Julia von Lucadou
Tick Tack

Autorin Julia von Lucadou
© Guido Schiefer

Warum finden selbst die wildesten Verschwörungstheorien und Ideologien überzeugte Vertreter*innen? Wie können Wissenschaft und Fakten für manche Menschen so weit in den Hintergrund rücken? Diese Fragen hat man sich in den letzten zwei Jahren vermehrt stellen müssen, wenn trotz hoher Inzidenzen mehrere tausend Menschen zu sogenannten Querdenker-Demos zusammenkamen, um gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung zu protestieren.

Von Florina Evers

TW [Trigger Warnung]: Suizid, Cyber-Mobbing 

Tick Tack, der zweite Roman der deutschen Schriftstellerin Julia von Lucadou, ersetzt das fassungslose Kopfschütteln mit zwei möglichen Antworten, die zwar fiktiv sind, doch dadurch nichts an Glaubhaftigkeit einbüßen. Aus den Perspektiven der 15-jährigen Almette und dem 26-jährigen Jo, dessen Kapitel komplett in greentext-Format geschrieben sind (eine bestimmte Art des Storytellings im Internet), wird eine Geschichte der Radikalisierung in Zeiten von Corona erzählt. Temporeich, unterhaltsam und brandaktuell.  

Buchcover Tick Tack von Julia von Lucadou © © Florina Evers  Tick Tack - Julia von Lucadou © Florina Evers
Der Roman beginnt mit einer Therapiestunde, die stattfindet, weil Almette einen Suizidversuch hinter sich hat. Sie hat ihn sogar auf der Plattform ihres Vertrauens angekündigt – TikTok.  Reagieren tat niemand, doch von den Gleisen der Hansastation Köln wurde sie trotzdem gerettet. Und nun: „Thera-fucking-pie, die Dritte“.  

Wie dieser Einstieg (und Titel des Romans) bereits vermuten lässt, spielt TikTok für Protagonistin Almette, kurz „Mette“, eine zentrale Rolle in ihrem Leben. Dort heißt sie saycheese, hat über 10 tausend Follower und ganze 252,3 tausend Likes. Für die hohen Zahlen ist vor allem ihr Abschiedsvideo verantwortlich, was nachträglich doch noch überraschend viele Views eingefangen hat. Um die Follower zu behalten, versucht Mette die „Zielgruppe-Selbstmordfan“ zu bespielen und postet dafür Videos ihrer „buckligen Therapeutin“. Noch besser wäre jedoch ein Haustier mit „Star-Quality“. 

Das liken alle am meisten, wenn man ein behindertes Tier mit irgendwelchen selbstgebauten Konstruktionen wieder mobil macht.

Julia von Lucadou: Tick Tack. Hanser Berlin, 2022.

Gedanken wie diese lassen die Leser*innen schnell erkennen, wie groß Mettes Wunsch ist, gemocht und akzeptiert zu werden. Am liebsten würde man ihr durch die Seiten hindurch zurufen, dass Likes kein Ersatz dafür sind. Das schlechte Verhältnis von Mette zu ihren Eltern macht ihre Lage noch verflixter. Obwohl sie vorgeben, ihr mit der Therapie nach ihrem Suizidversuch nur helfen zu wollen, ist ihre zweite Intention klar zu erkennen: Ihr Traum von einer Mustertochter, die neben ihrer Hochbegabung auch noch blendend aussieht. In diese Wunschvorstellung kann und will Mette sich nicht pressen lassen. Daran kann auch keine geschenkte Flatrate für das lokale Zumba-Studio etwas ändern. Tatsächlich scheinen Mettes Eltern jegliche Bindung zu ihr verloren zu haben. Ihre unausgesprochene Sehnsucht nach einer Tochter, die anders als Mette ist – unkomplizierter, schlanker, zahmer – sickert durch jeden Versuch der Annäherung hindurch und verwandelt sie für Mette zu Gift.  

Auch der 26-jährigen Joshua, kurz Jo, hat keine besonders gute Beziehung zu seinen Eltern. Das Aufwachsen mit einem gewalttätigen Vater und einer idealistischen Mutter, die mit ihrer neuen Familie ihr Happy-End inszeniert, hat Spuren hinterlassen. Jo wurde gerade von der Uni geworfen und musste zurück ins Haus seiner Mutter ziehen. Dort verschanzt er sich in seinem dunklen Zimmer und lässt seiner Wut auf die Welt in den Dark Rooms des Internets freien Lauf. Als er Mette im Hausflur begegnet, erkennt er sie aus ihrem Suizidvideo und sieht in ihr, mit ihrer wütenden, etwas naiven Art sofort ein perfektes Versuchskaninchen für seine immer radikaler werdenden Gedanken.  

Du brauchst eine durchgängige Ästhetik, ne klare Persona, du brauchst ne TakTik für TikTok, verstehst du, mit zwei großen Ts?« „Du brauchst eine durchgängige Ästhetik, ne klare Persona, du brauchst ne TakTik für TikTok, verstehst du, mit zwei großen Ts?

Julia von Lucadou: Tick Tack. Hanser Berlin, 2022.

Mette, geschmeichelt von der Aufmerksamkeit des 10 Jahre älteren Mannes, lässt sich auf ihn ein. Und seit Yāgmur, ihre beste Freundin und „Blutsschwester“, sich in die langbeinige Sve verliebt und für sie eh keine Zeit mehr hat, gibt es für Mette auch keinen Grund mehr, sich zurückzuhalten. Zusammen mit Jo fängt sie an, Videos zu kreieren, die immer radikaler werden, Grenzen überschreiten und zuletzt dafür sorgen, dass Mette trotz Bestnoten von ihrer schicken Privatschule suspendiert wird. Doch ihre Followerzahlen steigen weiter an und die Likes summieren sich ins Unermessliche. So schlittert sie auch in die Querdenkerbewegung, die ebenfalls nach Meinungsfreiheit und Grundrechten brüllt. Von Jo wird sie als ihre „Greta“ inszeniert. Jung, mutig und kein Blatt vor den maskenfreien Mund nehmend. Doch im Pandemiesommer 2020 erhält sie eine alles verändernde Nachricht, die Mette endlich zum Hinterfragen ihres Verhaltens bringt. 

Der ständige Wechsel zwischen den Perspektiven sorgt für einen unglaublichen Spannungsaufbau. Besonders die greentext-Passagen aus Jo’s Sicht sind so beängstigend authentisch, dass einem bei seinem Incel-Geschwafel fast ein wenig schlecht wird. Die Mutter wird zum „Muttertier“, ihr neuer Freund zum „Sexroboter“ und Mette zur „Soldatin“, zum „Landwhale“, zum „Fäßchen“, je nachdem in welcher Stimmung Jo sich befindet. Im Kontrast zur erniedrigenden, vulgären Sprache stehen die wenigen Szenen in denen man mehr über Jo’s verletzliche Seite erfährt. Auch in ihm steckt eine tiefe Verzweiflung und Wut, die ein Ventil brauchen, um ihn nicht gänzlich zu erdrücken. 

Der Roman Tick Tack hatte eine ähnliche Wirkung auf mich, wie die Plattform, um die es so viel geht: ganz schön viel auf einmal. Doch nachdem man sich eingelesen hat, fiebert man an Mettes Seite mit. Sie wird zur kleinen Schwester, die man an den Schultern packen und zur Vernunft rufen will. Und als man am Ende des Romans die Uhr bereits ticken hört, ist man umso stolzer, weil sie die Kurve ganz allein bekommen hat. 
 
Julia von Lucadou geboren 1982 in Heidelberg, ist Filmwissenschaftlerin. Sie arbeitete als Regieassistentin, Fernsehredakteurin und Simulationspatientin. Ihr erster Roman Die Hochhausspringerin (2018) stand auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis und wurde mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. 
 

Tick Tack

Hanser Berlin, 2022.
256 Seiten
ISBN 978-3-446-27234-7

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