Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Judith Schalansky
Bildungsreisen in die Vergänglichkeit

Judith Schalansky widmet sich verlorenen Dingen und der Vergänglichkeit. Sie erzählt von Verlusten, Phantomschmerzen, Ausgestorbenem, Versunkenem – und das in einem außerordentlich schön gestalteten Buch.

Von Holger Moos

Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste © Suhrkamp Verzeichnis einiger Verluste, das neueste Werk Judith Schalanskys, ist natürlich kein Verzeichnis, das im Zeichen der Vollständigkeit steht. Wie soll das auch möglich sein, ist die Welt des Vergangenen doch viel größer und unbekannter als die des aktuell Existierenden. Wir sehen immer nur Ausschnitte, in der Gegenwart und erst recht in der Vergangenheit. Schalansky ist hier bescheidener als andere Autoren, die oftmals monumentale Werke verfassten, um Vergangenes festzuhalten, man denke an Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, Uwe Johnsons Jahrestage oder Walter Kempowskis kollektives Tagebuch Das Echolot.
 
In dem sehr erhellenden, unbedingt lesenswerten Vorwort entwirft Schalansky den theoretischen Überbau der folgenden Erzählungen. Darin heißt es, dass man sich ein Leben lang daran gewöhnen müsse, zu den Übriggebliebenen zu gehören: „Letztlich ist alles, was noch da ist, schlichtweg das, was übrig geblieben ist.“ Schlimmer noch: „Jedes Ding [ist] immer schon Müll“ und die Erde „ein Trümmerhaufen vergangener Zukunft“.

Inventur individueller Verluste

Mindestens ebenso wichtig wie das Erinnern sei das Vergessen-Können. Denn ohne Vergessen sei man gefangen im „Echoraum“ seiner Erinnerungen – wie „jene Kalifonierin, die sich ohne Mnemotechnik jeden einzelnen Tag seit dem 5. Februar 1980 vergegenwärtigen kann“. Auch wenn jedes Archiv, ähnlich der Arche, nach Vollständigkeit strebe, sei die Ordnung der Vergangenheit doch immer ein noch wichtigeres Prinzip der Erinnerung. Eine Bewahrung bzw. Erinnerung ohne die ordnende und strukturierende Kraft des Vergessens sei dazu verdammt, bedeutungslos zu sein.
 
Genau an dieser Stelle kommt der Zusammenhang zwischen Erinnerung und Macht ins Spiel. Denn in jeder Gesellschaft, insbesondere in totalitären, strebten die Mächtigen danach, über die Deutung der Vergangenheit, also über Erinnerung und Vergessen, zu herrschen, gemäß dem Motto: „Wer die Zukunft kontrollieren will, muss die Vergangenheit abschaffen.“ Ein schlagendes Beispiel sind die in der Geschichte der Menschheit mehrfach bezeugten Bücherverbrennungen. Schalansky hat bei ihrer Bewahrung von Verlorenem natürlich anderes im Sinn, ihr geht es nicht um die Deutung der Vergangenheit, sondern um Vergegenwärtigung. Gerade Leerstellen vermögen die Fantasie zu befeuern. Am Ende soll das Lesepublikum erahnen, dass der Unterschied zwischen An- und Abwesenheit womöglich marginal ist.
 
Die auf das Vorwort folgenden 12 Texte sind inhaltlich und formal sehr verschieden. Es ist eine Inventur von individuellen Verlusten. Sie führen bisweilen weit fort von dem verlorenen Ding. Ausgangspunkte von Schalanskys literarischen Erkundungstouren sind zum Beispiel der ausgestorbene Kaspische Tiger, ein versunkenes Südseeatoll, Sapphos Liebeslieder, das bei einem Brand zerstörte Gemälde „Hafen von Greifswald“ von Caspar David Friedrich, das vernichtete enzyklopädische Universum eines verschrobenen Einsiedlers im Tessin oder der abgerissene Palast der Republik in Berlin.

„Wir wissen nur, wie man tanzt“

Das Feuilleton ist voll des Lobes. Das Buch schaffte es im Dezember auf die SWR-Bestenliste, die Texte werden von der Jury als „literarische Verlustrechnungen, Welt- und Selbsterforschungen“ gepriesen. Juliane Liebert spricht in der ZEIT von einer „Wunderkammer des Abwesenden“, für Andrea Köhler von der NZZ handelt es sich um „Totenklage, Erinnerungsspeicher und Testament zugleich“. Andreas Platthaus von der FAZ begeistert sich auch für Gestaltung und Form des Werks. So seien die Texte zwar sehr heterogen, aber alle gleich lang, nämlich 16 Seiten. 
 
In der ZEIT wird Schalansky ein altmodischer, etwas spröder Grundton attestiert, der die Welt verdichtet und in langen, kunstvoll geschachtelten Sätzen wieder auffächert. Diese Manieriertheit mancher Texte macht das Lesen streckenweise etwas anstrengend. Aus dunkler Materie wird dann manchmal etwas viel dunkles Geraune. Nichtsdestotrotz kann man mit diesem auch sehr schön gestalteten Buch einzigartige Bildungsreisen in die Vergänglichkeit unternehmen. Einmal stellt sich Schalansky das Paradies vor, in Gestalt des untergegangenen Atolls Tuanaki, wo die Menschen sich wie folgt charakterisieren: „Wir wissen nicht, wie man tötet. Wir wissen nur, wie man tanzt.“
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Schalansky, Judith: Verzeichnis einiger Verluste
Berlin: Suhrkamp, 2018. 252 S.
ISBN: 978-3-518-42824-5
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

Top