Februar 2019
Etüden im Schnee: Memoiren eines Eisbärs

Book Cover: Memoirs of a Polar Bear
Cover © Portobello Books

Als ich Yoko Tawadas Etüden im Schnee noch einmal gelesen habe, um mich auf diesen Artikel vorzubereiten, erkannte ich, dass ich – indem ich den Roman für den Blog ausgewählt habe – mir selbst ins Bein geschossen habe: Düster aber witzig, mit einem sozialen Realismus, der von traumähnlichen Sequenzen aufgebrochen wird, ist dieses Buch wie kein anderes, das ich je gelesen habe.

Etüden im Schnee, dessen englische Übersetzung (Memoirs of a Polar Bear, von Susan Bernofsky) den Warwick Prize for Women in Translation gewonnen hat, wirkt fast wie drei separate Novellen, die von unterschiedlichen Generationen derselben Eisbärenfamilie erzählen: eine ungewöhnliche
Memoirenschreiberin, die der Sowjetunion entfliehen muss; ihre Tochter Tosca, eine begabte Zirkusartistin in der DDR; und Knut, das berühmte Eisbärenjunge des Berliner Zoos, das Anfang der Nullerjahre die internationalen Medien im Sturm eroberte. Wie sollte man bitte dieses ungewöhnliche aber großartige Buch mit einem anderen vergleichen?

Ein möglicher Vergleich wäre Nächte im Zirkus: Rau, sinnlich und beunruhigend ist Nächte im Zirkus wohl Angela Carters beliebtester Roman – mit gutem Grund. Das Buch erzählt die Abenteuer eines Zirkus zur Jahrhundertwende, auf der Reise von London nach Sankt Petersburg und anschließend durch die Steppe Sibiriens. Im Mittelpunkt des Romans steht Sophie Fevvers, eine Luftakrobatin, deren sichtbare Flügel viele Gerüchte provozieren. Der Roman tastet auch nach den Verbindungen zwischen den Zirkustieren und deren Menschen und Carters magischer Realismus irritiert nicht nur Leser_innen sondern auch Figuren – mit Uhren, die mehrmals Mitternacht schlagen und Spielzeugzügen, die sich in ihre echten Äquivalente verwandeln.

Leser_innen, die sich bei den düsteren Aspekten von Carters Büchern etwas unwohl fühlen, werden erleichtert feststellen, dass in Tawadas Text Carters Sadismus nicht zu finden ist. Stattdessen hallt die Cartersche unkonventionelle Art, Geschichten zu erzählen, in Etüden im Schnee nach. Immer wieder irritiert der Roman mit Momenten der Versetzung und wechselnden Perspektiven: Tosca, z.B., lernt es nie, die menschliche Sprache zu sprechen, während ihre Mutter ein erstaunlich „menschliches“ Leben führt – trotz ihres ungelegen großen Appetits und einer Vorliebe für die Kälte. Statt aus dem Gleichgewicht gebracht zu werden, erhält der Roman durch diese Widersprüche eine traumähnliche Stimmung, die im zweiten Teil des Buchs verstärkt wird, als Tosca und ihre Trainerin Barbara hauptsächlich durch Träume kommunizieren.

Diese skurrile Stimmung wird mit wunderschönen Beobachtungen und Beschreibungen verwoben (ich mochte besonders gerne die „rosige Stimme mit vielen Dornen“ eines aalglatten Aktivisten). Mit Witz gespitzt werden sie, wenn die ungewöhnlichen Blickwinkel der Bären das Alltägliche entfremden: Ein Bär versteht Krankheit als eine traditionelle Form des Theaters, das Büroarbeiter immer wieder Montags aufführen.

Etüden im Schnee verwebt Mitgefühl und Humor miteinander und entwirft eine unheimliche aber irgendwie vertraute Reise durch die vergangenen fünfzig Jahre und fragt dabei, was es eigentlich bedeutet, Mensch zu sein.

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