Bicultural Urbanite Luke
Berlin Calling - Das Phänomen bikultureller Städter

Bicultural Urbanite
© Isabelle Beyer

Wie so viele vom Reisefieber befallene Australier vor mir, zog auch ich aus einer verrückten Laune heraus nach Berlin. Nachdem ich mich während eines damals schon fast obligatorisch gewordenen Berliner Partyurlaubs in die Stadt verliebt hatte, entschied ich mich, mich von meiner inzestuösen Schar hoch geschätzter Melbourner loszusagen und unsere Pläne von einem gemeinsamen Leben in London in die Tonne zu treten. In nur zwei kurzen Wochen hatte der eigentümliche Geschmack von Berlins berüchtigtem Charme meinen Appetit geweckt. Ich musste einfach ganz hineinbeißen.

Es war der Sommer im Jahr 2010, und auch wenn der Schein unübertroffener Coolness der Stadt nach wie vor beträchtlich war, kursierten in gelallten, langatmigen Diskussionen in dunklen, nach Schweiß riechenden Winkeln der Stadt bereits griesgrämige Gerüchte und vorauseilende Klagen über das unmittelbar bevorstehende Platzen der Blase. Inmitten eines Meers sorgfältig hochgerollter T-Shirt-Ärmel und minimalistischer geometrischer Tattoos hatte der Begriff ‚Gentrifizierung‘ begonnen, die Spitze so mancher prognostischen Zunge zu umkreisen; die Prophezeiungen vom Ende von Berlins goldenem Zeitalter hallten bereits in einem Refrain wider, der oft ebenso dogmatisch wie potenziell übertrieben klang. Mehr als nur leicht ironisch war die Tatsache, dass dieses Gerede in der Regel ausgerechnet den Mündern zu entströmen schien, die sie angeblich so verabscheuten (die jungen Berliner, die ich auf Partys traf, wirkten jedenfalls nicht sehr beunruhigt).

Ein Bedürfnis zu bleiben

Aber meine Ohren zeigten sich dem ganzen Weltuntergangsgerede gegenüber taub und waren genauso unempfänglich für düstere Klimawarnungen oder das immer wieder gern zitierte abschreckende Beispiel des übereifrigen Expats: dessen Augen in Deutschlands Hauptstadt größer sind als der Magen und der sich daher schnell in nichts als einen weiteren menschlichen Klecks im langen Schmierfleck des Berliner Lebens auf der Überholspur auflöst. Ich hatte wenig übrig für Vernunft oder Logistik. In meinem Kopf überschlugen sich plötzlich eine Millionen unbestimmter Wünsche. In erster Linie erinnere ich mich, von einem unverrückbaren Entschluss beseelt gewesen zu sein: Ich musste einen Weg finden, in dieser Stadt zu bleiben.
  Bicultural Urbanite © Isabelle Beyer Die oben geschilderte Erfahrung ist durchaus keine Ausnahme. In der Tat scheint sie bei der Mehrheit der Expats, Australiern und anderen mit denen ich gesprochen habe, Resonanz zu finden. Viele entschieden sich ähnlich spontan, stark von ihrem geplanten Lebensweg abzuweichen, um sich in Berlin niederzulassen. Und es spricht Bände für die ebenso sonder- wie wunderbare Wirkung, die diese Stadt auf Menschen hat und in einer regelrechten Dauerflut von Ausländern resultiert, die Schlange stehen, um Berlin ihr Zuhause nennen zu dürfen. Aber was genau entfacht dieses Verlangen?
 
Vielleicht ist es die einzigartige Energie, die der Unvereinbarkeit von Berlins politisch turbulenter Geschichte und seiner außergewöhnlich toleranten Gegenwart entspringt. Zum Teil ist es sicher auch der wirtschaftlichen Lebensqualität für künstlerisch ambitionierte Menschen und der sich daraus ergebenden Fusion von überschwänglichen jungen Gesichtern aus aller Welt geschuldet, die es – jeweils unter Verheißung eines glänzenden neuen Selbst – ausnahmslos darauf abgesehen haben, in die Eigentümlichkeiten der deutschen Kultur einzutauchen, die kochend heiß durch die Untiefen ihres Unterbewusstseins rinnt. Es ist definitiv ein Gefühl, das durch die Dekadenz des Berliner Nachtlebens verstärkt wird: Man mischt sich unter die Leute, fraternisiert und findet so zu lebenslangen Freundschaften und kreativen Projekten.

Das bedeutungsschwere Wort 'Sehnsucht' 

Aber es ist auch noch etwas Anderes; etwas entschieden Abstrakteres, das sich – trotz des ständigen Rückgangs erschwinglicher Mieten und des zunehmend leidigen Geredes, Berlin sei ‚over‘ – bis heute in die Herzen nichtsahnender Touristen einschleicht. Denn Berlin scheint in uns eine gemeinsame Empfindung aus ihrem Schlummer zu wecken; ein Gefühl, das sich vielleicht am besten mit diesem schwer zu fassenden, aber überaus bedeutungsschweren deutschen Wort Sehnsucht beschreiben lässt — das bittersüße, unerwiderte Verlangen, ein namenloses und undefinierbares Etwas zu finden und zu fassen zu bekommen. Ein Gefühl des Sehnens, das weitaus substanzieller und bewegender ist als die mögliche Erfüllung irgendeines bestimmten menschlichen Verlangens.
 
Ich glaube, dass es die so häufig von dieser Stadt und ihrem ganzen chaotischen Charme ausgelöste eigentümliche Manifestierung von Sehnsucht ist, die dem Berliner Phänomen des bikulturellen Stadtbewohners zugrunde liegt. Denn dieses Gefühl lässt uns stets nach etwas suchen und greifen, das wir noch nicht ganz entdeckt haben – und was könnte spannender sein?
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