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Cassandra’s Eyes
Seismischer Feminismus

© ​Masuda

Jede Studentin schien zur Gestalt meiner Schwester zu werden. Sie alle erinnerten mich an sie, als würde ich sie ansehen, als sei die Schwesternschaft ein Balkon, auf dem ich bin, und ich schaue mir andere Balkone an, und verspüre ein sanftes Beben.

Von Sarah E. Alibabaie

Vor etwa zehn Jahren habe ich als Auslandsamerikanerin in Bangladesch gelebt. Ich stellte fest, dass ich mich in dieser Zeit amerikanischer als je zuvor fühlte, und daher sich meine eigenen Beschreibungen über das Leben in Bangladesch doch mit der allgemeinen Wahrnehmung der Amerikaner deckten. Es kam auch vor, dass ich mich asiatischer fühlte als je zuvor, in dem Sinne, dass sich meine iranische Herkunft ein wenig mit dem Bengali, der Geschichte und Bedeutungsgebung von Bangladesch mischte, und die Tatsache, dass ich an der Asian University for Women in Chittagong lehrte, die Studierenden soweit westlich wie Palästina anlockt. Ein Ausdrucksrepertoire für diese Erfahrungen um Identität herum war bereits in mir vorhanden oder fand sich, wenn immer ich über sie nachdachte.

Aber es gibt eine Sache, über die ich noch nie jemanden reden gehört habe, und ich habe nie darüber gesprochen, weil ich nicht weiß, wie ich es erklären soll: Ich sah meine Schwester in jeder Studentin, ohne Übertreibung, in allen 150.

Schwesternschaft

Ich rede nicht darüber, da ich weiß, es ist nicht normal. Schon ein paar Monate mittendrin in meiner Lehrtätigkeit, als ich dies erlebte, verstand ich, dass jede immer noch die Person war, als die sie hierhergekommen war und nicht eine andere; ich hatte weder Wahnvorstellungen, noch war ich vergesslich geworden oder war mein Gedächtnis umgestellt. Die Wahrheit ist einfach: Jede Studentin schien zur Gestalt meiner Schwester zu werden. Sie alle erinnerten mich an sie, als würde ich sie ansehen, als sei die Schwesternschaft ein Balkon, auf dem ich bin, und ich schaue mir andere Balkone an, und verspüre ein sanftes Beben.

Es gab tatsächlich ein Erdbeben, während ich in meinem Büro an der Universität arbeitete, was eine Terrasse über dem Innenhof hatte. Als es vorbei war, und ich auf den Balkon ging, um mich umzuschauen, sah ich, dass viele andere dasselbe taten. Das ist die nächstliegende Beschreibung, die mir einfällt für das von mir empfundene allumfassende Gefühl von Schwesternschaft, ohne jedoch den Boden unter den Füssen zu verlieren. Es war wie eine kleine seismische Erschütterung, doch etwas heftig für mein Wesen. Sie verlangte Wachsamkeit, war aber ein wenig desorientierend, und ich fühlte es tief in mir.
Studentinnen, Beschäftigte und Lehrer*innen der AUW (Asian University for Women) marschierten an jenem Abend um den Block. Ich war glücklich, dass die Universität ebenso wie andere Universitäten weltweit nicht nur ein Ort für akademische Veranstaltungen und extracurriculare Aktivitäten sein konnte, die sich gut im Lebenslauf machen, sondern ebenso ein Ort des Ausdrückens und des Fortschritts. Es war leicht, jede Studentin als eine Führungspersönlichkeit zu betrachten.© Sarah Alibabaie

Galerie

Kulturelle Puzzles

Was ich den Innenhof nenne, war in Wirklichkeit die an jedes Gebäude grenzende Sackgasse des Campus. Dort verfing sich leicht eine Brise, die Wange an Wange an diesen Außenwänden ruhte, keineswegs in Eile, sich weiterzubewegen, und doch säuselnd und lebendig. Es war wunderschön und wurde jedem zuteil. Dies war eines der Dinge, an die ich mich sehr gerne an meine Zeit dort erinnere. Überhaupt war ich ohnehin von Chittagong fasziniert. Ich hatte damit angefangen, einen Orientierungssinn zu entwickeln und Teile des regionalen und kulturellen Puzzles zusammenzufügen. Ich stellte Fragen, las die Zeitung oder ging mit Freund*innen aus, die bengalischer oder anderer Herkunft waren. 

Es gab Hügel innerhalb der Stadt, das ist etwas, was ich wirklich mochte. Es gibt allem einen Rahmen und man fühlte sich als Nachbar oder nachbarschaftlich. Dies stand im Gegensatz zu dem, was ich in Zeitungen las: Massenbrandstiftungen nur wenige Stunden entfernt, eingesetzt als Werkzeug zur ethnischen Säuberung der Chittagong Hill Tracts. 

Eine meiner ersten Reisen war nach Rangamati mit Freund*innen aus Bangladesch, die mir Rückendeckung gaben, um durch die Kontrolle zu kommen. Diese staatliche Gewalt dämpfte meine allgemeine Begeisterung, in einer Stadt zu sein, wo der wirtschaftliche Aufschwung bzw. Aufbau überall mit einer Mischung von kulturellen Einflüssen wahrnehmbar war. Ich schätze sehr eine von Vielfalt geprägte Geschichte, da kann man immer etwas lernen.

Der Imperativ

Es gibt Dinge, die Achtung nicht zulassen: Etwa geistige Trägheit oder Umständlichkeit (ganz zu schweigen von Ablehnung und Zufügen von Schaden). Die ersten beiden Faktoren standen teilweise thematisch im Mittelpunkt meines Unterrichts. Während ich dieses umfassende schwesterliche Gefühl erlebte, machte ich mir keine Illusionen, dass jeder oder jemand um mich herum auf die gleiche Weise fühlen würde, noch dass ich jemanden darin unterrichten müsste. Teilweise ist es auch der Grund, dass ich diese Erfahrung in Ehren halte, denn wenn ich sie kaum mit anderen Menschen teilen kann, dann bedeutet es, spirituell allein mit ihr zu sein. Meine jüngere Schwester war noch an der Universität. Ich hatte gerade meinen Abschluss gemacht und unterrichtete nun meine und die Altersgruppe meiner Schwester. Zweifellos hatte dies alles etwas mit meinem Gefühl zu tun, aber es erklärt mir nicht wirklich, wie das Gefühl in meinem Blick und in meinem Körper widerspiegelte.

Als meine Schwester und ich klein waren, machten wir Sachen wie, sobald nachts das Licht aus war, uns gegenseitig in die Augen zuschauen, um uns selbst zu erschrecken, oder sich für ein Eis bei Dairy Queen davonzuschleichen. Als Teenager war ich eingebildet, unsicher und ignorierte manchmal meine Schwester oder kränkte sie. Keiner von diesen Regungen empfand ich für die Studentinnen als "Schwestern". Ich pflegte keinen Kontakt zu den Studentinnen, außer im Vorbeigehen mal ein Wort gewechselt und einen Film mit ihnen geschaut oder vielleicht ins Einkaufszentrum gegangen, all dies zum Teil, um nicht von der Verbundenheit überwältigt zu werden, die ich für sie empfand.

Ich schreibe dies mehr als ein Jahrzehnt nach meinem Aufenthalt und Leben auf dem Campus und nach dem ersten Lehrauftrag; daher vielleicht, konkrete Behauptungen zu machen, wie ich es hier tue, kommt mir unheimlich vor, aber ich kann sagen, dass das Rätsel, meine Schwester in jeder Studentin zu sehen, weiterlebt. Es hat mich nie verlassen. Es war eine stärkere Notwendigkeit im Spiel, stärker als Psychologie, Politik, Berufsbeschreibung, Religion, ethnische Zugehörigkeit, nationale Herkunft, "Das rasierte Gesicht ... die kecke Kleidung, die deformierte Haltung ..." (Walt Whitman).

Ein*e gute*r Nachbar*in zu sein, die Zeitungen zu lesen, die Nachbarschaft und die Region zu kennen, all das beschäftigte meine Gedanken und Emotionen und lebte sich im Bereich meiner Ideale und meines Intellekts aus. Die Sache mit der Schwesternschaft war vielleicht eine andere Dimension, es handelte sich dabei nicht um Anordnen oder Formen. Beide Arten des Daseins waren wesentlich und spielten jeweils ihre Rollen während ich in Bangladesch lebte. Pflicht und Achtung waren in beiden Bereichen ineinander verwoben. 

Pflicht ist ein Teil der Schwesternschaft, aber ein größerer Teil ist Achtung. Diskutieren. 

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