Briefblog
Überwachte Öffentlichkeit

Sag mal, Jaan ... ein Briefblog8
© Goethe-Institut Estland

Sag mal, Jaan Tamm, fühlst du dich gut bewacht?

Egal zu welcher Uhrzeit und von welcher Seite ich mich der Tür des Hauses, in dem ich wohne, nähere – ich werde dabei immer beobachtet. Es sind aber keine besonders neugierigen Nachbarn, die hinterm Fenster hocken und sich den Tag mit Schmalspur-Spionage vertreiben, wie ich es aus der deutschen Provinz kenne. Vielmehr sind es Überwachungskameras, die stumm und reglos jeden meiner Schritte registrieren, sobald ich vor die Tür trete.

Keine Angst, ich bin nicht der Paranoia verfallen und weiß daher, dass die Kameras dort nicht meinetwegen hängen, sondern vornehmlich die Schaufenster der Läden überwachen, vor denen sie installiert sind. Sehr wahrscheinlich schaut sich auch niemand niemals die Aufnahmen an, wie ich im Nieselregen Einkäufe nach Hause schleppe. Und wenn doch: mein Beileid.

 

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    Wer überwacht die Überwacher? (Kameras auf dem Rathaus) © Martinus Mancha

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    Sieht harmlos aus, kann aber mächtig zubeißen. © Martinus Mancha

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    Irgendwas im Fokus. © Martinus Mancha

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    Kaum sichtbar... © Martinus Mancha

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    ... aber doch sehr nah! © Martinus Mancha

Tallinns Zentrum ist voller Überwachungskameras und alle, nicht nur ich, werden auf Schritt und Tritt gefilmt. Auch in deutschen Städten gibt es immer mehr Kameras. Viele von ihnen werden von den Sicherheitsbehörden angebracht, vorgeblich um den öffentlichen Raum sicherer zu machen. Dabei ist seit Jahren klar, dass Kameras nicht zwingend zu einem Rückgang der Verbrechensraten führen. Stattdessen schaffen sie im besten Fall ein Gefühl von Sicherheit. Vor allem aber verändern sie unser Verständnis von öffentlichem Raum.
 

Sag mal, Jaan ... ein Briefblog8.6
Überwachte Armut statt Hilfe aus der Armut © Martinus Mancha | © Martinus Mancha

Ist die Zeit, in der wir uns frei und wahlweise anonym durch die Stadt bewegen konnten, vorbei? Haben wir uns (wieder) daran gewöhnt, dass wir ständig unter Beobachtung stehen? Früher, in der DDR respektive Sowjetunion war man vor dem wachsamen Auge des Staatsapparates nie sicher. Und heute? Müssen wir, die wir in soliden Demokratien leben, keine Angst vor staatlicher Überwachung haben? Dass ein politisches System aber auch schnell kippen kann, zeigt allein der Blick in andere europäische Staaten. Was als gefährlich gilt, kann sich rasch ändern. Wie groß muss die Portion Vertrauen (bzw. Gutgläubigkeit) sein, um nicht zumindest eine potenzielle Gefahr in der bald lückenlosen Überwachung des öffentlichen Raums zu sehen? Wirst du, lieber Jaan, all die Kameras mit anderen Augen sehen, wenn du irgendwann zufällig in ihren Fokus rückst? Aufgrund einer Verwechslung vielleicht oder weil du zur falschen Zeit am falschen Ort bist?

Der öffentliche Raum hat noch ein anderes Problem: Er wird immer kleiner. Und das liegt nicht an der Kontinentaldrift, sondern an der fortschreitenden Privatisierung vormals öffentlicher Plätze und Grundstücke. Private Sicherheitsunternehmen übernehmen mehr und mehr Polizeifunktionen, inklusive der Kameraüberwachung, ganze Plätze und Parks werden privaten Regeln unterworfen – und nicht mehr den allgemeinen Gesetzen. Ein eindrückliches Beispiel sind die Bahnhöfe und  Bahnhofsvorplätze in Hamburg. Um sich den Touristen aus aller Welt hübsch zu präsentieren, wird   dort seit Jahren privates »Recht« durchgesetzt, gern auch handgreiflich. Von privaten Wachleuten. »Wer nicht ins Bild passt, soll gehen«, wurde das in der Zeitung Die Zeit genannt. Aber wer bestimmt, wer verschwinden soll aus dem privaten oder öffentlichen Raum?

Und wer überwacht eigentlich die Überwacher, lieber Jaan?

 
Es grüßt herzlich,
Martinus Mancha

 

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