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Bangladesch

Cassandra’s Eyes
She

Emma Talbot, ‘Climbing out of rocks’, 2018 Watercolour, Gouache and Acrylic on Khadi paper 30cmx42cm
© Emma Talbot, ‘Climbing out of rocks’, 2018 Watercolour, Gouache and Acrylic on Khadi paper 30cmx42cm

Von Sharmillie Rahman 

Es war ein ganz gewöhnlicher Morgen, oder vielleicht doch nicht? 

Jeden Morgen erlebte man ein Durchringen gegen das Gespenst von all den Erwartungen, die unvermeintlich einhergehende Enttäuschungen erahnen ließen. Sie kamen von der verschwommenenen Schrift der Tage und Monate ihrer selbst aufgezwungenen Amnesie herübergeschlichen.

An diesem Tag erwachte sie mit einer Vorahnung auf ein Ende.

Die Verandatür war einen Spalt geöffnet–das Morgenlicht tastete sich zaghaft hinein und enthüllte eine Säule aus feinem Staub, durch die sie ihre in irdenen Töpfen vorsichtig atmenden Pflanzen erblicken konnte. Er hatte sich auf seine Seite gedreht. Entlang der Mitte des Bettes war ein leichter Buckel sichtbar, der ihre Bettseiten wie eine Grenze trennte. Manchmal konnte sie sich sogar einen Stacheldraht vorstellen, den er vor dem Einschlafen sorgfältig entlang der Grenze verlegte.

"Pfannkuchen gehen  normalerweise im Verhältnis zur Menge des hinzugefügten Backpulvers auf, hmm...", sinnierte sie. Immer wiederkehrende Gedanken kreisten in ihrem Kopf herum, sie konnte sie nicht loswerden. Sie muss sich jetzt entscheiden! "Vielleicht noch einen Teelöffel",  während sie sich in ihren Gedanken immer noch schwertat seine unbekümmerte, lässige Lebenseinstellung zu begreifen. ''Warum diese Entfremdung von der Realität? Warum dieses Festhalten an eine Illusion von Vervollkommung, warum dieses Anrecht auf  Unempfänglichkeit für Schuld oder Verantwortung ...", murmelte das Gehirn vor sich hin unter dem ununterbrochenen, aber unharmonischen Orchester des Lebens. War sie der Selbstgerechtigkeit anheimgefallen? Suchte sie genauso wie er nach der idealisierten Unwahrscheinlichkeit einer nahtlosen geistigen Übereinstimmung?  Ihm genügte die Liebe; für sie wurde es auch zur Verpflichtung, die Bedingungen aufrechtzuerhalten, die eben dieser entgleitenden Liebe zur Verwirklichung verhelfen konnten! 

Ein Sendemast stand gefährlich nahe an ihrem Balkon.  Die knisternde Energieimpulse übertragenden elektrischen Kabel, haben in ihren Gedanken  ein dunkles Sargtuch aus elektromagnetischem Gewebe über ihre Pflanzen gewebt, das ihnen langsam Farbe und Lebenskraft nahm. Manchmal waren ihre unheilvollen Gedanken wie diese Kabel, die ihre hinterhältigen Tentakeln über ihren Geist ausbreiteten und ihr alle Freude raubten. Sie hatte Angst, allein zu sein. Wenn sie keine andere Wahl hatte, kroch sie in den Kokon, nämlich ihr Bett, und rieb mit ihren beruhigenden Fingern über den lebendigsten Teil ihres Körpers, der kurz darauf so ein Gefühl der Vollkommenheit ausstrahlte, dass mit einem Schlag durch ihren Körper fuhr, unmittelbar begleitet von einer vorübergehenden Vergessenheit. 

Die Welt lag an einem fernen Ufer! Kein Fernsehen und keine Zeitung, eine ideale Welt für die New-Age-Eremiten, aber für sie bedeutete es noch eine grössere Isolation mit ihrer ganzen Misere. Er hingegen liebt es, lange Spaziergänge durch die Strassen zu machen. Ziemlich interessiert , wie er war, an den alltäglichen Kuriositäten, die einen kurzzeitig ablenken, fotografierte er manchmal mit seiner Handykamera, während sie geistesabwesend zuschaute und ihr Blick nur über die wie in Zeitlupe dahinfließende Sepia Textur der Umgebung streifte. Er schnippelt auch Gemüse und putzt ihr die Küche hinterher, trifft Vorbereitungen für ihr Bad und hält sie fest an der Hand beim Gehen in den Strassen, seine Lederstiefel und seine Frau vorzeigend. Er scheucht niemals alte Bettlerinnen weg und kann der Versuchung kaum widerstehen, unterwegs einen Süßwarenladen zu betreten. Er macht einen recht vergnügten Eindruck, ist altmodisch gekleidet und seine heimliche  Zufriedenheit über sein Aussehen ist kaum zu übersehen. Das war ihr Mann.

Es war seine Stimme, die sie zusammenführte. Sie ist tief, mit einem flüssigen Timbre, wie Süssholz. Dann wurde er zu einem neurotischen Bedürfnis, obwohl er nichts anderes anzubieten hatte, als seine Bereitschaft, mit ihr zusammen zu sein, sie an seiner Seite zu haben. Er hat eine schnelle Auffassungsgabe, also brachte er sich selbst ein beeindruckendes Englisch bei und lernte auch, sie zu beeindrucken, und schon bald hatte er sich in ihrem Kopf eingenistet. Es ist dieser Mann, den sie dort im Haus zurücklassen wollte, und dann gaben ihre Beine wegen ihrer lähmenden Angstzustände nach.

Angezogen fühlte sie sich nackter und sie dachte, dass seine Augen sie danach beurteilten, was sie für ihr Aussehen tat oder nicht tat. Erst gegen Ende entdeckte sie überraschenderweise, dass die Musik ein verlässlicher Faden war, der sie in lockeren Banden zusammenhalten konnte. Und dann war da noch die ständig über ihr lauernde  Gefahr, in ihre Ängste vor der Isolation bzw. dem Alleinsein abzurutschen. Dann war da zum einen die Hitze, die sie schweißgebadet zurückließ und Schreckgespenster heraufbeschwor. Und dann war da noch die Hitze der Begierde, die immer noch nicht nachgelassen hatte, sondern sich immer wieder neu entfachte, weil es eine andere Art von Musik war, eine sie oft im Reich der Jagd nach einem gemeinsamen fleischlichen Ziel verbindende. 

Das war alles, alles schrumpfte und brach um sie herum zusammen. Sie fühlte sich wie ein Neuling, der sich dabei ertappte, an sich selbst schlechte Karten auszuteilen.

Wenn er in einem bestimmten Winkel steht, raubt es ihr immer noch den Atem. Wenige Locken hängen über seinem Nacken. Er macht immer noch seine starken romantischen Beteuerungen. Es sind die Pflanzen, die sich über die unzusammenhängenden Ebenen der Zeit bewegt  haben, die momentan zu ihrem Hauptanliegen werden, in dem anderen Haus, das sie mit jemand anderem teilt. Auch die von ihm weitergeleiteten Musik-Links sind jetzt seltener geworden.

Ihr Haar ist gewachsen, ihre Taille  ist fülliger geworden. Der Sommer weicht langsam dem Winter. Er besuchte sie in einem schwarzen Hemd mit Plisseefalten auf der Vorderseite. Aber sie konnte deutlich sehen, dass seine Geduld nachließ, manchmal wirkt  sein Lächeln gezwungen, und zwischen den Auseinandersetzungen schaffen sie es irgendwie doch wie Erwachsene zu reden. Sie schlafen getrennt; der trennende Buckel der Bettmitte entlang hat sich inzwischen zu mehreren Kilometern ausgedehnt. Da ist immer die Stimme, die weiterhin die Gewissheit einer Präsenz ihrem Geist zuflüstert.                                                      
Die Ringe von Teetassen auf alten glanzlosen Holztischplatten erinnern an die Flechten auf  verwitterten Baumstämmen. Ein visuelles Palimpsest der Geschichte eines anderen, die in die meine übergeht. Der Kreis ist eine mystische Sache. Wenn man - um den Kreis zu schließen - den Anfang neben das Ende stellt und die Linearität negiert, wird das Ende zum Tor zu einem neuen Anfang. Die Grenze verschwimmt, und der Begriff  "trans" wird zur allumfassenden Wahrheit.  Sie dachte, sie hätte die Grenze überschritten, aber dafür ist man viel zu sehr in der Realität verwurzelt, die die ganze Zeit die Stütze ihrer gelebten Erfahrung war. Man kann nicht einfach die Konturen des bekannten Lebens wegwünschen und es auf der Grundlage einer Vorstellung von einem imaginären Leben umgestalten! Klingt doch eindeutig, oder? Für ihn war es, als ginge es um einen Film, der wehmütig auf den Bildschirm seines Echtzeitflusses der Dinge projiziert wurde.

Sie gingen zu Familienhochzeiten  – das waren Anlässe, um Geschenke zu kaufen, sich schön anzuziehen, als ginge man zu einem Maskenball, wobei sich die Maske jedes Mal fester über das legt, was sie verbirgt. Sie wurde von seinem Enthusiasmus mitgerissen, von seiner starken Hingabe an das Rollenspiel. Sie waren noch nicht miteinander befreundet, als er Theater spielte, aber sie konnte sich vorstellen, dass die Schauspielerei ihm im Blut lag zumal er sie mit aller Ehrlichkeit und Überzeugung ausübte. Ihr Psychotherapeut will nun,dass sie ihre Gefühle entschlüsselt und herausfindet, ob sie Anzeichen von Schuld und Reue enthalten. Sie folgte ihrem Herzen, wie er auch, und irgendwann brach sie in sich zusammen. Sie erinnert sich noch daran, wie sie bei den Worten des Kadi erschauderte: "Sie müssen schriftlich festhalten, wie Ihr Ehemann Sie misshandelt hat ...". Dann wurde ihr mit einem Schlag klar... das Stäbchen mit dem Kreis an der Spitze, das man in Seifenwasser taucht, bevor man durch den Kreis pustet... und die Regenbogenblase, die dann entsteht und in der Sonne funkelt... je größer sie wird, desto stärker die Freude, wenn diese Seifenblase einen und die Welt in sich aufsaugt... dann löst sie sich auf und man pustet weiter und weiter, bis die Flüssigkeit aufgebraucht ist...    

Er beharrte auf seine Version, auf seine Liebe. 
 

The eye- Image by the writer, Sharmillie Rahman© The eye- Image by the writer, Sharmillie Rahman

Auf dem Weg nach Tangail, oh... es war eine nicht enden wollende Reise, der Bus machte wegen Straßenbauarbeiten einen Umweg. Es ist nicht gerade angebracht sie  einer  Achterbahnfahrt  gleichzusetzen, denn sie erinnerte sich daran, wie solche Fahrten das Gefühl hervorriefen, durch einen Strudel zu pendeln, während die Zeit in einer ewigen Schleife vorbeifliegt; dies war einfach holprig, man wurde in einem Blechkanister hin- und hergeschleudert, und die Zeit entglitt heimlich. Pathrail, Bashak Bari, war unser Ziel, ein Dorf der Weber. Es war vor dem Fest Baishak, und wir suchten Saris für alle Frauen in der Familie aus, das war ein freudiger Anlass! 

Sein Familiensinn trug dazu bei, die konkreten Stufen zu errichten, von denen sie hoffte, sie würden sie an die Schwelle einer ganz neuen Welt führen. Ja, die Treppe, die ihr treu blieb, als alles andere zusammenbrach, ein Tor zu ihrem Heiligtum - der Wohnung im zweiten Stock, die sie gemietet hatte, um sich eine andere Lebensweise einzurichten, und zu der sie, immer in der Erwartung eines Wunders, nach ihrer Rückkehr von der Arbeit hinaufstieg.


Es gab noch eine weitere Treppe, bei deren Anblick sie häufig gleich gereizt und nervös wurde. Es war eher so, als würde man eine Stufe nach der anderen in Richtung seines Schicksals nehmen, und gleichzeitig in einem Anproberaum  vor dem Spiegel seine eigenen Fehler anprobieren. Hatte sie jemals ein schlechtes Gewissen, wenn immer sie die Farce zu seinem oder ihrem Vorteil bzw. zum Vorteil beider weitermachte? Gelegentlich! Aber manchmal bot ein überfüllter Haushalt das Versprechen einer Flucht vor seiner Aufmerksamkeit, die sich aus praktischen Gründen unbedingt auf die andere Seite seines Lebens verlagern musste. Es gab definitiv eine Kluft zwischen diesen beiden Haushalten. Er war erst vor kurzem ausgezogen, und die Trennung war noch gegenwärtig. Sie versuchte, diesen eindringlichen Gedanken bewusst zu unterdrücken, damit sie in dieser eigenartigen, fremden Situation doch zuhause sein kann. Dazu gehörte auch, dass sie ihm die unbestrittene Hoheit über die gemeinsame Wohnung überließ. Er liebte es, mit den  Frauen in seinem Leben auf  seine persönliche Art und Weise von Ritterlichkeit umzugehen, meist wie junge Mädchen in Not, was sie manchmal sehr ärgerlich fand. Die Frauen zuhause spielten bei seinen Auftritten sehr vorsichtig, etwas argwöhnisch  mit. "Ihr wisst doch, dass Bhaiya launisch ist. Glaubt ihr, ihr könnt ihm die Verabredung mit diesem Mädchen ausreden? Verärgert ihn nicht, er ist eure einzige Stütze im Alter!" Das sind die Worte, die die Schwester ihren Eltern vortrug und auch ihr an dem Tag wiederholte, an dem sie im Regen hinter der Abdeckung des Busses vor der Schule stand und darauf wartete, dass sie aus dem Schultor heraustrat, um ihr zu sagen, wie sehr der Bruder ihr nachtrauerte. Sie konnte dieser Gelegenheit nicht widerstehen, sich in seinen Armen wiederzufinden, wie ein Lieblingsstück, das sie vor kurzem verloren hatte. Es schien, als hätte er für jede Seite der Kluft, die in seinem Kopf  trotz der offensichtlichen Überschneidungen strikt getrennt war, eine eigenständige Gefühlswelt. Das Ende war unausweichlich, als diese prekäre Regelung einer Auseindersetzung gebrochen wurde, als sie nämlich begann, unaufhörlich in den Raum einzudringen, der in all seinem moralischen und existenziellen Elend am Ende der Stufen dieses anderen Treppenhauses lag, und bald zum notwendigen Komplizen bei der Fortsetzung bis zum verzerrten Ende der Geschichte wurde.


Die Taschen mit den Lebensmitteln lagen nebeneinander, die eine blieb, die andere wurde mitgenommen. Er trug immer eine Tasche von einer Welt in die andere, er war der potlawala.      

Seine Tasche (potla) wurde immer schwerer unter dem Gewicht der Realität, dass er seine Loyalität zwischen den Welten aufteilen musste. In ihr schäumte eine allumfassende Wut auf: "Warum verläßt du nicht einfach das Haus ...", schrie sie zitternd und hielt sich am Türrahmen fest, ohne auch nur ein einziges Mal den Blick abzuwenden. Er trug seine Jeansjacke - etwas, das ihr nicht gefiel. Bald schon legte er seine Lippen auf  ihre aufgeworfenen, in einer allzu vertrauten Geste einer gegenseitigen Verschwörung, von der beide wussten, dass sie völliger Selbstzweck war.


"Hallo...", es war der Zeit für seine regelmäßigen Anrufe! Sie warten jetzt auf den Bus zur Jahangir Nagar Universität, " Sei doch nicht so kriecherisch, du hast erst gestern mit ihr gesprochen, sie ist schon nicht über Nacht gestorben!" Und wenn schon ... oder was wäre, wenn sie selbst den Mut gehabt hätte, diese vor sich gärende Beziehung mit viel Geschrei zu beenden?  Sie war der Realität entrückt, sie war in einem einsamen Zugabteil gefangen, das durch eine Einöde zockelte und alles, was sie erblicken konnte, waren Formen bildende Linien, aber ihr Verstand war zu fiebrig, um sie wahrzunehmen.
 
“Ehre …”


Was wurde gesagt? Worum ging es überhaupt? Es ergab keinen Sinn mehr, egal wie sehr sie an den Strängen herumfummelte und zog, um die Knoten ihrer schwankenden Emotionen zu lösen, sie zu benennen, sie zu heilen, um sich sagen zu können: "Es ist alles in Ordnung..."  

Da war ein Geräusch, ein Vibrieren, unauffällig, kaum atmend, wie eine in der Luft schwebende weiche Feder, angetrieben von nicht kontrollierbaren Kräften. Dann hörte es auf. Es wurde erstickt, bevor es sein Dasein entfalten konnte. Ein Klang, der verstummte, bevor er das Unergründliche artikulieren konnte.

Dann formte sich die Träne, und von der Schwerkraft niedergedrückt, entrinnt sie, zunächst etwas gedehnt und an einem dünnen Faden hängend wie der Stachel eines Stachelschweins, zitternd in einem Moment der Besinnung vor dem entscheidenden Sturz. Bald darauf folgte ein reißender Sturzbach. Tränen aus einer gefallenen Zitadelle. Die Festung des Herzens, oder wie man es auch nennen mag, wird flüssig wie Wasser, mitfühlend und fortlebend, das Selbst zurückfordernd...

__Seiten aus ihrem digitalen Tagebuch. 
Ende der Geschichte.         

ZUR AUTORIN:  

Sharmillie Rahman © Sharmillie Rahman









Sharmillie Rahman
bedient sich der Worte als Mittel zur Selbstfindung. Sie ist in sich gekehrt und liebt es, in ihrer inneren Welt zu verweilen. Im Laufe der Jahre hat sie einen Teil ihrer Zeit dem Lesen, Schreiben und Literaturunterricht gewidmet. Ihr Bruder führte sie in die Welt der Kunst ein. Sie nahm schliesslich eine Arbeit bei einer Kunstzeitschrift an, wo sie Artikel übersetzte, Rezensionen schrieb, Mikro-Redigierarbeiten vornahm und eigene Artikel verfasste–was, sie auch heute noch freiberuflich betreibt. In der Anfangszeit organisierte sie eine Modeausstellung, und erst vor kurzem hat sie ein Kunstcamp mit Künstlern in verschiedenen Stadien ihrer Karriere aus der bangladeschischen Kunstszene geleitet, das als eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst in einer Kunstgalerie in Dhaka bekannt wurde.

 

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