Briefblog
Per Fax in die digitale Revolution

Sag mal, Jaan ... ein Briefblog4
© Goethe-Institut Estland

Sag mal, Jaan Tamm, was erzählt ihr den deutschen Staatsgästen über Digitalisierung?

In puncto Digitalisierung ist Estland ja wirklich unglaublich fortschrittlich: Hier gibt es das Grundrecht auf Internet, eines der schnellsten und sichersten Netze weltweit sowie eine gefühlt dreihundertprozentige LTE-Netzabdeckung. Die Kommunikation mit Ämtern, das Checken der Schulnoten und Hausaufgaben und sogar Wählen funktionieren in den Weiten von e-Estonia, der digitalen Infrastruktur Estlands, die noch dazu weniger sumpfig und verregnet ist als die analoge Version. Das ist wahrlich einzigartig.

So überrascht es auch nicht, dass Politikerinnen und Politiker aus anderen Staaten häufiger vorbeischauen, um sich inspirieren zu lassen. So auch aus Deutschland; inzwischen müssten Delegationen aus fast jedem deutschen Landtag (und aus dem Bundestag ohnehin) zu Besuch in Tallinn gewesen sein, um sich im schicken e-Estonia-Showroom über die schier unendlichen Möglichkeiten von e-Governance, e-Citizenship und e-Voting zu informieren.


Schöne neue Welt im e-Estonia-Showroom, Foto: Annika Haas (EU2017EE)
Schöne neue Welt im e-Estonia-Showroom | Foto: Annika Haas (EU2017EE)
Nur: In Deutschland scheint das keinerlei Auswirkungen zu haben. Die Mobilfunknetze und die Geschwindigkeit des Internets sind selbst in Ballungsräumen oft miserabel, überall stehen Fax-Geräte herum (Gab es die in Estland überhaupt mal? Ich habe in über zwei Jahren kein einziges gesehen.) und ständig bekommt man analoge Post von Behörden. Während das estnische Parlament seit 2000 (!) papierlos arbeitet, werden in den deutschen Parlamenten noch immer Kuriere mit Aktenordnern (und ganz vereinzelt mit diesen neumodischen CDs) von Büro zu Büro geschickt. In Tallinn findet man an sehr vielen Orten kostenloses und offenes WLAN, sogar am Strand. Wer in Deutschland ein freies WLAN einrichtet, gilt mindestens als leichtsinnig, denn so ein offenes Netz zieht die Cyberkriminalität bekanntlich an wie das Licht die Motten. Das Internet besteht in der deutschen öffentlichen Wahrnehmung hauptsächlich aus Teufelszeug: Waffen- und Drogenhandel im Darknet, Pornos überall und dann auch noch Facebook.

Wenn die politischen Delegationen aus Deutschland hier zu Besuch sind, sind sie ganz sicher beeindruckt. Aber warum geht es dann in Deutschland nicht auch mal voran mit der Digitalisierung?

Erste Theorie: Ihr zeigt zwar gern euren schicken und bestimmt sauteuren Showroom und prahlt entgegen eurem Naturell ein wenig mit den beachtenswerten Leistungen der estnischen IT- Szene. Wenn es aber um konkrete Fragen zur Umsetzung der Digitalisierung geht, werdet ihr wieder sehr estnisch zurückhaltend und einsilbig.

Zweite Theorie: Eure deutschen Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen hören einfach nicht zu. Das relativ kleine Estland dürfte dem einstigen Wirtschaftswunderland Deutschland in ökonomischen Kernkompetenzen wie Innovation und technologische Erneuerung inzwischen eine gute Dekade enteilt sein. Das heißt aber noch lange nicht, dass man eure Ratschläge nicht dennoch hochnäsig in den Wind schießen könnte.


Graue alte Welt im deutschen Büroalltag
Graue alte Welt im deutschen Büroalltag, Foto: flickr.com, Shal Farley | Foto: flickr.com, Shal Farley
Dritte Theorie: Den freundlich zur Verfügung gestellten Vorschlägen aus Estland würde man in Deutschland im Grunde gern folgen. Nach der Rückkehr aus Tallinn hat man sich sehr über die bereits eingetroffenen Mails mit den detaillierten Informationen gefreut. Aber die Datei-Anhänge werden immer noch geladen… das Netz ist schlicht zu schlecht. Vielleicht könntet ihr einen Brief hinüberschicken, ganz altmodisch. Oder wenigstens ein langes Fax. Dann sollte der digitalen Revolution in Deutschland nichts mehr entgegenstehen.
 
Es grüßt herzlich,
Martinus Mancha
 

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