Bedrohung der Demokratie   „Wir haben bizarr als normal akzeptiert”

 “Encontro da terra seca, água doce e água salgada” (Begegnung von trockener Erde, Süßwasser und Salzwasser), 2024. Akryl und Permanentmarker auf Leinen.
“Encontro da terra seca, água doce e água salgada” (Begegnung von trockener Erde, Süßwasser und Salzwasser), 2024. Akryl und Permanentmarker auf Leinen. © Aislan Pankararu. Foto: Ricardo Prado

Das Bizarre in der Politik zeigt sich heute im Rückgriff auf zweifelhaften Humor, der Unterwanderung traditioneller Riten und in einer Dynamik der permanenten Konfrontation. Wenn das Histrionische, Grobe und Unflätige nicht mehr nur Mittel im Wahlkampf, sondern zur strategischen und geplanten Inszenierung geworden sind, werden sie für die Institutionen und sogar für den Rechtsstaat zum Risiko.

Der Gouverneur von Minas Gerais, einem der für Brasiliens Bruttoinlandsprodukt wichtigsten Bundesstaaten, isst eine ungeschälte Banane als Kritik an der anhaltenden Inflation. Der mit den landesweit meisten Stimmen gewählte Parlamentsabgeordnete steht am Rednerpult mit einer blonden Perücke, um damit den „Sprechort“ seiner transphoben Rede zu ironisieren. Senatoren attackieren ohne jede Zurückhaltung die Umweltministerin mit offen frauenfeindlichen Bemerkungen. Der Bürgermeister einer Provinzstadt im Bundesstaat São Paulo hat mehr Follower auf Instagram als seine Stadt Einwohner und erklärt den „Krieg zwischen Israel und Iran“ zur großen Chance für ortsansässige Düngemittelexporteure. Das Video einer Bürgermeisterin einer Stadt im Norden Brasiliens, die im Bikini tanzt, geht viral und beschert ihrem Profil mehr als eine Million Follower in 24 Stunden.

Im politischen Leben Brasiliens kommt es mittlerweile zu bizarren Szenen, die nicht mehr allein als dessen harmlose Exzentrik zu begreifen sind. Was wir in der gegenwärtigen historischen Epoche erleben und Wähler*innen und Bürger*innen tatenlos mitmachen, ist ein Phänomen: Das Bizarre ist nicht mehr nur Mittel im Wahlkampf, um Stimmen zu fangen, sondern hat sich ins Leben der Institutionen und die Politik eingeschlichen, als strategische und geplante Inszenierung und Stütze des Aufstiegs der extremen Rechten.

Kalkulierte Absonderlichkeit


Die Frage nach dem Bizarren in der heutigen brasilianischen Politik beschäftigt entsprechende Forschende, die jedoch fast einhellig zu dem Schluss kommen: Das „Bizarre“ hat neue Formen erreicht und birgt ernsthafte Risiken für die Demokratie, sobald es auf der Ebene der Institutionen, politischer Maßnahmen und natürlich gewählten Politiker*innen auftritt – deren Mandat sie mit der Macht ausstattet, Entscheidungen im Namen einer Mehrheit zu treffen.

Das Bizarre, Erstaunliche, nie Dagewesene, gab es schon immer. Wie dies wahrgenommen wird, hängt von dem ab, was als normal gilt, sagt Luciana Villas Bôas von der Abteilung für Anglistische und Germanistische Literaturwissenschaften der Bundesuniversität von Rio de Janeiro. „Diese Unterscheidung zwischen dem, was sich unbekannten Kategorien entzieht und dem, was sich einfügt in das, was erwartet wird, hat Geschichte“, erklärt sie. Unsere Aufgabe ist es, fügt die Professorin hinzu, zu verstehen, was an dem historischen Moment, in dem wir leben, besonders ist. Und dieser Moment ist einzigartig und gefährlich. „Die bizarren Erscheinungen wirken spontan, sind jedoch kalkuliert: Es ist die Art, wie sich rechtsextreme Populisten inszenieren.“

Laut Villas Bôas ist Populismus „schon seit der Antike eine der Demokratie inhärente Tendenz, die sich auf das Prinzip der Volkssouveränität beruft und schon immer mit der Erzählung verbunden ist, die Eliten hätten das Volk verraten. Dies führt letztendlich zu einer großen Diskrepanz zwischen Establishment und Volk“. Das Problem, fährt sie fort, trete dann auf, wenn Populisten wie etwa Donald Trump an die Macht kommen und weiter Kritik an der politischen Elite üben, der sie ironischerweise selbst angehören. „Zur extremen Opposition zwischen Volk und Elite kommt nun die systematische Diskreditierung der Institutionen. Diese anti-institutionelle Haltung gegen jede Form der Mediation ist eng verknüpft mit dem, was wir bizarr nennen“, so Villas Bôas.

Bedrohung für den demokratischen Rechtsstaat


Villas Bôas war Teil der Arbeitsgruppe „Normalizing the Far Right“ der Universität Kiel unter Leitung der Professorinnen Paula Diehl (Kiel) und Birgit Sauer (Wien). Die im Februar 2025 abgeschlossene Studie analysierte den Populismus der extremen Rechten anhand von drei Episoden: den versuchten Sturm auf den Reichstag in Deutschland 2020, die Erstürmung des Kapitols in den Vereinigten Staaten 2021 und die Angriffe vom 8. Januar 2023 mit der Besetzung und Vandalisierung der Gebäude der Drei Gewalten in Brasília.

„Die Stürmung von Brasília zerstört die Architektur der Macht, richtet sich buchstäblich gegen den Bestand einer bestimmten Machtkonfiguration. All dies steht im Dienste der Normalisierung der extremen Rechten und stellt ein – beträchtliches und anhaltendes – Risiko für die demokratischen Institutionen und den Rechtsstaat, den Rule of Law, dar. Genau das steht auf dem Spiel. Und genau dieses wird normalisiert“, warnt Villas Bôas.

„Schlechte Manieren“


Im Kontext der gegenwärtigen Krise der Demokratie, sagt der an der Fundação Getúlio Vargas wirkende Politikwissenschaftler Guilherme Casarões, „werden traditionelle Mediatoren der Demokratie – politische Parteien, institutionelle Politik und die traditionelle Presse – infrage gestellt und diskreditiert“. Dies eröffne den Raum für die Vorherrschaft einer Art von populistischer Performance, die sich nach der Definition des australischen Wissenschaftlers Benjamin Moffitt, Autor des Buches The Global Rise of Populism: Performance, Political Style, and Representation, auf drei Säulen stützt: „die Spaltung der Gesellschaft in Volk und Elite, den Rückgriff auf ‚schlechte Manieren‘ und die permanente Konstruktion von Krisen und Bedrohungen“.

Für Casarões fügt sich das Bizarre in der brasilianischen Politik, das sich heute in „der Produktion beleidigender Memes, dem Einsatz von zweifelhaftem Humor, der Spektakularisierung und Unterwanderung traditioneller Riten und der Dynamik einer permanenten Konfrontation äußert“, perfekt ein in diese „Definition populistischer Performance“. Und er betont, dass diese Art von Performance vor allem aufseiten der radikalen Rechten geläufig ist, wo Politiker sich dieser Mittel bedienen, „um mit Sektoren der Gesellschaft in Verbindung zu treten, die sich durch das, was sie ‚Diktatur des politisch Korrekten‘ bezeichnen oder in jüngster Zeit als ‚Cancel-Kultur‘, als ‚unterdrückt‘ empfinden.“ Seiner Einschätzung nach ist „der Rückgriff auf das Bizarre ein Ventil für die Rehabilitierung des durchschnittlichen Bürgers insbesondere in dessen tiefsitzenden Vorurteilen und Überzeugungen.

Radikalisierung der Diskurse


Seit der Redemokratisierung Brasiliens nach der in den 1980er-Jahren zu Ende gegangenen Diktatur lässt sich das Bizarre in der Politik umso deutlicher wahrnehmen, sagt die Politikwissenschaftlerin Camila Rocha, Wissenschaftlerin am Brasilianischen Zentrum für Analyse und Planung (Cebrap) und Expertin für die neue Rechte und den Bolsonarismus. „Mit der Fragmentierung der Parteienlandschaft und dem vielfachen Aufkommen käuflicher Parteien erwiesen sich Figuren, die zuvor als bizarr angesehen waren, als Stimmenfänger einschließlich von Kandidaturen mit radikalisierten Diskursen oder von zweitklassigen Celebrities, wie etwa Tiririca“, erläutert sie mit Bezug auf den Clown, der 2010 mit den brasilienweit meisten Stimmen ins Parlament einzog. Seitdem, betont Rocha, verstärke sich diese Entwicklung noch durch die Algorithmen der sozialen Netzwerke.

„Die Radikalisierung wird populär durch die Behauptung der Unfähigkeit des politischen Systems, gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen. Das geschieht in Brasilien genau wie in anderen Ländern. Da die Linke in Brasilien für das System und die Ordnung steht, übernimmt die extreme Rechte den Diskurs gegen das System. Da der Diskurs des Systems ‚manierlich‘, ‚geschliffen‘ und ‚künstlich‘ ist, appelliert die Opposition in ihrem Auftreten oft an das als ‚authentisch‘ empfundene Histrionische, Bizarre, Grobe, Unflätige, um sich als gegen das System gerichtet zu positionieren“, verdeutlicht Rocha.

Neue Stufe


Mit Blick auf Zeiten von Cacareco, dem Rhinozeros, das 1959 in São Paulo in den Stadtrat „gewählt“ wurde, oder die Kandidatur des Schimpansen Tião 1988 zum Bürgermeister von Rio de Janeiro, betont der Politikwissenschaftler Fábio Kerche in einer intuitiven Analyse der Gegenwart, das „Bizarre“ sei früher eng mit der Strategie verbunden gewesen, vor allem im Wahlkampf hervorzustechen und sich dadurch von der Unmenge an Kandidierenden zu unterscheiden.

Heute, so Kerche, Wissenschaftler an der Casa Rui Barbosa und Dozent im Postgraduiertenprogramm für Politische Wissenschaften der UniRio, habe das Bizarre eine neue Stufe erreicht. „Vielleicht hatten wir damals keine bizarren Regierungen, heute haben aber wir Trump, Bolsonaro, Milei … Bizarr ist nicht nur, wenn sich Bolsonaro zum Frühstück Kondensmilch in den Kaffee tut, sondern, wie Bolsonaro regiert. Wenn es zur Strategie der Regierung wird, wenn das Bizarre regiert, das ist besorgniserregend, denn Politik ist eine ernste Sache.“

Exzessiv extravagante und bizarre Regierungen, sagt der Forscher, können zum Glück abgewählt werden, falls sie keine zufriedenstellenden Ergebnisse liefern. „Das Problem ist, wenn die Demokratie selbst befallen ist: dann verlieren wir jede Möglichkeit, Regierende auszutauschen, einschließlich der bizarren. Und das ist die Gefahr: wenn bizarre Regierungen zur Bedrohung der Demokratie werden.“

Algorithmen und Klicks


In dieses Gemenge von Kriminalisierung der Politik treten nun die sozialen Netzwerke, die Ära der Aufmerksamkeitsökonomie, der Plattformen als Mediatoren des Lebens und gesellschaftlicher wie politischer Beziehungen, stellt die Politikwissenschaftlerin Helga de Almeida von der Universidade Federal do Vale do São Francisco fest. Die politische Freak Show ist selbstverständlich geworden. Und was greift in einer Welt undurchsichtiger Algorithmen? „Hass, Angst und Polemik. Die Politiker nutzen dies und schaffen ein Repertoire der Kommunikation auf der Grundlage dieser Variablen. Was hier geschieht, ist die Manipulation der Emotionen. Das Bizarre bringt Klicks“, betont Almeida.

Und Casarões stellt heraus, dass der traditionelle – programmatische und ideologische – Gehalt der Politik mittlerweile ersetzt wurde durch reine Performance. Die Produktion von Wahrheit geschieht nun in sozialen Netzwerken. Anstatt von Konsens und bürgerlichen Tugenden setzen wir nun auf die Verstärkung von Polemik grotesken Ausmaßes. Wir haben das Bizarre als normal akzeptiert. Auch Fábio Kerche unterstreicht: „Es sind schwierige Zeiten“.

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