

„Wenn die Erreichbarkeit nach Dienstschluss unbedingt nötig ist, sollten dazu am besten schriftliche Vereinbarungen getroffen werden, und der Arbeitnehmer sollte die zusätzliche Arbeit gut dokumentieren“, rät Volker Lehmann, Fachanwalt für Arbeitsrecht in München, „sonst ist es schwer, die Zusatzbelastung als Überstunden geltend zu machen“.

Gut fürs Ego, schlecht für die Gesundheit

Zum Stress kommt hinzu, dass die zusätzliche Leistung in der Regel vom Arbeitgeber unbezahlt bleibt. Ein Grund, warum die Erreichbarkeit dennoch so schick ist: Manch einer braucht sein Smartphone für sein Ego. „Es unterstreicht natürlich die eigene Wichtigkeit, wenn der Chef nach Feierabend anruft. Bei vielen trägt das zum Selbstwertgefühl bei“, erklärt Dieter Zapf. Auf den Stress, den die permanente Verfügbarkeit auslöse, reagiere zwar nicht jeder im selben Maße, dennoch warnt der Arbeitspsychologe vor einer „schädlichen Wirkung“, wenn man sich nicht gedanklich von der Arbeit lösen könne. Ohne gesicherte Erholungsphasen erschöpfen Körper und Geist immer weiter. Die Symptome können von Schlafstörungen bis hin zum Burnout reichen. Hinzu kommen soziale Aspekte: „Wenn ein Familienvater alle halbe Stunde am Handy hängt, provoziert das natürlich Konflikte in der Familie“, so Zapf.

Dennoch nehmen viele Unternehmen das Thema bisher nicht ernst, unter anderem deshalb, weil sich ihre Arbeitnehmer nicht beklagen. Dabei ist die Anzahl von Fehltagen aufgrund seelischer Erkrankungen laut der Bundespsychotherapeutenkammer allein zwischen 2004 und 2011 um ein 14-Faches gestiegen. Für die Betriebe entsteht so ein nicht zu unterschätzender Produktionsausfall.

„Einzelne Arbeitnehmer können sich meist nicht so leicht gegen die Bestimmungen des Chefs wehren“, erklärt Arbeitsrechtler Lehmann, „in Deutschland haben die Betriebsräte jedoch in Sachen Arbeitszeit und Arbeitsschutz mitzubestimmen. Das heißt, ein engagierter Betriebsrat kann gegen unangemessene Forderungen des Chefs einschreiten – notfalls sogar gerichtlich“.

Betriebsrat schützt 1.100 Volkswagen-Mitarbeiter

Nur langsam wächst das Bewusstsein für die Bedeutung ungestörter Freizeit. Einen entscheidenden Sieg hat in diesem Zusammenhang der Betriebsrat des Autoherstellers Volkswagen Ende 2011 errungen. Nach einer Betriebsvereinbarung werden seitdem 30 Minuten nach Dienstschluss keine E-Mails mehr auf Dienst-Smartphones weitergeleitet, erst 30 Minuten vor Arbeitsantritt können sie wieder abgerufen werden. Die Regelung gilt zwar nicht für Manager, doch über 1.100 Mitarbeitern wird so ein Feierabend ohne Belästigungen durch Dienst-E-Mails garantiert.

Auf diesen Zug sind nun mit BMW, Puma, E.on, der Deutschen Telekom und Bayer einige weitere Unternehmen aufgesprungen. So ist beim Energiekonzern E.on 20 Minuten nach Feierabend kein geschäftlicher E-Mail-Verkehr mehr erlaubt, während die Deutsche Telekom von ihren Mitarbeitern Selbstdisziplin einfordert. Laut einer Selbstverpflichtungserklärung des Telekommunikationsunternehmens müssen die Arbeitnehmer außer in Krisensituationen in ihrer Freizeit nicht erreichbar sein.

Klare Regelungen forderte zuletzt Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen im Juni 2012. Unternehmen sollten genau definieren, wann welche Mitarbeiter erreichbar sein müssen, um diese im Sinne des Arbeitsschutzes vor Überforderung zu schützen. „In der Freizeit sollte Funkstille herrschen“, so die Arbeitsministerin.