Der Vegetarier, das Fabelwesen
Wer das „satyr“ betritt, findet sich in einer grünen Oase mitten in Plzeň wieder. Grün ist das Bistro nicht nur wegen des grasfarbenen Schildes über dem Eingang, sondern auch des Essens wegen, dessen unwiderstehlichen Duft nach Curry man noch eine Straßenecke weiter in der Nase hat. Denn im „satyr“ gibt es Grünzeug, es wird ausschließlich vegetarisch gekocht. Was zwischen Flensburg und Rosenheim in beinahe jeder Fußgängerzone zu finden ist, ist in Tschechien noch lange nicht „Mainstream“. Nur zwei Bistros dieser Art gibt es in Plzeň – immerhin die viertgrößte Stadt des Landes. Das Klischee der Bierstadt, in der gerne typisch böhmisch und damit deftig gegessen wird, scheint der Wirklichkeit ziemlich nahe zu sein.
Das bestätigt auch Jan Ženíšek, Besitzer des „satyr“: „Ich merke nicht, dass die Zahl der Vegetarier steigt. In Prag mag das vielleicht der Fall sein, aber nicht in Plzeň“, sagt er mit einem Schulterzucken. Janina, seine Geschäftspartnerin, teilt diese Einschätzung. „In Tschechien gelten Vegetarier immer noch als komisch“, ergänzt sie mit einem Lachen und schneidet selbstgebackenen Möhrenkuchen nach.
Dabei gibt es in der böhmischen Küche durchaus fleischlose Gerichte. Als erstes fallen den beiden Obstknödel ein oder ein Gericht aus Graupen mit Pilzen. Im „satyr“ wird aber auch mit den Rezepten klassischer Fleischgerichte experimentiert. „Wenn man Braten durch Tofu oder Seitan ersetzt, hat man schnell ein fleischloses Gericht“, erklärt Jan. Beim ersten Mal sind die Kunden oft misstrauisch. „Ein älterer Herr schaute einmal total lange unschlüssig auf ein Seitan-Gulasch. Nachdem er ein bisschen probiert hatte, war er so begeistert, dass er gleich eine eigene Portion bestellte“, erzählt Jan lachend.
Gerichte mit Fleischersatz sind die Bestseller im „satyr“, allen voran der Seitan-Kebab. „Viele ältere Menschen, die bei uns essen, möchten sich gesünder ernähren“, erklärt Janina. Vegetarismus ist also nicht der Hauptgrund, ein vegetarisches Bistro besuchen. „ Ich schätze, dass etwa 70 Prozent unserer Kunden eigentlich auch Fleisch essen“, sagt Jan und zählt sich selbst dazu. Nach zwei Jahren hat er selbst das Vegetarierdasein aufgegeben und isst ab und zu auch mal gerne Fleisch. Trotzdem schätzt er die vegetarische Küche allgemein als vielseitiger ein. Eine andere Erklärung für den Boom des Bistros hat Janina parat: „Die meisten Leute kommen in der Mittagspause und wollen nicht so schwer essen, wenn Sie danach wieder im Büro arbeiten müssen.“
Die beiden überlegen nun, den Mittagsbetrieb auch auf die Abende auszudehnen. „In Plzeň hast du es als Vegetarier wirklich schwer, dich in einem normalen Restaurant satt zu essen und als Veganer ist das eigentlich nicht möglich“, kritisiert Jan. „Vegetarier bekommen im Restaurant gebratenen Käse, gebratenen Brokkoli und tiefgefrorenes Gemüse mit Käse. Die einzige Alternative sind indische oder vietnamesische Restaurants, dort gibt es viele fleischlose Gerichte.“ Diese Inspiration riecht man schon beim Hereinkommen und so klingen auch die Gerichte auf der Speisekarte nicht immer mitteleuropäisch. Gemacht wird im Bistro trotzdem alles selbst, von der Melonen-Limonade bis zum Hummus, über dessen Namen sich immer noch viele Gäste lustig machen. Bis sie die Kichererbsen-Sesam-Paste probieren… und wiederkommen.
„Zehn Jahre lang habe ich davon geträumt ein Restaurant zu eröffnen“, erklärt Jan. Der Name satyr kam ihm bei der Lektüre eines Buches, in dem ein solches Fabelwesen vorkam. „Die Figur war ein totaler Genussmensch“, schmunzelt Jan. Und auch wenn viele seiner Nachbarn nie einen Fuß über die Schwelle setzen würden, da sie fleischloses Essen nicht als vollwertige Nahrung betrachten, ist das Bistro längst eine feste gastronomische Größe in Plzeň.