Petra Schönhöfer
Die Gesellschaft wie eine Plastik formen

Joseph Beuys war Zeichner, Bildhauer, Aktions- und Installationskünstler, Lehrer, Politiker, und Aktivist – und einer der bedeutendsten Künstler*innen des 20. Jahrhunderts. Wie seine Kunst bis heute nachwirkt.
Von Petra Schönhöfer
Er ging an Grenzen, die manchmal wehtaten. Wehtun sollten. Und auch wer noch nie ein Werk von Joseph Beuys gesehen hat, kennt wahrscheinlich seinen vielzitierten aber oft missverstandenen Satz: „Jeder Mensch ist ein Künstler.“ Er wollte damit mitnichten sagen, dass jeder Mensch Maler*in, Architekt*in oder Komponist*in sei. Sondern, dass jede menschliche Tätigkeit den Anspruch der Kunst innehaben kann. Mit dieser Ansicht hat Beuys Wesen, Materialität, Grenzen und Aufgaben der Kunst bis heute grundlegend verändert.
Joseph Beuys galt als äußerst charismatischer Mensch. Mit seiner Auskunftsfreude gegenüber den Medien und der Schonungslosigkeit, mit der er sich in seinen Kunstaktionen bis zum gesundheitlichen Raubbau präsentierte, übte er großen Einfluss auf junge Künstler*innen aus. Die Liste seiner Schüler*innen aus seiner Zeit als Professor der Kunstakademie Düsseldorf liest sich wie das Who is Who der frühen Kunstszene der BRD: Imi (Klaus Wolf) Knoebel, Imi (Rainer) Giese, Blinky Palermo, Norbert Tadeusz, Anatol Herzfeld, Bazon Brock, Chris Reinecke, Katharina Sievering, Erinna König, Reiner Ruthenbeck, Johannes Stüttgen – sie alle versammelten sich bei Beuys im Klassenraum 19 des Lehrstuhls für monumentale Bildhauerei. Zu den international bekanntesten Beuys-Schüler*innen zählt bis heute Jörg Immendorff. Der 2007 verstorbene Maler, Bildhauer und Kunstprofessor besuchte ab 1964 die Klasse von Beuys. Noch Jahrzehnte danach setzte sich Immendorff mit dem Verhältnis zum 1986 verstorbenen Beuys auseinander, der ihn dazu ermutigt hatte, in der Malerei völlig neue Themen und Formen zu verwenden.
Die Gesellschaft behauen
Inhaltlich forderte Beuys eine radikale Veränderung der Gesellschaft. Wie kein anderer Künstler seiner Zeit verband er Kunst mit Gesellschaft, verknüpfte sie mit Politik, Wissenschaft, Philosophie und Wirtschaft. Ausgangspunkt war seine Theorie der Sozialen Plastik, die er unter anderem 1982 auf der documenta-Ausstellung in Kassel mit seinem sozial-ökologischen Werk 7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung umsetzte: Beuys und viele freiwillige Helfer*innen pflanzten im Verlauf von fünf Jahren 7.000 Bäume mit je einem Basaltstein an unterschiedlichen Standorten in Kassel. Das anfangs umstrittene Projekt ist heute zu einem prägenden Bestandteil des Kasseler Stadtbilds geworden.
„Die Idee der Sozialen Plastik, auch wenn ich das Wort nicht mag, ist vielleicht die größte künstlerische Hinterlassenschaft von Beuys“, erläutert der Philosoph und Aktionskünstler Philipp Ruch. Er leitet das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS), einen Zusammenschluss von Aktionskünstler*innen und Kreativen, der seit 2009 mit provokanten Kunstprojekten in Deutschland für Aufsehen sorgt. „Die Aktionskünstler behauen statt Stein die Gesellschaft selbst. Ihr Material ist die politische Wirklichkeit und nicht die üblichen Materialien.“
Aufklärung durch Verstörung
So ist Beuys denn auch eine Schlüsselfigur zum Verständnis des Werks von Christoph Schlingensief. Der 2010 verstorbene deutsche Theater- und Filmregisseur, Autor und Aktionskünstler hat aus seiner Verehrung für Beuys kein Geheimnis gemacht. Die Anlehnung an Beuys zeigt sich deutlich in Schlingensiefs gesellschaftskritischen Werken, wie etwa in Ausländer raus! Schlingensiefs Container, einem Kunst- und Filmprojekt anlässlich der Wiener Festwochen 2000. Das Konzept der Aktion orientierte sich an der TV-Show Big Brother: In einem Container versammelte Asylbewerber*innen wurden durch tägliche öffentliche Abstimmungen aus dem Raum herausgewählt – und damit zur Abschiebung aus Österreich freigegeben.