We...Wei...What? #2  Vom Teebauern zum Influencer: Onkel Huang und Chinas ländliche Livestreamer

Teebauer und/oder Influencer
Teebauer und/oder Influencer Illustration (Ausschnitt): Influencer © Goethe-Institut China

Das vergangene Jahr war turbulent, wenn man bedenkt, welche Themen die sozialen Netzwerke in China dominiert haben. Das Jahr des Schweins war geprägt vom amerikanisch-chinesischen Handelskrieg, den Protesten in Hongkong, der Schweinegrippe und einer verstärkten Zensur und Überwachung. Aber nicht nur.

Abgesehen von diesen eher düsteren Aspekten im chinesischen Cyberspace gab es aber auch positive Entwicklungen. Dabei hat einer der Online-Trends, der in diesem Jahr populär wurde, sogar einen eigenen Begriff geprägt: cūnbō (村播) – der Livestream aus den Dörfern.

Taobao wirbt für sein ländliches Livestreaming-Projekt Taobao wirbt für sein ländliches Livestreaming-Projekt | Quelle: Screenshot Chinesische Bauern, die das Livestreaming als eine Möglichkeit nutzen, ihre Produkte zu verkaufen und für ihr Geschäft zu werben, sind auf Chinas E-Commerce- und Social-Media-Plattformen immer häufiger anzutreffen.

Der Mix aus Social Media und E-Commerce, auch bezeichnet als „Social Shopping“, boomt in der VR China. Online-Plattformen, bei denen die Grenzen zwischen Sozialen Medien und Online-Handel verschwimmen, sind heute beliebter denn je. Da ist zum Beispiel die florierende Plattform Xiaohongshu (小红书), aber auch Apps wie TikTok (in China als Douyin bekannt) integrieren das Shoppen in ein Social-Media-Erlebnis.
Livestreamer bewerben ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse Livestreamer bewerben ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse | Quelle: Phoenix News In den letzten Jahren hat vor allem Alibaba, der Gigant im chinesischen Internethandel, zur wachsenden Beliebtheit des „Social Shopping“ beigetragen. Im Segment Taobao Live (ebenfalls eine separate App), das unter dem Dach von Chinas größtem Internet-Marktplatz Taobao läuft, dreht sich alles um Shopping plus Social Media, und das vor allem via Smartphone. Dahinter steckt ein Erfolgsrezept: Chinesische Mobilfunknutzer sind täglich mehr als sechs Stunden online, etwa 72% von ihnen kaufen im Internet und fast 65% aller Smartphone-Internetnutzer sehen sich Livestreams an.

Jede Minute eines jeden Tags schalten sich Tausende von Online-Konsumentinnen in dutzende Kanäle ein, in denen die Verkäufer alles mögliche von Lebensmitteln bis hin zu Makeup oder Haustierzubehör bewerben. Die Verkäuferinnen, die auch als „Gastgeber“ oder „Moderatoren“ bezeichnet werden, verleihen ihren Kanälen mehr Attraktivität, indem sie Makeup-Tutorials und Kochkurse anbieten, Tipps und Tricks verraten, aus dem Nähkästchen plaudern und Witze reißen und ihren Käuferinnen beim Erwerb ihrer Produkte das beste Angebot oder sogar zusätzliche Geschenke versprechen. Livestreaming auf Taobao läuft rund um die Uhr Livestreaming auf Taobao läuft rund um die Uhr | Quelle: Screenshot Manchmal klicken sich Tausende von Zuschauern gleichzeitig in einen Kanal ein. Sie können ihren Lieblingsgastgebern „folgen“ und direkt mit ihnen interagieren, indem sie Kommentare zu den Livestreams hinterlassen. So können sie den Moderatorinnen beispielsweise Komplimente machen („Du bist echt witzig!“), Fragen zu Produkten stellen („Gibt es das auch in Rot?“) oder praktische Hinweise geben („Du solltest das Produkt in Nahaufnahme zeigen, während du es vorstellst!“). Das im Livestreaming beworbene Produkt kann dann direkt über das System von Taobao erworben werden.

Im vergangenen Jahr hat Alibaba innerhalb seines Online-Handels via Livestreaming die Verkäufer aus den ländlichen Gebieten weiter ins Visier genommen. Die Sparte der Anbieter vom Land wurde innerhalb der Live-App extra hervorgehoben. Und im Frühjahr 2019 startete der chinesische Technologieriese Alibaba sein „cūnbō-Projekt“, um die Nutzung seiner Live-App unter den Bauern weiter zu propagieren. Die einflussreichsten Livestreaming-Bauern werden nun von Alibaba unter Vertrag genommen, um so das ländliche Geschäft von Taobao Live auf ein höheres Niveau zu bringen.

Einer dieser chinesischen Influencer-Bauern, der sich durch das Livestreaming einen Namen gemacht hat, ist Huang Wensheng, ein Teebauer aus dem bergigen Lichuan-Gebiet in der Provinz Hunan. Onkel Huang beim Livestreaming vom Teefeld Onkel Huang beim Livestreaming vom Teefeld | Quelle: Sohu.com Huang, der den Spitznamen „Bauernonkel“ trägt, verkauft über seinen Kanal Tee, indem er den Zuschauerinnen seine Arbeit zeigt und außerdem Geschichten und Lieder aus seinem Dorf mit ihnen teilt. Er ist zudem dafür bekannt, dass er über das spricht, was er im Laufe seines Lebens gelernt hat. So gibt er Lebensweisheiten von sich wie: „Es ist wichtig hart zu arbeiten; nicht unbedingt, weil es darum geht die Welt zu verändern, sondern um sicherzustellen, dass die Welt dich nicht verändert.“

Mit nur drei bis fünf Livestreaming-Sitzungen pro Woche erreicht „Onkel Huang“ bis zu zwanzig Millionen Zuschauer pro Monat, hat laut chinesischen Medienberichten sein Einkommen deutlich gesteigert und verdient nun rund 10.000 Yuan (1.300 Euro) pro Woche.

Dabei ist Huang nicht der einzige Bauer aus seiner Heimatstadt, der Taobao Live nutzt, um seine Einnahmen zu erhöhen; in Lichuan gibt es mehrere hundert ländliche Livestreamer, die es ihm gleichtun. Online-Käufer erhalten Einblick in das Leben auf dem Land Online-Käufer erhalten Einblick in das Leben auf dem Land | Quelle: Screenshot Die Programme des Livestreamings aus den Dörfern unterscheiden sich deutlich von denen der städtischen Fashionistas, die Markenkosmetik und die neuesten Musthaves verkaufen. Die Gastgeberinnen zeigen sich hier nicht im perfekten Look und glamouröser Kleidung vor stilvollen Locations. Sie filmen sich normalerweise draußen bei ihrer Arbeit oder erlauben einen Blick in ihre oft bescheidenen Räume oder Küchen. Livestreamer bei der Arbeit Livestreamer bei der Arbeit | Quelle: Screenshot Die Zuschauer sehen mit eigenen Augen, wo die von den bäuerlichen Anbietern verkauften Produkte herkommen; denn die gehen oft tatsächlich auf die Felder, um zu zeigen, wo ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse wachsen. Oder sie filmen, wie sie eigenhändig die Eier von ihren Hühnern oder die Orangen von den Bäumen holen. Von Früchten bis zu Kartoffeln und Blumen, von frischen Teeblättern bis zu hausgemachter Chilisauce – es ist eine breite Produktpalette, die heutzutage auf Taobao Live beworben und verkauft wird.

Einige ländliche Livestreamerinnen versuchen ihrer Konkurrenz mit neuartigen Konzepten einen Schritt voraus zu sein. Ein junger Bauer aus Sichuan beispielsweise bietet den Zuschauern seit kurzem die Möglichkeit an, einen Hahn von seiner Farm zu „adoptieren“. Über die sozialen Medien können sie dann mit „ihrem persönlichen“ Gockel interagieren und sogar bei Gelegenheit eine Geburtstagsparty für besonders vom Glück gesegnete Hähne schmeißen.
Livestreamer mit seinem Hahn Livestreamer mit seinem Hahn | Quelle: Sina.com Beispiele wie diese zeigen, dass es den Livestreamern auf dem Land zwar meist an Glanz und Glamour fehlt, sie aber genauso unterhaltsam – wenn nicht gar amüsanter – sein können als ihre Kollegen aus der Stadt.

Wer also sind die Gewinner des aktuellen „cūnbō“-Booms? Man könnte sagen, dass alle Beteiligten in irgendeiner Weise von der steigenden Popularität der Livestreaming-Bauern profitieren. Die kommerziellen Erwartungen seitens Alibaba sind dabei groß. Das Unternehmen hat es schon seit einigen Jahren auf Chinas ländliche Gebiete abgesehen. Schließlich wird dort der größte Konsumzuwachs in China erwartet, während gleichzeitig auch die Verbreitung des Internet via Smartphone weiter auf dem Vormarsch ist. Alibaba profitiert gleichermaßen von der wachsenden Zahl von Käufern als auch von Verkäufern im ländlichen E-Commerce-Handel.

Die Tatsache, dass sich Alibaba schon frühzeitig auf die Provinz als neue Heimat des elektronischen Handels konzentriert hat, brachte zunächst sogenannte „Taobao-Dörfer“ hevor, wo ein bestimmter Prozentsatz der Landbevölkerung über die Taobao-Plattform lokale Spezialitäten, landwirtschaftliche Produkte oder andere Dinge mit relativ geringen Transaktionskosten verkauft.

Viele chinesische Dörfer und Landwirtinnen profitieren von der zunehmenden Verbreitung von Taobao auf dem Land. Nicht nur, weil Alibaba in Logistik und E-Commerce-Schulungen in den ländlichen Gebieten investiert. Die Kanäle des Online-Handels sind auch eine Möglichkeit, den Absatz und das Einkommen von Bauern zu steigern, die ansonsten um ihr Überleben kämpfen.

Chinesischen Medien zufolge wird sich der Trend zum Livestreaming auf dem Land in den kommenden Jahren weiter verstärken und noch viel mehr Influencer-Bauern wie Onkel Huang hervorbringen.

Doch abgesehen von den kommerziellen und finanziellen Gewinnen, die sich aus der wachsenden Beliebtheit bäuerlicher Livestreamerinnen ergeben, gibt es auch eindeutige und bemerkenswerte soziale Auswirkungen.

In einer Zeit, in der sich China angesichts seiner rasant transformierenden Gesellschaft einer wachsenden Kluft zwischen städtischen und ländlichen Gebieten gegenübersieht, dienen die ländlichen Kanäle als digitale Brücke zwischen Verkäufern auf dem Land und städtischen Verbrauchern. Sie bieten den Netizens einen klaren Blick auf das Leben der Bauern in anderen Teilen des Landes und vermitteln Online-Käuferinnen mehr Einblicke sowie ein Verständnis dafür, woher ihre Online-Produkte stammen.

Taobao Live funktioniert also wie ein traditioneller „Bauernmarkt“, nur dass dieser jetzt digital und rund um die Uhr geöffnet und zugänglich ist für jeden, der ein Mobiltelefon besitzt. Es ist der chinesische Bauernmarkt des 21. Jahrhunderts.

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