Filmvorführung Une Jeunesse Allemande - Eine deutsche Jugend

FFD 2017_Eine deutsche Jugend © Local Films_Alina Film_Blinker Filmproduktion

11.12.2017
13:00 Uhr

Jean-Gabriel Périot, Farbe u. s/w, 93 Min., 2014/15

Filmvorführung im Rahmen von Festival Film Dokumenter (FFD) Yogyakarta 2017

Ein Rückblick auf die Bundesrepublik Deutschland der sechziger Jahre und die Entwicklung der Terror-Organisation RAF (Rote Armee Fraktion).
Der französische Regisseur verwendet ausschließlich Archivmaterial, verzichtet auf jeden zusätzlichen Kommentar; seine Position ist in der Montage zu finden, die Dokumente aus dem „Untergrund“ konfrontiert er mit den Darstellungen in den Medien. So entsteht ein Kaleidoskop der Widersprüche; dem Zuschauer selbst bleibt die Aufgabe, Antworten und Erklärungen zu finden.

Die eingangs aus dem Off gestellten Fragen sind rhetorisch und pure Provokation: „Ist es möglich, heutzutage in Deutschland Filme zu machen? Ist es möglich, von einem philosophischen Standpunkt aus? Ist ein Deutscher in der Lage, ein Bild zu machen? Das werden wir am Ende dieses Films wissen!“ Es folgen Hinweise auf zwei konträre Positionen: Die Internationale erklingt: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde...“ Ein Mann zielt mit einem Revolver in Richtung Kamera. Dann der Hinweis: „Vor 20 Jahren stand die deutsche Jugend stramm“, zu den Erinnerungen im Bild gehört auch Archivmaterial von den berüchtigten Bücherverbrennungen 1933.

Was ist aus Deutschland seit der NS-Diktatur geworden? Wie entstand die Protestbewegung der sechziger Jahre? Auf der Straße streiten die Menschen. Einer versucht, die 6 Millionen Opfer des Holocaust zu relativieren: es habe auch 10 Millionen tote Deutsche gegeben. Der alte Rassismus ist noch in den Köpfen; noch immer gelten die deutschen Juden nicht als Deutsche. Ein anderer älterer Mann auf der Straße schimpft auf die kritische Jugend. Klar, dass sich diese irgendwann gegen jenen Ungeist, der sogar noch die 50er Jahre überlebt hatte, energisch zur Wehr zu setzen begann.

Berlin 1965: Die Proteste der Studenten sind militant geworden. Sehr selbstbewusst verteidigt die spätere RAF-Terroristin Ulrike Meinhof, damals Chefredakteurin der Zeitschrift Konkret die wachsende Gewaltbereitschaft – vor allem angesichts einer Elterngeneration und einer Kirche, die durch ihre Rolle im NS-Staat jedwede Glaubwürdigkeit verloren hätten. Und sie klagt über die immer noch sehr autoritäre Erziehung in der Gesellschaft. Damals war sie ein gefragter Gast in Talkshows und Politmagazinen, wie es hier Ausschnitte aus Panorama belegen. Leider weist der Filmemacher selbst die Herkunft seiner Filmclips erst im Abspann nach, es sei denn, sie wären schon im Archivmaterial selbst belegt. Ebenso verzichtet Jean-Gabriel Périot darauf, die Personen im Bild zu identifizieren. Das macht den vor allem wegen seiner auf pure chronologische Strukturen verzichtenden Film nicht einfacher.

Im Mittelpunkt stehen die Proteste, die von der 1966 gegründeten Berliner Film- und Fernsehakademie (DFFB) ausgingen. Der später nach einem Hungerstreik im Gefängnis verstorbene Kameramann und Filmemacher Holger Meins hatte dort studiert, ebenso Hartmut Bitomsky, Christian Petzold, Christian Ziewer, Thomas Mitscherlich. Sie hatten ihrerseits Kontakt zu Ulrike Meinhof, die zeitweise selbst als Filmemacherin tätig war, oder zu Gudrun Ensslin, die damals in einem Film der DFFB mitspielte. Ziel der Studentenproteste war vor allem die mächtige Springer-Presse, die mit DIE WELT und BILD, vorsichtig gesagt, eine überaus konservative Politik betrieb und sich gegen alles richtete, was „links“ war.

Für weitere Eskalationen sorgte der Besuch des Schahs von Persien (1967), bei dem es die Polizei zuließ, dass mutmaßliche Mitglieder des persischen Geheimdiensts auf die protestierenden Studenten einprügeln konnte. Während der Demo wurde des Student Benno Ohnesorg erschossen – von einem West-Berliner Polizisten, der viele Jahre später als Stasi-IM enttarnt wurde. UNE JEUNESSE ALLEMANDE wird zum Dokument einer nicht mehr zu stoppenden Eskalation, zu der auch die Gerichte beitragen, weil sie nicht wahrhaben wollen, dass keiner der Angeklagten sie noch ernst nimmt. Auch der Vietnamkrieg und die Proteste gegen die USA tragen zu dieser Entwicklung bei. Erst zeigt sich die gewachsene Militanz in Attacken auf Objekte wie das Springer-Gebäude in Berlin, dann richtet sie sich auch gegen Personen. Der Studentenführer Rudi Dutschke rät, nicht länger nur passiv zu protestieren; in der Bundesrepublik brennen bald zahlreiche Kaufhäuser, dann wird der Terrorist Andreas Baader mit Waffengewalt aus der Haft befreit. Die Gegenseite arbeitet mit infamen Hetz-Kampagnen, zum Beispiel gegen den Schriftsteller Heinrich Böll, gegen Autoren, Theologen und überhaupt gegen Intellektuelle. 1972 wird ein großer Teil der RAF-Mitglieder festgenommen, 1976 werden die Inhaftierten tot in ihren Zellen in Stuttgart-Stammheim aufgefunden. 1977 entführen Terroristen eine Lufthansa-Maschine, sie wird in Mogadischu von einer deutschen Spezialeinheit befreit. Und das Volk fordert, man möge die Terroristen allesamt abknallen. Périot hat nach eigener Aussage über tausend Stunden Material gesichtet. „Indem ich ausschließlich Material nutze, das die 'Protagonisten' selbst geschaffen haben oder das sie zeigt, umgehe ich auch die Psychologisierung, den Versuch, ihr Handeln zu erklären... Mein Anliegen ist es, die Tür zu einer vollständigeren Diskussion zu öffnen über das Wesen der Taten und unserer eigenen Menschlichkeit.“ Was anfangs leicht nachzuvollziehen ist, nämlich der Zorn einer jungen Generation auf die Erben des NS-Staats, und auch dessen Eskalation, überfordert dann mehr und mehr, fast unmerklich, die Grenzen des Verständlichen. Ulrike Meinhof hatte erklärt, Polizisten seien keine Menschen, sondern Schweine, und auf sie könne geschossen werden. Die Opfer der RAF belegen, dass dies nicht einfach eine verbale Provokation war. Und wenn man in dem Statement „Polizisten“ einfach mit „Juden“ austauschen würde, käme ans Licht, dass sich ein Kreis geschlossen hat. Die RAF ist in ihrem Spätstadium einem System nahegekommen, das einst der Ausgangspunkt der Proteste war, dem Faschismus.

UNE JEUNESSE ALLEMANDE enthält Belege aus zahlreichen Fernsehsendungen und Ausschnitten aus Filmen von Hellmut Costard, Ulrike Meinhof, Holger Meins, Helke Sander, Thomas Giefer, Helma Sanders-Brahms, Jean-Luc Godard, Michelangelo Antonioni, Rainer Werner Fassbinder u.v.a.


Biografie

Jean-Gabriel Périot wurde 1974 in Bellac (Frankreich) geboren. Er studierte Visuelle Kommunikation und absolvierte ein Praktikum am Centre Pompidou. Er arbeitet als Video-Künstler, Kameramann, Cutter und Regisseur. Nach zahlreichen Kurzfilmen ist UNE JEUNESSE ALLEMANDE Périots Langfilm-Debüt.
 

Filmografie (Auswahl)

2002 AVANT J'ETAIS TRISTE
2004 WE ARE WINNING
2005 UNDO
2006 NIJUMAN NO BOREI
2007 ENTRE CHIENS ET LOUPS
2009 LES BARBARES
2012 THE DEVIL
2014/15 UNE JEUNESSE ALLEMANDE

Hans Günther Pflaum, 04.02.2016

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