Beyond Seeing
„Schau mich nicht nur mit deinen Augen an.“

Kollektion ‚Spirit Transcends’ von Joyphie Yu aus Berlin
Kollektion ‚Spirit Transcends’ von Joyphie Yu aus Berlin | Foto: Sonja Köllinger/goldfasanblog.de

Der erste Eindruck zählt, heißt es, und: Kleider machen Leute. Doch was bedeuten Äußerlichkeiten noch, wenn man nichts sehen kann? Mit dieser Frage beschäftigt sich das Projekt „Beyond Seeing“, das vom Goethe-Institut Paris in Zusammenarbeit mit vier europäischen Modehochschulen ins Leben gerufen wurde. Eine Ausstellung im Pariser WIP Vilette zeigt die Kollektionen, die daraus hervorgegangen sind.

Die Ansätze der Studierenden waren sehr unterschiedlich und hatten doch eines gemeinsam: Mode über den visuellen Reiz hinaus erfahrbar zu machen. „Unser Fokus lag darauf, die Grenzen von Kleidung zu hinterfragen und andere als visuelle Aspekte in den Vordergrund zu stellen“, erzählt eine der schwedischen Teilnehmerinnen über ihren Entwurf ‚Sonic Haptic Wardrobe’.

Zwei Besucherinnen mit Augenmaske ertasten die Exponate
Zwei Besucherinnen mit Augenmaske ertasten die Exponate | Foto: Sonja Köllinger/goldfasanblog.de

Dreidimensionale Muster

Die Kollektion enthält viele haptische Materialien, die teilweise sogar hörbar sind, wie Schmirgelpapier oder Glöckchen. „Blinde Menschen können Prints nicht sehen, also ist das Punktmuster auf diesem Rock dreidimensional“, erläutert sie die Herangehensweise. Um die richtigen Materialien zu finden, haben die Designer zahlreiche Interviews mit blinden und sehbehinderten Menschen geführt.

Ungewöhnliche Inspirationsquellen

„Die Inspiration bei dieser Kollektion war ganz anders als beim üblichen Designprozess“, meint Verena Kuen aus Berlin, Designerin der Kollektion ‚Invisible Imagination’. „Normalerweise sind sie von Bildern oder anderen visuellen Reizen geprägt. Diese Kollektion basiert auf der persönlichen Geschichte eines Menschen.“
 
Kuen hat sich ausführlich mit den Träumen der Berlinerin Ugne auseinandergesetzt, die in ihrem zwanzigsten Lebensjahr erblindet ist. Die Kleidung spiegelt ihre Träume in Bildern und Farben wider. „Ich habe sehr viel ausprobiert und in mich hineingehört, um den richtigen Weg zu finden“, sagt Kuen. „Es war wirklich etwas Besonderes, eine persönliche Geschichte in Kleidung zu verwandeln.“
 
Designerin Maxi Tilch ertastet mit blinder Besucherin Ugne ihre Kollektion
Designerin Maxi Tilch ertastet mit blinder Besucherin Ugne ihre Kollektion | Foto: Sonja Köllinger/goldfasanblog.de

Haptische, abstrakte und intuitive Entwürfe

Einen anderen Ansatz wählte Maxi Tilch für ihre Kollektion ‚Perception of Space’: „Ich habe nicht gemeinsam mit blinden Menschen gearbeitet, sondern das Gefühl von Blindheit selbst erlebt. Ich wollte wissen, was ich tun würde, wenn mir der visuelle Aspekt beim Designprozess fehlt. Dafür habe ich Räume, die ich vorher nicht kannte, mit verbundenen Augen besucht.“
 
Das Ergebnis? Haptische, abstrakte und intuitive Entwürfe, die drei Innen- und Außenräume in Silhouetten darstellen: Ein Zelt, ein Wohnzimmer und eine Bahnhaltestelle. „Der größte Unterschied im Gegensatz zum ‚normalen’ Designprozess war, dass der Fokus hier nicht auf der Ästhetik lag“, sagt Tilch.

Mehr als man sieht

Genau dieser Aspekt gefällt auch Reiner Delgado an der Ausstellung. Der Sozialreferent des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands ist von Geburt an blind und begleitet das Projekt in Deutschland von Anfang an. „Die Ausstellung steht für mich unter der Überschrift: ‚Schau mich nicht nur mit deinen Augen an. Ich bin mehr als das, was man sieht’.“
 
Für ihn ist im öffentlichen Raum die akustische Wahrnehmung von Menschen besonders wichtig; diese Idee wurde in der Ausstellung von Valentin Mogg mit ‚Head, Shoulders, Knees and Toes, Knees and Toes’ aufgenommen. Die blinde Bloggerin Lydia Zoubek war von den unterschiedlichen Oberflächen begeistert, die verschiedene Sinne ansprechen.

Haupteingang WIP Vilette
Haupteingang WIP Vilette | Foto: Sonja Köllinger/goldfasanblog.de

Farben ertasten

Für das sehende Publikum war es ungewöhnlich, die Exponate mit verbundenen Augen zu ertasten. „Ich wusste nicht genau, was ich da berühre“, erzählt eine junge Frau von ihrer Erfahrung. „Die Schnitte sind so unüblich, dass mir die Orientierung fehlte, ob es eine Jacke oder ein Kleid ist.“
 
Bei Verena Kuens ‚Invisible Imagination’-Kollektion gab es jedoch eine positive Überraschung, als die Besucherin ihre Maske absetzte: „Ich habe mir die Kleidung beim Tasten genau in diesen hellen, zarten Farben vorgestellt“, sagt sie. Das Konzept ist also aufgegangen. 

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