Bicultural Urbanite Luke
Gentri-fried: Berliner Stadtteil-Taxonomien

Hier war meine erste Übergangswohnung in Berlin Mitte.
Hier war meine erste Übergangswohnung in Berlin Mitte. | © Luke Troynar

Während meiner gesamten Berliner Lebensphase habe ich mich stets als Kind von Mitte/Prenzlauer Berg betrachtet. Aber was bedeutet es eigentlich genau, dieser Vorstellung anzuhängen? Auch wenn ich nie wirklich ein klares Konzept davon im Kopf hatte, fühlte es sich dennoch stets wie ein wesentlicher Bestandteil meiner sogenannten Berliner Identität an. In jüngster Zeit hat sich die Sache jedoch etwas verkompliziert.

In Deutschlands Hauptstadt hat nämlich jeder der beliebten Innenstadtdistrikte seinen eigenen unverwechselbaren Charakter. Da ist Neukölln, mittlerweile ein insulares Hipsterdorf aus Englisch sprechenden Expats, das inmitten einer lebendigen türkischen Gemeinde liegt – ein „rau-aber-mit-industriellem-Chic“-Viertel voller Neuankömmlinge mit Nachtclub-Stempeln und tätowierter deutscher Kreativer. Dann ist da Kreuzberg, eine ähnliche Gegend mit schon früher eingetroffenen Expats, einer schäbigeren, künstlerisch-hippiemäßigen Atmosphäre und einer großzügigen Extraportion Graffiti. Da ist Friedrichshain, die Heimat der kitschigen ostdeutschen Frisur – eine spitz abstehende lila und/oder blaue Verirrung –, aber mit seinen verstreuten Inseln kontrastierender Cliquen weniger einheitlich, darunter eine seltsame Sorte deutscher Steampunk-Gassigeher an der Frankfurter Allee.             

Liebenswerter Mittelweg zwischen den Extremen                                                                     

Und dann gibt es Mitte and Prenzlauer Berg, zwei benachbarte Viertel, die zwar durchaus unterschiedlich sein mögen, aber, für meine Begriffe jedenfalls, weitgehend überlappen. Immer noch unleugbar trendy, aber weniger krampfhaft hip als Neukölln, besteht ein spürbarer Unterschied von Mitte und Prenzlauer Berg darin, dass die Straßen um einiges breiter und sauberer sind. Miesmacher dieser Gegend mögen das als leicht versnobt bezeichnen, aber ich sehe es mehr als liebenswerten Mittelweg zwischen den Extremen so mancher übertriebenerer Berliner Stereotypen. Das Viertel besteht zudem aus einer angenehmen Mischung aus Expats aus aller Herren Länder und Kulturen, echten Berliner Originalen samt echtem Berliner Originalnachwuchs im Teenageralter und jüngeren deutschen Paaren aus der ganzen Republik mit original Berliner Hunden.

Die Umgebung meiner allerersten Übergangswohnung in Berlin Mitte. Die Umgebung meiner allerersten Übergangswohnung in Berlin Mitte. | © Luke Troynar Meine Vorliebe für diese ruhige Gegend mag auch etwas mit den mehreren unvergesslichen Wochen zu tun haben, die ich hier frisch angekommen in einem besonders charmanten Eckchen von Mitte verbrachte. Die Lage war zum Sterben schön. Direkt an der Ecke Weinmeisterstraße und Alte Schönhauser Straße gelegen, pflegte ich jeden Tag aufzuwachen und in eine der ästhetisch ansprechendsten Kulissen von Berlin hinauszugehen: prachtvoll verzierte Fassaden, urtypische europäische Straßen mit Kopfsteinpflaster, ein endloses Angebot an Cafés, Galerien und eleganten Boutiquen.

Eine emotionale Umstellung

Heutzutage wache ich auf und gehe in eine andere Art von wunderhübsch hinaus – den gewundenen Kanal, der Neukölln (meine Seite) offiziell von Kreuzberg trennt. Seit einigen Monaten ist dies mein neuer Kiez. Eigentlich sollte ich mich nicht beschweren. Wenn man die Wohnungskrise bedenkt, die um mich herum ihren Höhepunkt erreicht, während ich diese Zeilen schreibe, sollte ich das wirklich und wahrhaftig nicht; viele Menschen würden für meinen Mietvertrag ihr letztes Hemd hergeben. Aber mich aus meiner bequemen, gemütlichen Existenz im Prenzlauer Berg herauszuholen und mich in ein neues Abenteuer in Neukölln zu stürzen, war eine emotionale Umstellung voller Für und Wider.

Genau um die Ecke meiner neuen Nachbarschaft in Neukölln. Genau um die Ecke meiner neuen Nachbarschaft in Neukölln. | © Luke Troynar Der größte Vorteil davon, mich plötzlich in dieser seltsamen spätkapitalistischen Zone inmitten einer Armee von Millennial-Klonen wiederzufinden, die alle auf beunruhigende Weise genauso aussehen wie ich, ist, dass spontane Treffen lachhaft einfach geworden sind. Da die überwältigende Mehrheit meiner Freundinnen und Freunde nun gleich um die Ecke wohnt, gehören die Tage, an denen ich verstockt zuhause im Prenzlauer Berg allein vor mich hin schmorte und vergeblich darauf wartete, dass die Einwohner der Republik Neukölln sich über die Grenzen ihres Territoriums hinauswagten und mich großmütig mit ihrer Anwesenheit beehrten, der Vergangenheit an.

Ein typischer Neukölln Hipster Kaffee Hangout. Ein typischer Neukölln Hipster Kaffee Hangout. | © Luke Troynar Aber es liegt auch eine gewisse schmerzhafte Ironie darin, schließlich doch in der Expat-Republik gelandet zu sein, und das hat etwas mit der verstörenden Anzahl australischer Landsleute zu tun, die mir nun tagtäglich über den Weg laufen. Um Ihnen eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie extrem die Situation tatsächlich ist: Es ist für mich nichts Ungewöhnliches, mehrere Häuserblöcke mit sorgfältig kuratierten Neuköllner Kaffeehäusern und Craft-Brauereibars entlangzuspazieren und nichts als den unverkennbaren nasalen Akzent von Australierinnen und Australiern zu vernehmen, die sich wortstark gegenseitig bauchpinseln. Es gibt Tage, an denen könnte ich genauso gut wieder daheim im Melbourner Stadtteil North Fitzroy sein.

Einer von diesen Australiern

Natürlich bin auch ich einer von diesen Australiern. Und selbstverständlich war auch ich einst ein Berlin-Neuling, der an seinem Club Mate nuckelte und mit deutlich nasalem Akzent aufgedreht darüber schwadronierte, die Clubs unsicher zu machen. Aber darin liegt eben auch das Salz in der Wunde, denn nichts löst einen Anfall nationalen Selbsthasses in Berlin so zuverlässig aus wie die direkte Begegnung mit einer neuen Fuhre der eigenen Landsleute, insbesondere wenn die Diskussion über die Infiltrierung durch Expats ihren derzeitigen Siedepunkt erreicht hat. Ich kann mich mit Müh und Not davon abhalten, zu genau dem zu werden, was ich einst verabscheute – einem griesgrämigen, alteingesessenen Expat mit zweifelhaftem Besitzstandsdenken, der unaufhörlich über die Neuankömmlinge grummelt, die ruinieren ‚wie es früher war‘.
 
Um fair zu sein, die Dinge haben sich über die Jahre hinweg stark verändert. So gehörte ich bei meiner Ankunft zu einer Untergruppe australischer Expats, die heute beinahe ausgestorben ist. Ich hegte null vorgefasste Meinungen über die ‚Berlin Experience‘, und es war reiner Zufall, dass ich schließlich hier und nicht wie geplant in London landete. Heutzutage ist es zu so einem Millennial-Klischee geworden, aus Melbourne für das vielbeschworene ‚Erlebnis‘ hierherzukommen, dass ich es bei Heimatbesuchen vermeide, auch nur ansatzweise zu erwähnen, dass ich hier lebe.
 
Ich scheine den bittersüßen Zustand erreicht zu haben, mich in meiner zweiten Heimat zuhause zu fühlen. Und dieses verstörende Aufeinanderprallen von Empfindungen ist durch und durch vermengt mit dem heiklen Thema, wie Berlin sich genau wegen Leuten wie mir verändert – und das jedes Jahr schneller, jedenfalls den Mietpreisen nach zu urteilen. Während der flüchtigen Momente, in denen ich es mir erlaube, mein neues Neuköllner Leben zu genießen und meinen Mit-Melbournern in Jogginghosen draußen auf der Weserstraße ein zur Kenntnis nehmendes Nicken zu zollen, wird mir nur zu bewusst, dass die Gentrifizierung mich nicht nur gentrified, sondern auch gentri-fried hat. Längst nicht mehr blutig, sondern definitiv durchgebraten, kann ich nur hoffen, dass ich nach wie vor genießbar bin.