Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Interview
Im Gespäch mit Christine Sun Kim: Teil 1

Ein Foto von Christine, die draußen mit einer Sonnenbrille sitzt
Mark Abramson

Da Christine Sun Kims erste Sprache die Amerikanische Gebärdensprache (ASL) ist, sind viele ihrer früheren Werke eine Hommage an ihre persönlichen Erfahrungen als Taube* Person – Kim setzte die ASL, Körpersprache sowie grafische und musikalische Notationen als Mittel ein, um ihre Vorstellungen und ihre Beziehung zu Sprache als Taube* Person zum Ausdruck zu bringen. Ihre Kunst ist geprägt durch schwarz-weiße, skizzenhafte Wandbilder, die mithilfe von Richtung Bewegung und Klang evozieren.
 
In den letzten Jahren ist Kim von der Klangkunst zu neuen Interessengebieten übergegangen und hat damit ihre Vielseitigkeit demonstriert. Auch wenn sich die Visualität ihrer Werke zu verändern beginnt, kreisen sie weiterhin um das Thema Sprache und werfen Fragen darüber auf, wie wir miteinander kommunizieren, vor allem aber, wie wir unsere Kommunikation verbessern können.
 
Darüber wollten wir mehr erfahren und haben uns Ende Januar mit Kim und der Dolmetscherin Denise Kahler-Braaten getroffen und über Kims Erwartungen an die Residenz in London, unverhoffte Berliner Liebesgeschichten und darüber gesprochen, was es bedeutet, einen Platz für sich zu reklamieren.
 

Von Lucy Rowan

Wir freuen uns sehr, Sie als zweite Teilnehmerin unseres gemeinschaftlichen Residenzprogramms begrüßen zu dürfen. Auch wenn das sehr nach einem Interview klingt: Was hat Sie dazu bewogen, diese Residenz anzunehmen, und welche Erwartungen haben Sie daran?
 
Zunächst einmal bin ich nicht gerade ein großer Fan von Residenzen. Das liegt daran, dass es schwierig ist, zusätzliche Unterstützung zu bekommen, wenn man eine Familie oder eine Einschränkung hat. Normalerweise habe ich Residenzen abgelehnt, weil ich meine Familie nicht einfach einen Monat oder zwei Monate allein lassen kann. Hier in London haben sich das Goethe-Institut und das Somerset House zusammengetan. Da dachte ich mir: „Wow! Warum probiere ich das nicht einfach mal aus?“ Ich war ganz aufgeregt. Seitdem ich hier bin, also seit zwei Wochen, werde ich überall herzlich aufgenommen. Alle unterstützen uns nach Kräften. „Was können wir tun?“ „Wie können wir euch den Aufenthalt angenehmer gestalten?“ Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen. So habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Na ja, außer vielleicht in den USA. Aber jetzt wohne ich in Berlin, wo die Kinderbetreuung zwar großartig ist, aber ich diesbezüglich schon einen großen Unterschied wahrnehme.
 
Um den anderen Teil Ihrer Frage zu beantworten. Ich trage eine Idee mit mir herum, die ich schon lange ausarbeiten wollte, aber mir haben schlichtweg der richtige Ort, die Mittel oder die Zeit dafür gefehlt. Ich glaube, jetzt ist vielleicht der passende Moment gekommen. Wissen Sie, manchmal gönne ich mir eine kurze Pause von Berlin, weil mir das hilft, mich besser zu konzentrieren – ich bin viel weniger durch den Alltag abgelenkt, wo ich ständig etwas erledigen muss. Ich freue mich also wirklich sehr, hier zu sein und mich in Ruhe auf etwas konzentrieren zu können. Und dass meine Familie hier ist, ist toll. Das macht es noch besser!
 
Diese Residenz soll Künstler*innen, die derzeit in Deutschland leben, mit der Kulturszene hier in Großbritannien in Kontakt bringen. Was hat Sie dazu gebracht, abgesehen von Ihrer Residenz 2008, sich in Berlin niederzulassen? Warum haben Sie sich entschieden, dort zu bleiben?
 
Thomas (mein Partner) ist Deutscher. Als ich 2008 in Berlin war, sind wir uns nicht begegnet. Bei meinem zweiten Aufenthalt in Berlin wurde ich zu einer Performance eingeladen. Dort habe ich ihn kennengelernt. Wir haben uns auf Anhieb verstanden und ich beschloss, diesen Schritt zu gehen. Also habe ich mein Leben in New York an den Nagel gehängt und bin nach Berlin gezogen. Ich halte eigentlich nicht viel davon, wegen der Liebe alles aufzugeben. Aber manchmal passiert das einfach. Gut, dass es funktioniert hat, oder? *lacht*
 
Wie gefällt Ihnen Ihre Arbeit und Ihr Leben in London bisher? Wie sieht es hier im Vergleich zu den USA und Europa aus, insbesondere in Bezug auf Barrierefreiheit?
 
Ich hatte Glück. In Europa gibt es nur sehr wenige qualifizierte ASL-Dolmetscher*innen, davon aber eine ganze Reihe in London. Daher konnte ich mir eher vorstellen, hier eine Residenz anzunehmen. Ich wusste, dass ich hier die Möglichkeit habe, während meines Aufenthalts auf diese Ressourcen zurückzugreifen. Daher bin ich zu dem Schluss gekommen, dass London für mich wunderbar geeignet ist.
 
Und das zur richtigen Zeit – ich hatte das Gefühl, dass ich eine Auszeit von Berlin brauche. Etwas Abwechslung tut gut. Außerdem ist es schön, dass die Leute hier Englisch sprechen, so dass ich einfach schriftlich Fragen stellen und kommunizieren kann. Wir haben Roux schon für ganz viele Kurse angemeldet, zum Beispiel für brasilianisches Jiu-Jitsu – das findet sie super!
 
Seit ihrer Geburt reisen wir als Familie. Jetzt, wo sie fünf Jahre alt ist, denke ich, dass sie vielleicht in dem Alter ist, wo sie die Erinnerungen daran behält und auf diese Momente zurückblicken kann. Es ist eine sehr aufregende Erfahrung für sie. Sie fragt ständig, ob wir mit dem Doppeldeckerbus fahren oder dieses oder jenes tun können. Sie will alles, was hier geboten wird, auskosten. Im März übernachten wir im Londoner Zoo und schauen uns dort die Tiere bei Nacht an. Ich freue mich schon sehr auf diesen Ausflug.
 
Es ist schön zu hören, dass Sie trotz Ihrer früheren Aufenthalte in London immer wieder etwas Neues entdecken. 2019 haben wir Ihr Art-Night-Projekt „We Mean Business“ gefördert, im Rahmen dessen Sie eine Reihe ortsspezifischer Auftragsarbeiten geschaffen haben. War das Ihre erste Zusammenarbeit mit Kindern? Und sind Sie dabei auf Schwierigkeiten gestoßen?
 
Das ist bis heute eines meiner Lieblingsprojekte! Ich habe nicht oft die Gelegenheit, mit einer Gruppe Tauber Kinder zu arbeiten, und die große Spruchtafel, die in der Gehörlosenschule entstanden ist, wurde gleich um die Ecke aufgestellt.
 
Außerdem glaube ich, dass es in London eine ganze Reihe sehr guter ASL-Dolmetscher*innen gibt, was in Europa selten ist! Es ist nicht einfach, qualifizierte ASL-Dolmetscher*innen aufzutreiben, daher war es toll, auf diese Ressource zurückgreifen zu können. London war auch die erste Stadt, die ich außerhalb der USA besucht habe. Da war ich achtzehn und habe versucht, mir die britische Gebärdensprache (BSL) anzueignen und Leute kennenzulernen. 2019 unterhielt ich mich mit den Kindern der Frank-Barnes-Schule mit einem ASL/BSL-Dolmetscher und erfuhr, dass sie sich den Ort mit einer anderen Schule teilen und die Pausen auf demselben Hof verbringen. Die Kinder haben mir erzählt, dass sie gern mehr mit den anderen unternehmen würden, die aber leider keine Gebärdensprache könnten.
 
Das hat mich wirklich getroffen, und ich fühlte mich in meine Kindheit zurückversetzt. Als ich in ihrem Alter war, ging es mir genauso. Ich habe mich gefragt, ob sich in all den Jahren denn gar nichts geändert hat. Seitdem sind gut fünfunddreißig Jahre vergangen. Ich erinnere mich, wie ich als Kind dachte: „Wenn die anderen Gebärdensprache könnten, würde es mehr Spaß machen, wir könnten zusammen spielen.“ Das ist mir wirklich nahe gegangen und hat mich sehr zum Nachdenken gebracht. Die daraus entstandene Idee habe ich in einem Satz ausformuliert. Ich habe überlegt, wie wir ihn ein bisschen nett verpacken, aber unsere Botschaft dennoch klar vermitteln können. Ich musste den richtigen Ort dafür finden. Und ich glaube, das ist gelungen!
 
In Ihrem TedTalk „The enchanting music of sign language“ (Die zauberhafte Musik der Gebärdensprache) von 2015 haben Sie geschildert, wie Sie „das Besitzrecht am Klang für sich reklamiert und in Ihre künstlerische Praxis eingebracht“ haben. Wie sieht es acht Jahre später damit aus? Wie hat sich diese Idee in Ihrem künstlerischen Schaffen manifestiert?
 
Das war damals wohl ziemlich geradezu und schlicht. Ich habe versucht, meinen Platz zu finden und mich in der Welt zu orientieren. Es gab wirklich keinen Platz für mich. Überhaupt keinen. Ich habe mir überlegt, wie ich meine Erfahrung – meine Erfahrung als Taube Person – geltend machen kann. Aber das war vor acht Jahren, ich glaube, das habe ich jetzt hinter mir gelassen.
 
Ich bin an einem Punkt, an dem ich meinen Platz gefunden habe. Ich weiß genau, was ich will, ich mache mir keine Gedanken mehr über Besitzansprüche. Aber es geht immer noch viel um mein Narrativ – viel um das Aushandeln. Die Arbeit mit Dolmetscher*innen ist ein Teil davon. Es schwingt immer noch mit, aber jetzt postuliere ich auch: „Hey, hallo. Hier bin ich! Das ist mein Platz!“ Deshalb konzentriere ich mich jetzt auf andere Themen, die ich interessant finde.
 
Was sind das für Themen?
 
Eigentlich wollte ich mich ein bisschen mehr mit dem Thema Familie befassen. Als Künstlerin habe ich den Eindruck, dass die Mutterschaft im Allgemeinen nicht gut beschrieben ist. Es gibt viele Mütter, die durch das System fallen – sie bekommen nicht genügend Unterstützung, sodass sie keine Zeit zum Arbeiten haben und ihnen Chancen entgehen.
 
Es muss sich nicht auf Mutterschaft beschränken. In meiner Kindheit hatte ich das Gefühl, mit den gleichen Einschränkungen konfrontiert zu sein. Vielleicht ist das ein bisschen klischeehaft, aber ich erlebe, wie sich andere mittlerweile sehr durchdacht damit auseinandersetzen. Deshalb würde ich gern mehr von dieser Erfahrung in die Community einbringen. Mein Kind ist jetzt fünf Jahre alt und ich glaube, viele dieser Themen kommen gerade auf – zum Beispiel Sprache, Kultur und der Besuch einer neuen Stadt. Ich glaube, dass ich in all diese Erfahrungen tiefer eintauchen und das in meiner Arbeit ausloten muss.
 
Apropos Familie: Ihre Tochter Roux und Sie gestalten für uns eine neue Fahne, die vor dem Goethe-Institut London aufgehängt werden soll. Wie ist es dazu gekommen? Was haben Sie beide für uns im Sinn?
 
Im Moment habe ich eine Einzelausstellung, „Cues on Point“, die im Februar in der Wiener Secession eröffnet wurde und zu der auch eine Publikation erscheint. Als ich 2010/11 auf die Graduiertenschule kam, hatte ich die Idee dazu, aber irgendwie habe ich nie den richtigen Ort für deren Umsetzung gefunden. Ich wollte ein Buch mit meinen Freund*innen und meiner Familie gestalten und sie Seiten mit Notenlinien entwerfen lassen. Wer das Buch erwirbt, kann dann darin Noten aufschreiben.
 
Ich habe meiner Tochter davon erzählt und ihr erklärt, wie es funktioniert. Sie hat im Handumdrehen eigene Notenlinien gezeichnet und mit Noten verziert. Einige davon sind herzförmig, andere mit Blumen geschmückt … Und dann, als wir vor zwei Wochen hier ankamen und unsere Sachen verstaut haben, fiel Tom und mir der Fahnenmast draußen auf. Wir sahen uns an und dachten. „Das wäre doch cool, wenn wir aus einem Notenblatt eine Fahne machen könnten!“ Mit gefällt die Vorstellung, Dingen eine neue Bedeutung zuzuschreiben. Normalerweise steht eine Fahne für eine Nation oder ist Teil eines Wettbewerbs, wodurch sie in gewisser Weise politisch konnotiert ist. Aber wie wäre es mit einer fröhlichen Fahne, die auf unsere Residenz Bezug nimmt? Als ich Roux fragte, worum sich ihre Zeichnung dreht, antwortete sie: „In diesem Lied geht es um Familie.“
 
Also haben wir Julia und Mario aus der Programmabteilung unseren Vorschlag unterbreitet, und sie waren einverstanden! Mal schauen, wie sich die Fahne letztlich gestaltet. Wir können es kaum erwarten, Roux’ Arbeit dort oben zu bewundern. Vielleicht ist das ja ihr erstes Solowerk?
 
 

Top