Neue Horrorliteratur aus Lateinamerika   „Der Realismus reicht nicht mehr aus, um die Wahrheit in Worte zu fassen“

 © Aislan Pankararu. Foto: Ricardo Prado

Die neue lateinamerikanische Literatur vermischt Fantastik und Grauen mit Krise, Gewalt und Ungleichheit. Horror ist hier jedoch keine Flucht, sondern der Spiegel einer ebenso rätselhaften wie gefährlichen Alltagsrealität.

Seit einigen Jahren legen Autoren und – in größerer Zahl – Autorinnen aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern anspruchsvolle Kurzgeschichten und Romane vor, in denen sie Motive von Genres, die mit den „bizarren“ und dunklen Seiten der Realität zu tun haben, aufgreifen und neu gestalten. Dabei handelt es sich um Genres wie Horror, Schauerroman, Geistergeschichten und Science-Fiction. Doch das Ziel, das diese Autorinnen und Autoren damit verfolgen, ist alles andere als Eskapismus. Ganz im Gegenteil: Sie erforschen damit die harte lateinamerikanische Realität, in der Krise, Armut, Korruption und Gewalt allzu alltäglich sind.

Namen, die in diesem Zusammenhang häufig genannt werden, sind Mariana Enríquez, Samanta Schweblin, Selva Almada und Michel Nieva aus Argentinien; Mónica Ojeda und María Fernanda Ampuero aus Ecuador; Bernardo Esquinca, Yuri Herrera und Gabriela Damián Miravete aus Mexiko; Juan Cárdenas aus Kolumbien, Fernanda Trías aus Uruguay, Liliana Colanzi und Edmundo Paz Soldán aus Bolivien sowie Erick J. Motta und Elaine Vilar Madruga aus Kuba. Die Welten in ihren Werken verweisen, so wenig es manchmal den Anschein hat, immer auf unsere Welt, auch wenn die Grenze zwischen dem Fantastischen und dem Glaubhaften darin verschwimmt und die Lesenden dazu gezwungen sind, in die dunkelsten Teile der Conditio Lateinamerikas abzutauchen, oder genauer gesagt: der Conditio humana.

„Realismus reicht nicht mehr aus, um die Wahrheit über die Schrecken unserer Gesellschaft in Worte zu fassen.“ – Dieses Zitat von Mariana Enríquez scheint auf den Punkt zu bringen, worum es den vielen beteiligten Stimmen bei diesem literarischen Experiment geht.

Literarische Verarbeitung tagtäglicher Dinge

Enríquez, die wohl berühmteste Vertreterin dieser Bewegung, wurde mit ihren Erzählbänden Los peligros de fumar en la cama (2009) und Las cosas que perdimos en el fuego (2017; Was wir im Feuer verloren, Übersetzung von Kirsten Brandt, 2017) bekannt. 2019 veröffentlichte sie den Roman Nuestra parte de la noche (Unser Teil der Nacht, Übersetzung von Inka Marter und Silke Kleemann, 2022), der von einem todkranken Mann erzählt, der von Visionen geplagt wird, sowie von dessen kleinem Sohn. Die beiden sehen sich gezwungen, als Medien für eine Geheimgesellschaft zu arbeiten, die nach dem ewigen Leben strebt und dabei Menschen foltert und grausame Rituale vollzieht.

An der Oberfläche verwendet Enríquez traditionelle Horrormotive (Sekten, verzauberte Häuser, übernatürliche Ereignisse), doch darunter erforscht sie äußerst reale Notsituationen: Depression, Umweltkatastrophen, urbane und sexualisierte Gewalt sowie die Ungeheuerlichkeit der lateinamerikanischen Diktaturen, die für Kindesentführungen, Folter, Mord und gewaltsames Verschwindenlassen Tausender Menschen verantwortlich sind.

Die Originalität und Scharfsichtigkeit der Argentinierin Enríquez stehen beispielhaft für zahlreiche Werke der oben genannten Autorinnen und Autoren. So beschreibt die Ecuadorianerin María Fernanda Ampuero in ihrer Kurzgeschichte „Invasiones“ aus dem Buch Sacrificios humanos (2021) die schrittweise „Besetzung“ eines Stadtviertels der Mittelschicht durch ärmere Leute. Der Hass eines Anwohners, der Tod eines Kindes und ein unheilvoller Fluch bilden die Grundlage für eine subtile gesellschaftskritische Horrorfabel. Denn Ampuero untersucht nichts anderes als die eklatante Ungleichheit in Lateinamerika sowie die Gleichgültigkeit und Grausamkeit der Institutionen.

Häusliche und sexualisierte Gewalt sind wiederkehrende Themen. Mónica Ojeda, ebenfalls Ecuadorianerin, lässt ihren Roman Nefando (2016) um schreckliche Dinge im Deep Web kreisen. Und in ihrem Erzählband Las voladoras (2020) und dem Roman Mandíbula (2018), der inzwischen Kultstatus erlangt hat, befasst sie sich mit Machtbeziehungen zwischen jungen Frauen, Sexualität, Femininität und Monstrosität. Die bolivianische Autorin Giovanna Rivero wiederum, die ebenfalls auf Mittel der Horrorliteratur zurückgreift, erzählt in der Kurzgeschichte „La mansedumbre“ von einer Vergewaltigungsserie in einer mennonitischen Gemeinde in Bolivien, die auf wahren Begebenheiten beruht.

Auch Umweltkatastrophen dienen als Hintergrund für Geschichten, die nur dem Anschein nach von übernatürlichen Dingen handeln, wie beispielsweise die Erzählung „En el fondo del agua negra“ von Mariana Enríquez oder der Roman Distancia de rescate (2014) von Samanta Schweblin. Und selbstverständlich thematisieren diese Autorinnen immer wieder die Gefahren des Frauseins. In ihren Geschichten, in denen stets Übernatürliches, Schockierendes oder schlichtweg Entsetzliches eine Rolle spielt, begegnen wir etwa Frauen, die es satthaben, von anderen Frauen zu hören, deren Partner ihnen Gesicht und Körper mit Säure verätzen, und sich deshalb entschließen, sich selbst anzuzünden, „damit ihre Männer niemanden mehr haben, den sie verbrennen können“. Wir begegnen auch Frauen, die auf schreckliche Weise dafür bestraft werden, dass sie anderen Frauen bei einer Abtreibung geholfen haben. Oder Frauen, die als nicht registrierte Migrantinnen Jobs annehmen müssen, die ihnen die Seele, den Körper und den Verstand rauben. All diese Geschichten sind reinster Horror und dennoch nur die literarische Verarbeitung von Dingen, die tagtäglich in der Realität stattfinden.

Schauerromane, Horrorfilme und indigene Mythen

Die erwähnten Autorinnen und Autoren haben aber nicht nur gemeinsame modi operandi und thematische Interessen, sondern schöpfen auch aus den gleichen Inspirationsquellen, wie etwa dem britischen Schauerroman (Frankenstein, Dracula), den Klassikern der US-amerikanischen Horrorliteratur (Edgar Allan Poe, H. P. Lovecraft, Shirley Jackson, Stephen King) und popkulturellen Werken der 1970er und 1980er Jahre, darunter Filme wie „Carrie“ und „Shining“. Eine weitere Referenz ist natürlich die lateinamerikanische Literatur, vor allem die Tradition der fantastischen Literatur, die Mitte des 20. Jahrhunderts in Argentinien durch Autoren wie Jorge Luis Borges, Adolfo Bioy Casares, Silvina Ocampo, María Luisa Bombal und Julio Cortázar begründet wurde.

Allerdings unterscheidet sich die neue Generation in mehreren Aspekten offenkundig von ihren Vorgängern. Einer davon ist ihr Interesse für indigene Mythologien und lokale Heiligenkulte. Und während die Schriftsteller der Vergangenheit die Quelle von Schauder und Horror in übernatürlichen Phänomenen verorteten – böse kosmische Wesen oder Monster –, interpretieren die neuen Vertreterinnen und Vertreter des Genres das Böse und Grauenvolle als Facette des Alltags.

Diese literarische Tendenz hat schon viele Namen bekommen: „Andengothic“, „Neuer lateinamerikanischer Horror“, „Bizarre Literatur“, „Weird Fiction“, „Anormaler Realismus“ und sogar „Gore-Magischer Neorealismus“. Der argentinische Schriftsteller Ricardo Romero, der Bücher mit Elementen aus der Vampirliteratur und Science-Fiction geschrieben hat, ist der Meinung, dass ein Begriff wie „New Weird“ für die neuen Werke gut funktioniert, da sie zeigen, dass die Realität nicht so klar, nicht so stabil, nicht so logisch ist, wie wir oft glauben (oder gern glauben würden).

Die meisten betroffenen Autorinnen und Autoren lehnen eindeutige Bezeichnungen jedoch ab. Ihre Literatur – und wahrscheinlich ließe sich das auch von anderen kulturellen Trends in Lateinamerika sagen – besteht darin, Motive und Genres aufzugreifen, umzuformen und neu zu gestalten. Oder wie es der kubanische Schriftsteller Erick J. Mota formuliert hat: „Bei uns bleibt nichts rein. Wir verschmutzen alles, und genau dann, wenn wir uns aneinander angleichen und uns vermischen, werden wir zu uns selbst. Es gibt keinen Begriff, den wir nicht zu etwas Hybridem gemacht hätten.“ Und es ist wohl ebendiese Hybridität und Extravaganz, die sich gegen endgültige Definitionen sträubt, die – ebenso wie die Realität selbst – die reichhaltige und rebellische lateinamerikanische Literatur der Gegenwart kennzeichnet.
 

Ein paar Leseempfehlungen

Liliana Colanzi, Ustedes brillan en lo oscuro (Editorial Planeta, 2022)
Mariana Enríquez, Los peligros de fumar en la cama (Anagrama, 2009)
Mariana Enríquez, Las cosas que perdimos en el fuego (Anagrama, 2016; Dt.: Was wir im Feuer verloren, übersetzt von Kirsten Brandt, Ullstein, 2017)
Bernardo Esquinca, Los niños de paja (Editorial Almadía, 2008)
Ricardo Romero, El conserje y la eternidad (Alfaguara, 2017)
Mónica Ojeda, Las voladoras (Páginas de Espuma, 2020)
Samanta Schweblin, Distancia de rescate (Editorial Sudamericana, 2014; Dt.: Das Gift, übersetzt von Marianne Gareis, Suhrkamp, 2015)
Samanta Schweblin, Pájaros en la boca y otros cuentos (Random House, 2017; Die Wahrheit über die Zukunft, übersetzt von Angelica Ammar, Suhrkamp, 2010)
Elaine Vilar Madruga, El cielo de la selva (Lava, 2023)

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