Interview mit Stefan Hilterhaus, Künstlerischer Leiter des PACT Zollverein Essen

Stefan Hilterhaus © Dirk Rose Stefan Hilterhaus war zu Besuch in Santiago de Chile, wo er beim „6th World Summit on Arts & Culture“ einen Vortrag zur Transformation des industriell geprägten Ruhrgebiets und die Rolle von Kunst und Kultur in diesem Prozess gehalten hat. Wir sprachen mit ihm über seine Arbeit bei PACT Zollverein und die Bedeutung von Kunst.

„Die Kunst ist da, um Freiräume zu schaffen“

Wie sehen Sie den Einfluss von PACT Zollverein für die Stadt Essen und das Ruhrgebiet?

Zunächst ist unser Ort unter anderem ein Symbol für ein neues Zeitalter. Er transformiert diesen analog geprägten, großindustriellen, ehemals verbotenen Ort auf dem Gelände der Zeche Zollverein, der dominiert war von einer maximalen Verwertung und Ausbeutung sozialer und natürlicher Ressourcen, in einen einladenenden, inspirierenden und Ressourcen schaffenden Gegenentwurf.

Wir arbeiten nun in einem pulsierenden, lebendigen Ort, an dem die Fragen von heute behandelt werden. Dazu gehört natürlich eine gastliche Atmosphäre, schöne Räume und interessante Menschen. Das Publikum schätzt die Atmosphäre, in dem Denken, Verweilen, Diskutieren, Miterleben und Irritieren ineinander greift. Man kann manchmal ganze Tage bei uns verbringen, in dem alle Räume auf 3000 qm bespielt oder begangen werden können. Wir versuchen bei PACT Zollverein immer wieder Alternativen vorzuschlagen, Perspektivwechsel auf das Leben, das Umfeld, die uns umgebenden Phänomene und auf die Gestaltung der eigenen Lebensumstände. Das wir dadurch viele Freunde und Besucher, Mitdenker und Unterstützer aus allen gesellschaftlichen Bereichen und Generationen aus den umliegenden Stadtvierteln und rund um den Globus gewinnen konnten, ist unser Beitrag zu einem lebenswerten Ruhrgebiet.

Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Künstler?

Die Region findet vor allem auch einen einmaligen Produktionsort für die Kunst und die Künstler, für Experten, die die Gesellschaft dringend braucht, um ihre Routinen, Strukturen und Sehweisen zu befragen. Sie decken auf und legen selbstbestimmte Spuren.
Wir stellen auf der einen Seite Räume zur Verfügung, in denen Ausprobieren, Reflektieren und Spekulieren ohne Auflagen möglich ist. Auf der anderen Seite entstehen natürlich auch reale Werke, die bei uns auf der Bühne und rund um den Globus zu sehen sind.

Welche Fragestellungen stehen im Fokus der Arbeit von PACT Zollverein?

Es geht immer wieder darum, reale Umstände und Fragen aus der sozialen, körperlichen, urbanen, geistigen, politischen und natürlichen Umgebung in einen anderen Rahmen oder in einem anderen Licht zu betrachten und zu bewegen. Da wird es spannend, wo diese Verflechtungen und Widersprüche offen liegen, nebeneinander, unlösbar. Es gehört wohl zur Expertise der Kunst, sich mitten in dieser Begegnung sich ergänzender Spannungen und Brüche engagiert und variantenreich zu bewegen. In diesem Sinne ist das Ruhrgebiet ein sehr fruchtbarer Boden für unsere Arbeit. Die Menschen sind ungewöhnlich offen, beinahe sehnsüchtig und aufmerksam für diese Art des Erstaunens. Das ist eine wunderbare Erfahrung, die man von einem analog-industriell geprägten Großraum nicht unbedingt erwarten kann.

Wie ist die Arbeit bei PACT Zollverein strukturiert?

Wir kommen mit einer bundesweit einzigartigen Struktur aus drei sich gegenseitig inspirierenden Arbeitsschwerpunkten einem Gesellschafts- und Kulturauftrag nach, der zur Verortung und Wertschätzung von Tanz, Performance und Formen zeitbasierter Kunst beiträgt: Im Residenzprogramm, an dem Künstler aus der ganzen Welt teilnehmen, arbeiten wir als Künstlerhaus und stellen einen Raum für konzentrierte Arbeitsprozesse zur Verfügung. Der Bereich Plattform initiiert Austausch zwischen Künstlern, Wissenschaftlern, Experten und Studierenden verschiedener Disziplinen, sowie die kritische Befragung ihrer Methoden und Resultate und reicht bis zu einem engen Austausch mit sozialen, lokalen Partnern in unseren Stadtteilen. Ein dritter Schwerpunkt liegt auf unserem profilierten Bühnenprogramm aus Uraufführungen, Koproduktionen und Gastspielen. Die Durchlässigkeit aller Bereiche prägt die Atmosphäre, Motivation und Haltung aller Akteure in der ehemaligen Waschkaue. Dabei ist die Arbeit von PACT Zollverein nicht nur auf sofort abfragbare Ergebnisse ausgelegt, sondern auch auf die dauerhafte Bereitstellung denkbarer und realisierbarer Setzungen und Modelle.

Welche Qualitäten können anders gefasste Räume bieten?

Um sinnstiftend mit Ressourcen umzugehen, braucht auch eine massenmedial verfasste Gesellschaft vor allem auch Zeit und Räume, die nicht vordefiniert sind, in denen der Umgang mit Widersprüchen, Scheitern, der Lust am Ausprobieren, Grenzerkundungen, dem Sich-in-Frage-Stellen und natürlich dem Gewahrwerden von Errungenschaften Teil des Alltags wird. Der Körper als Medium wird darin unzweifelhaft immer wichtiger.

Wichtig sind diese Räume für die Gesellschaft zur Selbsterkennung und – vergewisserung, um von der Kunst lernen zu können, wie diese in ihrer Paradedisziplin arbeitet, im Umgang mit Problemen. Gerade heute, wo diese Freiräume gerne freiwillig in die Hände einer großen, verwertenden Unterhaltungsmaschinerie übertragen werden, scheint es geboten, auf die Kraft von starken selbstbestimmten Räumen zu setzen.