Fatma Aydemir
Dschinns

Autorin Fatma Aydemir
© Sibylle Fendt

„Vielleicht ist Familie ja nichts anderes als das, ein Gebilde aus Geschichten und Geschichten und Geschichten. Aber was bedeuten dann die Leerstellen in ihnen, das Schweigen?“ 
 

Von Florina Evers

Deutschland, Ende der neunziger Jahre. Hüseyin hat nach dreißig Jahren harter Arbeit endlich den wohlverdienten Ruhestand erreicht. Mit seinem Ersparten reist er nach Istanbul und erfüllt sich dort den Traum einer Eigentumswohnung. Ein paar letzte Schliffe noch, dann ist alles bereit für den Neuanfang und die Familie kann nachkommen. Doch als seine Frau Emine und ihre vier Kinder Sevda, Hakan, Perihan und Ümit kurz darauf in Istanbul eintreffen, hat sich der Grund ihrer Reise bereits geändert: Hüseyin ist an einem Herzinfarkt gestorben und muss, wie es in der Türkei Tradition ist, bereits einen Tag später beerdigt werden.

Mit diesem tragischen Ereignis beginnt Fatma Aydemirs tiefgründiger Familienroman, erzählt aus den sechs Perspektiven der Familie Yilmaz. Den Leser*innen offenbart sich so mit jeder Geschichte ein weiterer Teil des Mosaiks an Erinnerungen, Ängsten, Schicksalsschlägen und Geheimnissen der einzelnen Familienmitglieder.

Da ist der erschöpfte Hüseyin, der voller Hoffnung auf das blickt, was vor ihm liegt, um seine von Fabrikarbeit, Überstunden und traumatischen Armeeerfahrungen geprägte Vergangenheit zu verdrängen. Seine älteste Tochter Sevda, die seit Jahren kein Wort mit ihren Eltern gewechselt hat. Zu tief sitzen die Enttäuschung und der Schmerz von dem, was ihre Eltern ihr verboten und was von ihr erkämpft werden musste. Da sind Hakan, Perihan und Ümit, die es leichter hatten, weil ihre Kindheit bereits in Deutschland stattfand, sie zur Schule gehen konnten und in Perihans Fall auch studieren. Trotzdem tragen die drei ihr eigenes Päckchen aus Einsamkeit, Angst und Identitätsfragen mit sich. Schließlich werden sie von rassistischen Graffitis, gewaltbereiten Nazis und Prämien, die die Rückkehr der Arbeiterfamilien in die Türkei belohnen, ständig daran erinnert, dass Deutschland sie nicht will, sie wie Ungeziefer vertreiben möchte. Und schließlich die Mutter Emine, deren unterdrückte Wünsche, Ängste und Bedürfnisse ihre Tochter Peri an ein „hoffnungslos verheddertes Wollknäuel“ denken lassen.

Ein Mantel aus Schweigen


Buchcover Dschinns von Fatma Aydemir © © Florina Evers Dschinns - Fatma Aydemir © Florina Evers
Jede gefüllte Leerstelle macht schmerzhaft deutlich, wie wenig die Familie eigentlich voneinander weiß und wie dick der Mantel des Schweigens ist, der sich im Laufe der Jahre über alles gelegt hat. Am Ende des Romans steht die alles entscheidende Frage: Was passiert, wenn man der leisen Stimme in sich drin plötzlich Gehör schenkt? Was, wenn man sie so laut werden lässt, dass das Schweigen zerbricht?

Dschinns erzählt nicht nur die Geschichte einer Familie, sondern lässt auch an die Geschichten vieler türkischer Familien denken, die in den 70er und 80er Jahren aufgrund der instabilen politischen Lage in der Türkei nach Deutschland zogen. Wie bei Familie Yilmaz aus dem Roman wohnten oft bereits türkische Familienmitglieder in Deutschland, die als Teil der Arbeitsmigration in den 60ern in deutschen Fabriken und Firmen arbeiteten. Vielen ging es wie Hüseyin:

Du hattest dir ein neues Leben erhofft. Was du bekamst, war Einsamkeit, die nie ein neues Leben sein kann, denn Einsamkeit ist eine Schleife, ist die ständige Wiederholung derselben Erinnerungen im Kopf, ist die Suche nach immer neuen Wunden in längst verschwundenen Ichs, ist die Sehnsucht nach Menschen, die man zurückgelassen hat.“

Trotz der ernsten Thematik und den menschlichen Schicksalen, die einem aus den Seiten entgegen springen, ist es kein Buch, das sich schwer lesen lässt. Das mag wohl an Fatma Aydemirs Sprache liegen, die über die Kapitel hinweg eine Sogkraft entfaltet, die dafür sorgt, dass man das Buch nicht aus den Händen legen möchte.
Für mich persönlich gehört der Roman bereits jetzt zu meinen Lieblingsbüchern in 2022. Auch weil er mir meinen privilegierten, etwas verklärten Blick verdeutlicht hat, den ich als weiße cis-Frau auf Deutschland in den 90ern, aber auch auf das Deutschland der Gegenwart hatte. Der Roman hat mir dabei geholfen, Leerstellen im eigenen kulturellen und historischen Gedächtnis zu füllen und mich intensiver mit der Geschichte der Türkei und der Kurden auseinanderzusetzen. Und vor allem bin ich nach der Lektüre um sechs Perspektiven reicher, denn die Geschichten von Hüseyin, Emine, Sevda, Hakan, Perihan und Ümit werden auch über den Seitenrand hinaus ein Teil von mir bleiben.

Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren. Sie lebt in Berlin und ist Kolumnistin und Redakteurin bei der taz. 2017 erschien ihr mehrfach ausgezeichneter Debütroman Ellbogen und 2019 war sie gemeinsam mit Hengameh Yaghoobifarah Herausgeberin der Anthologie Eure Heimat ist unser Albtraum. Dschinns wurde mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet.

 

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