Diaspora und Exil  3 min Ein Libanon wie in der Vorstellung der Diaspora

Fadua Elena Fayad spiegelt sich auf dem Foto ihres Großvaters Farid Naffah und ihrer Großmutter Fadua Baruque, Honda, Kolumbien.
Fadua Elena Fayad spiegelt sich auf dem Foto ihres Großvaters Farid Naffah und ihrer Großmutter Fadua Baruque, Honda, Kolumbien. ©Salym Fayad

Mehr als ein Jahrhundert nach der großen libanesischen Migration nach Lateinamerika suchen die Nachkommen noch immer nach ihren Wurzeln. Dies ist die Geschichte einer Familie von Nachkommen: eine Reise durch Familienerinnerungen, überlieferte Mythen und eine Wiedervereinigung mit der Heimat.

Jahrzehntelang blieb der Libanon im Gedächtnis meines Vaters ein unvollständiges Bild. Kein Land, an das er sich erinnern konnte, sondern ein abstraktes Konstrukt aus Erinnerungen, die auf Anekdoten über Orte und Menschen basierten, die er, sein Bruder und seine Schwestern von ihren Verwandten gehört hatten. Ein Land, gewoben aus Fragmenten und Teilversionen. Mein Vater war nie dort gewesen, aber er kannte den Libanon, wie man Familienmythen kennt, die von Generation zu Generation weitergegeben werden.

Im Elternhaus waren mein Vater und seine Geschwister stets von Überresten dieses Ortes umgeben, die ihre Erinnerungen ergänzten: eine Truhe mit Darwich Fayads Initialen, ein Spazierstock mit eingravierten Inschriften, sepiafarbene Fotografien, ein Schildpatt-Fernglas, ein kleines rotes Tagebuch, in dem mein Großvater die Geburten von Verwandten notierte. Außerdem ein Spielbrett mit Elfenbeinwürfeln. Diese Objekte hatten Ende des 19. Jahrhunderts zusammen mit unseren Vorfahren den Atlantik überquert, die in Barranquilla an der kolumbianischen Karibikküste angekommen waren. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts reisten sie den Río Magdalena hinunter in die geschäftigen Hafenstädte Lorica und Honda. Später erreichten sie Städte im kolumbianischen Landesinneren wie Facatativá, wo meine Großmutter Fadua geboren wurde, und Bogotá, wo sich die Familie niederließ. Die libanesische Migration nach Lateinamerika begann Ende des 19. Jahrhunderts. Die Mehrheit der Migranten in dieser ersten Phase waren maronitische Christen, die nach Alternativen zum Leben im Osmanischen Reich suchten. Zwangsrekrutierungen, Dürren, wirtschaftlicher Niedergang und später der Erste Weltkrieg hielten die Migrationsbewegung aufrecht.

Die „Türken“ der kolumbianischen Karibik

Bis etwa 1920 suchten viele Familien eine neue Chance in Amerika. Für viele waren die Vereinigten Staaten von Amerika das endgültige Ziel, doch sie gingen in der schwülen Karibikstadt Barranquilla und anderen südamerikanischen Häfen wie São Paulo und Buenos Aires an Land. Es ist unklar, ob diese Landungen versehentlich, aufgrund sprachlicher Missverständnisse, aufgrund einer Täuschung durch die Transportunternehmer oder weil ihnen das Geld für die Weiterreise ausging, erfolgten.

Sie wurden „Türken“ genannt, weil die Neuankömmlinge Pässe aus dem Osmanischen Reich besaßen. Doch nicht nur ihre Nationalität änderte sich mit der Ankunft in Kolumbien, sondern auch ihre Vor- und Nachnamen. Aus Daaibes wurde Devis; aus Al-Khoury wurde Aljure; aus Abdur wurde Eduardo. Ob sie ihre Namen änderten, um die Assimilation zu erleichtern, oder ob sie von einem Einwanderungsbeamten geändert wurden, der die ursprüngliche Aussprache nicht verstand, wissen wir ebenfalls nicht. Viele widmeten sich dem Handel, dem Textilhandel und dem Verkauf auf Kredit. Zuerst von Tür zu Tür, später in Geschäften. Einige blieben in Barranquilla, wo die Gemeinschaft noch stark, vereint und einflussreich war. Von Bürgermeistern und Landbesitzern bis hin zu kolumbianischen Präsidenten wie Julio César Turbay, Fußballspielern wie Farid Mondragón, Journalisten wie Juan Gossaín („der eheliche Sohn einer Kibbe und einer Eier-Arepa“[1], wie er gerne sagt) und Künstlern wie Shakira war die Assimilation der Libanesen in die kolumbianische Geschichte offensichtlich.
Die Stadt Bisharri im Libanon war einer der Orte, von denen aus maronitische Familien nach Amerika aufbrachen.

Die Stadt Bisharri im Libanon war einer der Orte, von denen aus maronitische Familien nach Amerika aufbrachen. | ©Privat

Unsere Vorfahren segelten ins Landesinnere. In Honda machte mein Urgroßvater Farid ein kleines Vermögen und, so heißt es, ließ sein champagnergetränktes Pferd auf einem roten Teppich vorführen. Wie die Geschichte der Migration ist auch die Familiengeschichte voller Mythen und Übertreibungen. Ein weiteres Kapitel erzählt von einer Schuld, die die deutsche Regierung von einem unserer Vorfahren aufnahm, der mit Rasierklingen handelte. Ein Kredit, der nie zurückgezahlt wurde und dessen Spur einige entfernte Verwandte – mit wenig Erfolg – zu verfolgen versuchten. Zwar gibt es keine stichhaltigen Dokumente, aber die Geschichte hält sich hartnäckig, ebenso wie eine Quittung mit Bankbelegen, die im Prinzip zur Einziehung des verlorenen Vermögens verwendet worden wären.

Libanon: Ein Land, das über die ganze Welt verstreut ist

2016 erhielt mein Vater, Ramón Fayad, eine Einladung zu einer Konferenz in Beirut. Die Veranstaltung brachte Mitglieder der Diaspora – vermutlich viermal so groß wie die Bevölkerung des Libanon – zusammen, die in ihren Arbeitsfeldern herausragend waren. Im Fall meines Vaters waren es Wissenschaft und Bildung. Meine Mutter Isabel und ich beschlossen, ihn zu begleiten. Meine Schwester Fadua, benannt nach meiner Tante und Großmutter, konnte uns nicht begleiten. Während dieser Reise sah ich meinen Vater im Alter von 68 Jahren zum ersten Mal den Libanon betreten. Die Konferenz zeigte, wie wichtig die Diaspora für das Land ist. Jenseits der Formalitäten stand das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft im Mittelpunkt, die nicht an ein Territorium, sondern an eine historische Identität gebunden ist. Die Organisatoren warben für eine App zur Vernetzung der Diaspora und sprachen über Webplattformen für Geschäfte, soziale Kontakte und die Suche nach libanesischen Vorfahren in anderen Ländern. Einige hatten eigenständige Initiativen entwickelt: Ein Priester in Paraguay hatte mit beeindruckender Präzision einen Stammbaum erstellt, der Familien libanesischer Herkunft in Südamerika umfasste. Auch unsere Familie erschien auf dieser digitalen Plattform, komplett mit Namen, Daten und Herkunftsorten.

Während dieser Reise erlebte ich, wie die Geschichten, Anekdoten, Mythen und geografischen Bezüge, die wir jahrzehntelang gehört hatten, vor den Augen meines Vaters Gestalt annahmen. Natürlich besuchten wir Baabda. Wir haben nichts über die leichte Enttäuschung gesagt, als wir statt des romantisierten ländlichen Dorfes aus dem 19. Jahrhundert, das wir uns vorgestellt hatten, nur Kontrollpunkte und Regierungsgebäude sahen. In den Straßen, in denen immer noch entfernte Cousins lebten, durch die die Großeltern gegangen waren, und als wir den Ort fanden, an dem sie geheiratet hatten, bevor sie nach Amerika segelten, waren wir zu Tränen gerührt. Mein Vater stellte sich deren Nostalgie vor, als sie ihre Möbel einpackten und sich für immer von ihrer Heimat verabschiedeten. Ein städtischer Notar, der seine Arbeitszeit verlängerte, als er unseren Nachnamen hörte, begann, die Namen unserer Verwandten in Bogotá und Baabda in seine Akten einzutragen. Einige, erzählte er uns, seien aus Kolumbien angereist, um Land zu erben. Am Ende dieses Mainachmittags verabschiedeten wir uns von ihm und versprachen, dass wir wiederkommen würden.

Erinnerung im Aufbau

Die Dokumentation in Kolumbien ist fragmentarisch. Bestehende Veröffentlichungen haben meist einen anekdotischen Ton oder sind eher akademische Abhandlungen als historische Bücher zur Popularisierung oder als Nachschlagewerke.
Der Romanautor Luis Fayad, Autor von „Der Fall der Himmelsrichtungen“, in seinem Atelier in Berlin.

Der Romanautor Luis Fayad, Autor von „Der Fall der Himmelsrichtungen“, in seinem Atelier in Berlin. | ©Privat

Im Jahr 2000 veröffentlichte mein Onkel Luis Fayad „Der Fall der Himmelsrichtungen“, einen Roman über die libanesische Migration nach Kolumbien. Er spricht bescheiden über sein Werk und räumt ein, dass sein Bericht weder absoluter noch historischer Natur ist, sondern vielmehr ein Versuch, die Fragmente der Geschichten, die ihm seine Schwestern Teresa und Fadua Elena, sowie mein Vater, erzählt haben, mit den Ergebnissen seiner Recherchen und Reisen sowie die Erinnerungen an Familiengespräche und die Gegenstände, die den Hafen von Beirut in Richtung des Hauses in Bogotá verließen, zu verknüpfen.

Die Geschichte hat sich tausendfach wiederholt. In Kolumbien, aber auch in Brasilien, Argentinien und Mexiko. Die Landungen markierten einen Neuanfang, und die Erfahrung des Exils hat sich in den Erinnerungen, Gesten, Speisen und Gesichtern der Generationen, die versuchen, Fragmente eigener Ursprünge aufzuspüren oder zu verstehen, weiter verändert.


[1] Kebbe ist ein traditionelles libanesisches Gericht aus Bulgur und Hackfleisch und Arepa ist ein traditionelles Fladenbrot aus Venezuela und Kolumbien, das aus Grieß oder Maismehl hergestellt wird.


Der Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Humboldt, dem Regionalmagazin des Goethe-Instituts in Südamerika produziert.