Briefblog
Ruhe halten! Mütze auf!

Sag mal, Jaan ... ein Briefblog7
© Goethe-Institut Estland

Sag mal, Jaan Tamm, wie stehst du zu Kindern im öffentlichen Raum?

Meine Kindheit in der ostdeutschen Provinz war geprägt von einem tiefgreifenden Bruch. Ich meine damit gar nicht den Fall der Mauer oder die deutsche Wiedervereinigung. Das war mir mit vier, fünf Jahren herzlich egal. Nein, viel einschneidender war ein paar Jahre später das Auftauchen immer neuer Verbotsschilder, die seit Mitte der 1990er Jahre unser kindliches Leben mehr und mehr einengten. Plötzlich durfte zum Beispiel auf den Rasenflächen zwischen unseren Mehrfamilienhäusern kein Fußball mehr gespielt werden. Wir nutzten die Wäschestangen sehr gern als Tore, doch die Häuser und Grünanlagen gehörten jetzt Privatunternehmen, nicht mehr »dem Volk«, wie es zu DDR-Zeiten sehr euphemistisch geheißen hatte. Und diese Unternehmen wollten uns dort nicht. Die Anwohner*innen, die uns bisher zumindest toleriert hatten, wollten uns auch nicht mehr. Sie überwachten die Einhaltung der neuen Regeln und verscheuchten uns regelmäßig, da wir mit unserem Spielen und »Rumlungern« die heilige Friedhofsruhe der Wohnbezirke herausforderten. Auch auf den Parkplätzen war Spielen im Allgemeinen plötzlich untersagt, denn dort standen ja nun »richtige« Autos herum und nicht mehr nur Trabants. Es wurden sogar komplette, innerstädtische Waldstücke eingezäunt! Kilometerweit liefen wir durch den Wald, immer am Zahn entlang. Auch Spielplätze mit Zäunen drum gab es immer mehr: »Nur für Anwohner!«, während die öffentlichen Spielplätze mehr und mehr verfielen. Kurz: Der öffentliche Raum, den wir Kinder und Jugendliche zum Spielen und schlichten Existieren nutzen durften, wurde immer kleiner. Er wurde reglementiert und umzäunt und die Erwachsenen wunderten sich, dass unsere Ideen der Freizeitgestaltung nicht eben klüger wurden.

 

  • Spielgeräte am Kakumäe-Strand © Martinus Mancha

    Spielgeräte am Kakumäe-Strand © Martinus Mancha

  • Schön, schön ruhig © Martinus Mancha

    Schön, schön ruhig © Martinus Mancha

  • Nutzung auf eigene Gefahr © Martinus Mancha

    Nutzung auf eigene Gefahr © Martinus Mancha

  • Kind holt Mütze © Martinus Mancha

    Kind holt Mütze © Martinus Mancha

So war das, damals in der ostdeutschen Kleinstadt. Ich hatte dort alles in allem eine tolle Kindheit, aber eben häufig das Gefühl, im öffentlichen Raum bestenfalls geduldet zu sein, ein potentieller Störer in der öffentlichen Ruhe. Bis heute gelten die Deutschen – meiner Meinung nach völlig zu Recht – als wenig kinderfreundlich.

Du, lieber Jaan, bist dagegen stolz darauf, dass Estland so kinderfreundlich ist. Und die gesetzlichen  Regelungen sind es ja auch tatsächlich! Ein Jahr lang volle Gehaltsfortzahlung während der Elternzeit und die kostenlose Krankenversicherung für alle Kinder sind tolle Errungenschaften, von denen auch mein eigenes Kind profitiert.

Im Vergleich mit Deutschland gibt es zudem erstaunlich wenige Verbotsschilder, dafür selbst in Tallinn relativ viele Spielplätze. Eingezäunte Wälder sind mir auch noch nicht begegnet.
Und doch erinnert mich die hiesige Einstellung zu Kindern häufig an meine Jugend: Kinder werden als Herausforderung für die öffentliche Ordnung wahrgenommen, der man offenbar mit vielen ungeschriebenen Gesetzen begegnet, die keiner Verbotsschilder bedürfen. Das Wichtigste davon: Ruhe halten! So habe ich mich anfangs gewundert, wie mucksmäuschenstill die meisten Kinder hier in den Bussen und Bahnen sind – bis ich einmal miterlebte, wie Schulkinder in der Straßenbahn von einem Mann zusammengestaucht wurden, weil sie es gewagt hatten, sich ein wenig lauter zu unterhalten. Selbst auf Spielplätzen wird sich oft flüsternd mit den Kindern unterhalten. Als ob es ein Familiengeheimnis wäre, dass der Kleine den Sand besser nicht essen sollte.

Das zweitwichtigste Gesetz: Mütze auf! Kein Kind darf das Haus ohne Mütze auf dem Kopf verlassen. Selbst im Hausflur wurden wir von unseren sonst eher wortkargen Nachbarn schon dahingehend gemaßregelt, obwohl draußen Badewetter herrschte.
Dagegen kann es durchaus Spaß machen, den öffentlichen Nahverkehr Tallinns mit Kind zu nutzen, sobald man das Gedränge und die hohen Stufen am Einstieg erfolgreich überlebt hat. Häufig findet sich eine ältere Dame, die dem vom Busfahren genervten Kind die Zeit mit kleinen Albernheiten vertreibt und sich ehrlich freut, auch sich selbst das monotone Warten auf den Ausstieg angenehmer gestalten zu können.
Im Großen und Ganzen sind du, Jaan, und deine Leute schon recht kinderlieb. Die inoffizielle Mützenpflicht ist schließlich auch ein Zeichen von Fürsorge. Und wer weiß, welche lieben Worte ihr euren Kindern so ins Ohr flüstert, während sie gut bemützt und möglichst leise die Welt erkunden.

 
Es grüßt herzlich,
Martinus Mancha
 

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