Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Shift Society
Retweeten und Erinnern: Der digitale Umgang mit dem Holocaust

Besucher*innen mit Audioguides in Yad Vashems Holocaust History Museum in Jerusalem, Israel.
Besucher*innen mit Audioguides in Yad Vashems Holocaust History Museum in Jerusalem, Israel. | Foto (Detail): NIR ELIAS © picture alliance / REUTERS

Was macht das digitale Zeitalter mit der Erinnerung an den Holocaust? Der Überlebende Abba Naor, der Germanist Ernst Hüttl, der Pressemitarbeiter der Auschwitz Gedenkstätte Pawel Sawicki und die Abiturientin Emely Fuchs erzählen von Erfahrungen, Chancen und Risiken.

Von Elisa Jochum


Der runde Tisch

Sehr geehrte Runde, zu Beginn die Frage: welche Erfahrungen haben Sie insbesondere in der digitalen Erinnerungsarbeit gesammelt?

Ernst Hüttl:
Ich arbeite an der Ludwig-Maximilians-Universität München und bin Mitglied einer Projektgruppe, die derzeit zwei Programme zur digitalen Erinnerung entwickelt. Eines davon, LediZ (Lernen mit digitalen Zeugnissen), erstellt auf Deutsch interaktive, dreidimensionale Zeugnisse von Holocaustüberlebenden. Herr Naor hat an diesem Projekt teilgenommen. Das 3-D-Zeugnis kommt dem nahe, was man sich unter einem Hologramm vorstellen würde (eine tatsächliche holografische Technologie, die es Besucher*innen erlaubt, ihre Perspektive auf die Projektion zu ändern und sich um sie herumzubewegen, existiert außerhalb der virtuellen Realität noch nicht). Das andere Projekt, an dem ich – im Hintergrund – beteiligt bin, arbeitet an einer App, mit der man eine Führung auf dem Gelände der Münchner Universität machen kann, wo die Widerstandskämpfer*innen der Weißen Rose aktiv waren.

Die Collage zeigt Abba Naor in einem Sessel sitzend, und in der 3-D-Präsentation im Sessel sitzend. Abba Naors Zusammenarbeit mit LediZ; Fotos (Details): © Bright White Ltd Abba Naor:
Bei mir ist die Sache mit den Zeugnissen ein bisschen anders. Denn ich muss mich nicht daran erinnern oder noch einmal zuhören. Ich habe ja nicht vergessen. Ich gehöre zu denjenigen, die das Ganze sehr aktiv mitmachen mussten – leider. Das ist der Unterschied zwischen mir und den anderen, die an dieser Runde teilnehmen. Ich nehme an, sie sind ein paar Jahre jünger als ich. Deswegen fühle ich mich darin bestätigt zu erklären, wie es war. Wie lebte man damals? Wie ganz zufällig haben manche doch überlebt.

Emely Fuchs:
Ich freue mich sehr, mit Ihnen an diesem Gespräch teilnehmen zu können. Ich bin momentan 17 Jahre alt und werde in ein paar Monaten 18. An meiner Schule, dem Geschwister-Scholl-Gymnasium Lebach, bin ich Mitglied einer Arbeitsgemeinschaft zum Thema Erinnerungsarbeit.

Pawel Sawicki:
Ich arbeite in der Gedenkstätte Auschwitz, wo es zuallererst um die authentische Stätte und die Menschen geht, die sie besuchen. Das ist weit von etwas Digitalem entfernt, denn Authentizität ist entscheidend. Jedes Jahr besuchen mehr als zwei Millionen Menschen die Gedenkstätte, aber irgendwann wurde uns bewusst, dass viele nicht persönlich kommen können. Eines der daraus hervorgegangenen Programme, an dem ich beteiligt war, war die virtuelle Führung auf unserer Website. Sie zeigt nicht die Ausstellungen, sondern hebt die Stätte und ihre Geschichte hervor. Wir haben diese digitalen Bilder mit pädagogischen Materialien ergänzt: historischen Informationen und Zeugnissen.

Ich bin seit Beginn meiner Tätigkeit in der Gedenkstätte an unserer Öffentlichkeitsarbeit in den sozialen Medien beteiligt, die wiederum ein ganz eigener Bestandteil unserer Mission ist, weil wir hier mit der Öffentlichkeit in Dialog treten und nicht nur mit unseren Besucher*innen.

Eine dritte digitale Komponente an der Gedenkstätte Auschwitz sollte auch nicht vergessen werden: das sogenannte digitale Archiv. Archivar*innen gehen jedes einzelne Dokument durch, das wir haben, digitalisieren es und versuchen, Informationen über die Identität jeder einzelnen Person zu finden, die in den Materialien Erwähnung findet, egal, ob diese Erwähnung ein Name, eine Lagernummer, ein Geburtsdatum oder ein anderes persönliches Detail ist.
________________________________________________________________________

Erinnerung in 3-D

Lassen Sie uns über 3-D und VR in der Erinnerungsarbeit sprechen. Dazu gehören die zuvor angesprochenen 3-D-Zeugnisse, die LediZ ermöglicht. Auch die USC Shoah Foundation ist sehr aktiv in diesem Bereich. Sie hat virtuelle und interaktive Zeugnisse mit Holocaustüberlebenden geschaffen sowie einen Virtual-Reality-Film, in dem Zuschauer*innen den Überlebenden Pinchas Gutter begleiten können, wie er zum Konzentrationslager Majdanek zurückkehrt. Welche Chancen eröffnen gerade 3-D- und VR-Technologien für das Erinnern? Sehen Sie auch Risiken? Oder: welche ethischen Fragen gilt es, bei dieser Repräsentation zu beachten?

Pawel Sawicki:
Es kommen ständig Firmen auf die Gedenkstätte Auschwitz zu, die eine weitere virtuelle Führung erstellen möchten, bei der die Besucher*innen die Stätte mit einem Gerät begehen könnten. Wir lehnen diese Angebote ab. Menschen sollen ihren Besuch in Auschwitz nicht damit verbringen, auf einen Bildschirm zu starren. Sie sollen den Ort sehen. Die Museumsführer*innen und die Ausstellung sollen ihnen lediglich dabei helfen, die Authentizität dieses Ortes zu begreifen. Die einzige Ausnahme sind QR-Codes, die wir an mehreren Stellen angebracht haben, damit Besucher*innen den Stimmen von Überlebenden zuhören können, die über den jeweiligen Ort sprechen, an dem die Besucher*innen gerade stehen.
 
Im Moment haben wir die Ehre, in Herrn Naor einen Holocaustüberlebenden zu treffen, aber solche Gespräche werden in zwanzig Jahren nicht mehr möglich sein. Alle Institutionen stehen vor der Herausforderung, so viele Zeugnisse wie möglich zu sammeln. Daraufhin stehen wir vor der nächsten Herausforderung, nämlich wie wir diese Zeugnisse einsetzen.

Pawel Sawicki:
credit
 

Emely Fuchs:
Ich stimme Herrn Sawicki in vielen Punkten zu. Museumsführer*innen oder Expert*innen sollten Virtual-Reality-Anwendungen begleiten und Tipps geben. Aber es ist extrem wichtig, die Erinnerungen und Emotionen von Holocaustüberlebenden zu bewahren, denn ich glaube, dass das der einzige Weg ist, Menschen in der heutigen Zeit emotional zu berühren. Die junge Generation verliert ihre emotionale Verbindung zu dieser Zeit. Wenn junge Menschen dank VR oder anderen Aufnahmemedien Überlebende sehen können, nehmen sie sie als Personen und nicht nur als Geschichten wahr. Sie bauen eher eine persönliche Verbindung zu ihnen auf. Da ist VR vielversprechend.

Ernst Hüttl:
 

Abba Naor:
Wir erleben heute Dinge, die man sich gar nicht vorstellen konnte: dass 75 Jahre nach dem Krieg wieder ein neuer Antisemitismus lebendig geworden ist. Also, man darf darüber reden, man darf wieder ein bisschen wütend sein. Deswegen sage ich immer zu meinen Glaubensgenoss*innen: Macht euch keine Sorgen. Man wird nicht auf uns verzichten, weil man immer jemanden zum Hassen braucht. Und wir sind noch immer da. Gerade heute, gerade für die Jugend, ist es wichtig, dass diese paar Überlebenden noch aus erster Hand erzählen.
 
Im Jahr besuche ich zwischen 80 und 90 Schulen in Bayern. Die Anfragen nehmen immer mehr zu, obwohl die Lehrer*innen am Anfang nicht sehr begeistert waren, dass ein Zeitzeuge kommt, um seine Geschichte zu erzählen. Heute ist vieles anders. Die Schulen sind offener, die Lehrer*innen sind offener. Unsere Zeit ist ja eigentlich fast schon vergangen. Die Zeit, solange es noch Überlebende gibt, muss ausgenutzt werden. Man kann viele Bücher schreiben, man kann aus dritter Hand erzählen, aber das ist nicht dasselbe. Unser Erzählen ist ein lebendiges Erzählen. Wie anders das ist, merke ich an den Reaktionen der Schüler*innen, der Lehrer*innen und an ihren Fragen.
 
Ich will hoffen, dass Besucher*innen des Projektes LediZ auch authentische Antworten auf ihre Fragen bekommen. Es gibt schließlich auch einen Riesenunterschied zwischen den ehemaligen Häftlingen und den Historiker*innen. Manchmal hat man ein wenig das Gefühl, die Historiker*innen möchten einen so schnell wie möglich loswerden, damit sie auch zu Wort kommen.

Ernst Hüttl:

(Soziale) Medien und der Holocaust

Denken Sie, dass die sozialen Medien einen geeigneten Rahmen für die Erinnerung an den Holocaust bieten? Ist eine der Plattformen hier besonders wertvoll? Und umgekehrt, können bestimmte Netzwerke dem Gedenken nicht gerecht werden?

Abba Naor:
Ich möchte gerne etwas zu Medien im Allgemeinen sagen. In jeder Schule, in die ich komme, ist auch ein*e Journalist*in da. Schreiben die, was sie gehört haben, glaubt Ihr das? Die schreiben genau, was sie schreiben wollen. Die wichtigen Punkte findet man meistens danach nicht in der Zeitung. Man sieht eine Geschichte und ein Bild: Ich war da. Der beziehungsweise die Journalist*in war da. Nehmen wir auch einmal das Beispiel Bücher. Es gibt so viele zum Holocaust. Kann man heute in einen Buchladen in Deutschland gehen und ein Buch einer beziehungsweise eines Holocaustüberlebenden finden? Man muss ein Exemplar bestellen und es dauert ein paar Wochen, bis man es bekommt. Ich sage immer: Wäre ich ein Komödiant gewesen, würden meine Bücher wahrscheinlich im Schaufenster liegen. Ich kann nicht sagen, dass die Medien und diejenigen, die damit zu tun haben, sehr großes Interesse zeigen.

Emely Fuchs:
Was die sozialen Medien angeht, so denke ich, dass sie das Potenzial haben, den Erinnerungsprozess zu unterstützen. Auch wenn immer ein Risiko besteht, dass jemand soziale Medien missbraucht, sind sie der einfachste Weg, jüngere Generationen zu erreichen. Die meisten jungen Leute lesen heute keine Zeitungen oder gucken Fernsehnachrichten. Sie sind den ganzen Tag auf ihren Handys oder anderen mobilen Geräten.

Pawel Sawicki:
Meine älteren Kolleg*innen haben mir erzählt, dass es damals eine Debatte darüber gab, ob die Gedenkstätte Auschwitz überhaupt eine Website haben sollte. Heute erscheint diese Frage absurd. Wir hatten dieselbe Diskussion, als wir 2009 auf Facebook als erstem unserer Social-Media-Portale anfingen. Ich bin überzeugt, dass man soziale Medien nutzen kann, um Erinnerung weiterzugeben und zu gedenken. Manche Plattformen eignen sich besser für Livestreams, andere für Interaktion oder Bilder. Verschiedene Netzwerke erlauben unterschiedliche Mengen an Text. Man muss diese Sprache erst lernen, aber wir können den sozialen Medien nicht entrinnen. Wie wir von Frau Fuchs gehört haben, ist die Welt der Kommunikation dort verortet, und zwar nicht nur für junge Leute. Wir sollten uns der Grenzen, Schwachstellen und Herausforderungen bewusst sein, aber wenn jemand nach Informationen zur Gedenkstätte Auschwitz sucht, sollten wir präsent sein. Wenn ich sehe, dass unsere Tweets im Monat des 75. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz fast 250 Millionen Impressionen erhielten, ist mir bewusst, dass manche Twitternutzer*innen es dabei belassen, den Post zu lesen, aber dieser Tweet kann andere dazu bringen, weitere Fragen zu stellen.

Pawel Sawicki:
Facebook-Post von Pawel Sawicki mit dem Wortlaut: „Holocaustleugnung, Hassrede – wann immer ich unter unseren Beiträgen in den sozialen Medien einen antisemitischen Kommentar sehe, entferne ich ihn, blockiere und melde den bzw. die Autor*in; genau wie an der physischen Gedenkstätte, wo ich jemanden, der sich respektlos verhält, auffordern würde, zu gehen. Interessanterweise sprechen wir dabei von einer sehr geringen Anzahl von Leuten. Die meisten Nutzer*innen möchten Teil dieser Gemeinschaft sein, möchten mitmachen, lernen – und sie selbst schützen diese virtuelle Welt. Sobald ein problematischer Beitrag auftaucht, wenden sie sich an uns. Wir sehen hier den wahrhaft sozialen Aspekt der sozialen Medien.“ Foto (Detail): © Facebook-Kanal Goethe-Institut Hier geht’s zum Facebook-Post
 

Hashtag Auschwitz?

Twitter ist eines der sozialen Medien, die Hashtags ermöglichen. Sie fungieren als digitale Schlagwörter, die ein mit diesem Hashtag versehenes Thema auf der Plattform suchbar machen. Dieses Prinzip wirft zwei Fragen auf.

Erstens, was ist Ihre Meinung zu Hashtags wie #Auschwitz? „Instrumentalisiert“ dieser Hashtag den Begriff zum Zwecke der Suchbarkeit, verwandelt er ihn in ein Mittel zum Zweck, und ist das angemessen? Im Januar 2020, wenige Tage vor dem 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, zeigte Twitter in der rechten Plattformspalte „Trends für Dich“ an, darunter „Trends in Deutschland: #Auschwitz“. Sehen Sie diese Darstellung als ein legitimes Mittel an, um öffentliches Bewusstsein zu schaffen? Oder verkürzt hier ein Algorithmus auf automatisiertem Wege die Auseinandersetzung auf wenige und vielleicht zu wenige Stichworte?

Zweitens können auch Antisemit*innen und Neonazis diese Hashtags verwenden. Twitter würde diese Posts undifferenziert neben solchen von Gedenkstätten und Überlebenden anzeigen – es sei denn, es hat sie als missbräuchlich erkannt. Technisch und visuell würde die Plattform die Tweets erst einmal gleichberechtigt an Leser*innen ausspielen. Welche ethischen Konsequenzen ziehen Sie daraus? Wäre die Schlussfolgerung, einmal bewusst provokativ formuliert, dass man die missbrauchten Hashtags nicht mehr nutzen sollte? Oder machen es die Vergehen nicht umso wichtiger, diese Hashtags zu verwenden, um dem Missbrauch ein Gewicht entgegenzustellen? Um die Macht über die Bedeutung und den Kontext der Worte zurück zu beanspruchen?


Ernst Hüttl:
Ernst Hüttl:
Sie haben noch angesprochen, dass es als Trend auftauchte. Es ist erst mal irritierend, dass Auschwitz so bezeichnet wird, aber ein*e Nutzer*in versteht vermutlich, dass gerade einfach ein Diskurs stattfindet. Wird hier ein Wort instrumentalisiert? Ich würde sagen, so funktioniert Sprache. Sprache funktionalisiert eigentlich immer. Man produziert Laute, man deutet auf Konzepte hin. Wie gesagt, wesentlicher ist, was Verfasser*innen in ihren Posts mit dem Hashtag sagen.

Pawel Sawicki:
Das sehe ich auch so. Wenn mein Twitter-Konto mir sagt, dass Auschwitz in Deutschland oder Polen ein trendender Hashtag ist, nehme ich das als Zeichen dafür, dass etwas im Gange ist – dass es eine öffentliche Debatte gibt. Wir können eine ähnliche Diskussion darüber führen, ob man bei der Gedenkstätte Auschwitz auf „Gefällt mir“ klicken oder unter unsere Beiträge ein Herz setzen sollte. Soziale Medien wurden nicht ausschließlich für diese schwierige Geschichte geschaffen. Wir müssen einfach die Bedeutung der jeweiligen Funktionen und Handlungen verstehen. Für uns heißt „Gefällt mir“ also „Ich vergesse nicht“; ein Hashtag ist ein Mittel, mit dem Menschen Informationen sammeln und mit dem wir verfolgen können, wie sich Erinnerung in der virtuellen Welt verbreitet – wie sich die Öffentlichkeit erinnert. Ich sehe keine Instrumentalisierungen oder Mangel an Respekt. Wenn Menschen respektlos sein möchten, wenn Menschen instrumentalisieren möchten, dann werden sie es tun – ob sie dieses bestimmte Mittel zur Verfügung haben oder nicht.

Abba Naor:
Viel habe ich zu diesem Thema eigentlich nicht zu sagen. Ich bin ja ein ganz einfacher Mensch. Ich bin zufällig dabei, weil es noch einen Überlebenden gibt. Meine Universität war das Lager. Ich will nicht sehr in solche Themen hereingezogen werden. Ich kann nur mit meinen Erlebnissen und meinen heutigen Aktivitäten einbezogen werden und hier die Konsequenzen ziehen. Das andere, das sollen die Jungen machen. Ich bin froh, dass die nächste Generation sich überhaupt damit beschäftigt. Es war am Anfang nicht so, und je weniger Überlebende da sind – es sind ja eigentlich schon fast keine mehr da –, desto mehr beschäftigen sich die Historiker*innen mit diesen Sachen. Auch das Publikum wird entsprechend größer. Man sieht es als einen Teil der Geschichte an. Ich kann das nicht. Ich begann das Ganze völlig anders. Es ist kein Teil der Geschichte; es ist Teil dessen, was Menschen erlebt haben.

Emely Fuchs:
Zu den digitalen Schlagwörtern möchte ich hinzufügen, dass sie, gerade wenn sie als Trends auftauchen, Leute erreichen können, die sich vorher nicht mit der Thematik auseinandergesetzt haben. Oder sie erinnern solche, die in diesem Moment nicht daran gedacht haben. Vielleicht denken sie: „Das sollte ich mir doch einmal angucken.“ Daher sind die Hashtags durchaus wichtig.

Ernst Hüttl:
Bei der zweiten Frage zur Nutzung durch Neonazis und Anti-Semit*innen bin ich nicht sicher, ob ich eine abschließende Antwort habe. Auch wieder aus linguistischer Sicht gesprochen: Bedeutung ergibt sich durch Verwendung. Bei Hashtags wie #Auschwitz oder #Holocaust kann man nicht sagen: Wir geben diesen Begriff oder diese Sprache auf, die gehört jetzt den Nazis. Man müsste aber prüfen: Ist ein Hashtag intrinsisch oder in seinem Ursprung problematisch? Ich denke da etwa an #AllLivesMatter, der als Gegenbewegung zu #BlackLivesMatter aufkam. Da kann man sagen: Dieser Hashtag ist qua Geburt vergiftet, den möchte ich nicht verwenden.

Pawel Sawicki:
Zunächst einmal können wir Antisemit*innen, Neonazis und anderen Hasser*innen nicht die Kontrolle darüber geben, wie wir arbeiten. Wenn wir hier versagen, wenn wir sagen, dass wir uns nicht äußern werden, weil sich sonst Antisemit*innen oder Neonazis einmischen könnten, dann bedeutet unsere Arbeit nicht allzu viel. Es ist nicht angemessen, etwa mit Holocaustleugner*innen zu diskutieren, denn das würde heißen, dass wir sie mit der Institution auf eine Stufe stellen. Stattdessen sollten wir so viel Inhalt wie möglich bereitstellen. Ich würde gerne auf einen weiteren schwierigen Aspekt hinweisen …

Pawel Sawicki:
Pawel Sawicki:
Ich kann jemanden blockieren und melden, aber ich kann eine Person nicht von Twitter oder Facebook entfernen. Die Plattformen schon. Das ist ein allgemeineres Thema. Die Sprache dieser Firmen hat sich über die Jahre hinweg verändert. Zu Anfang lehnten sie jegliche Verantwortung für das, was die Leute schreiben, ab. Sie haben sich nun dahingehend bewegt, dass sie die Tatsache anerkennen, dass ihre Netzwerke dazu benutzt werden können, andere zu manipulieren und Fake News zu verbreiten. Hinzu kommt, dass sich das europäische, insbesondere das deutsche Vorgehen gegenüber Holocaustleugner*innen stark vom amerikanischen unterscheidet – aufgrund des ersten Verfassungszusatzes und dem entsprechenden Verständnis der Redefreiheit. Und die Firmensitze von Social-Media-Unternehmen befinden zum Großteil in den USA.

Abba Naor:
Was den Antisemitismus anbelangt, muss ich sagen, das ist überhaupt nicht mein Problem, sondern das der Antisemit*innen. Die müssen uns noch anschauen. Die müssen mit diesem Hass leben. Ist es leicht, mit Hass zu leben? Glaube ich kaum.

Instagram und die „schönen Bilder“

Für Instagram hat sich eine eigene Reihe an Assoziationen ausgebildet. Oft verbinden Menschen mit der Plattform „schöne Bilder“. Eine weitverbreitete Konnotation ist, dass Leute sich dort in Szene setzen und Filter hinzuziehen, um perfekt aussehen. Instagram ist bei Influencer*innen beliebt, die häufig – wenn auch nicht immer – einen Lifestyle und Mode bewerben. Welchen Einfluss haben diese Assoziationen darauf, die Plattform auch in den Dienst der Erinnerungsarbeit zu stellen?
 
Ein bekanntes kontrovers diskutiertes Beispiel, bei dem Instagram Bewusstsein fördern sollte, ist Eva.Stories aus dem Jahr 2019. Das Projekt geht der Frage nach: „Was, wenn ein Mädchen im Holocaust Instagram gehabt hätte“? Eva Heyman war eine ungarische Jugendliche, die von den Nationalsozialist*innen ermordet wurde und ihr Tagebuch hinterließ. Die Israelis Mati und Maya Kochavi – Vater und Tochter, die Familienmitglieder im Holocaust verloren – haben Evas Tagebuch für Instagram adaptiert. Sie haben dabei auf typische Stilelemente wie Emojis und Selfie-Videos zurückgegriffen. Ziel der Macher*innen ist, junge Menschen zu erreichen, indem sie genau in der Sprache mit ihnen sprechen, die jene selbst verwenden – die das tägliche Leben Jugendlicher definiert und zu ihnen durchdringen kann.


Emely Fuchs:
Ich kannte Eva.Stories bis zur Vorbereitung auf dieses Gespräch nicht. Ich bin auf Instagram nicht wirklich aktiv, aber andere an meiner Schule hatten auch noch nicht davon gehört. Ich habe mir den Account Eva.Stories jetzt angesehen. Es war ein bisschen seltsam, ein Mädchen, das im Stil der 1940er Jahre gekleidet ist, Emojis posten zu sehen. Ich habe auch viele der Kommentare darunter gelesen und zahlreiche junge Menschen schrieben, dass sie zu ihr einen Draht hatten, wie sie das bei Geschichte zuvor noch nie erlebt hatten, obwohl sie in der Schule bereits Bücher wie das Tagebuch der Anne Frank gelesen hatten. 

Ernst Hüttl:
Nur so viel dazu: Instagram funktioniert nicht wie Youtube, das Nutzer*innen zufällig oder gemäß eines Algorithmus Videos vorschlägt. User*innen auf Instagram erhalten in einem Feed Posts von den Leuten, denen sie folgen. Wenn manche nur Bilder von Models, Sternchen und Influencer*innen bekommen, sagt das vielleicht vor allem etwas über sie selbst aus.

Emely Fuchs:
Das war auch eines der Probleme, dass viele mir schilderten: Sie kommen auf Instagram nicht mit Erinnerungsarbeit in Kontakt, außer sie beschäftigen sich aktiv damit. Initiativen wie Eva.Stories bekommt man dann gar nicht mit.

Jugendliche „im Durcheinander Online“

Teenager und junge Erwachsene in einer Reihe von Ländern inklusive Deutschland verfügen laut Studien oft nur über ein geringes Wissen zum Holocaust. Welche Tipps würden Sie jungen Menschen geben, die online recherchieren und darüber lernen möchten – vielleicht ohne großes Vorwissen? Wie sollten Sie prüfen, dass sie es mit seriösen Quellen zu tun haben?

Pawel Sawicki:
Meine Empfehlung ist, dass sie damit anfangen, eine Stelle zu suchen, die verlässliche Quellen bietet. Das mag ein nahegelegenes Holocaustmuseum oder eine Gedenkstätte sein, das mag eine Universität sein. Viele dieser Institutionen haben auch eine Onlinepräsenz. Du kannst ihnen emailen, Du kannst auf die Webauftritte zugreifen, Du kannst anfangen, Fragen zu stellen. Das ist einer der Gründe, warum wir in den sozialen Medien vertreten sind, und die Gedenkstätte Auschwitz war die erste, die das getan hat. Wir hatten den Eindruck, dass Menschen in den sozialen Medien nach Informationen über Auschwitz suchen und dabei vielleicht auf Seiten landen, denen es an Respekt mangelt oder die keine korrekten historischen Fakten liefern. Wir beschlossen, dass wir als Orientierungshilfe präsent sein mussten. Wir sind da, um zu helfen.
Die breitere Frage – und eine enorme Verpflichtung – ist, wie das Bildungssystem jungen Generationen Methoden vermittelt, um im Durcheinander online zu recherchieren, in dem die Wahrheit zur Herausforderung wird.

Abba Naor:
Ich habe einen praktischen Vorschlag für die Jugend von heute. Sie sollen mein Buch kaufen: Ich sang für die SS. Darin können sie sehr viel über den Holocaust lernen. Nur so ein kleines Commercial.

Emely Fuchs:
 

Abba Naor:
Ich frage mich, wie es sein wird, wenn keine Überlebenden mehr da sind. Hat die Menschheit wirklich daraus gelernt? Wird überhaupt noch darüber geredet? Da ich viel mit Kindern konfrontiert bin, kann ich sagen, dass sie sehr hohes Interesse zeigen. Was geschieht, wenn sie älter werden? Ich weiß es nicht. Ich kann heute bei den Kindern, vor allem den Mädchen sehen, wie sie bei meinen Erzählungen vor mir sitzen und weinen. Wird es auch so sein, wenn sie erwachsen sind? Wenn niemand aus erster Hand erzählen kann? Auch denke ich immer: Glauben die Kinder mir überhaupt? Klingt das glaubwürdig, wenn ein*e Zeitzeug*in erzählt, was er oder sie in einem Lager erlebt hat? Ich weiß es nicht. Ich bin ja nicht auf der anderen Seite.

Emely Fuchs:
Ich finde das sehr bemerkenswert, was Herr Naor gerade gesagt hat, dass er sich als Überlebender Gedanken macht, ob andere seine Geschichte auch so wahrnehmen und überhaupt glauben. Ich denke, es ist ein sehr berührender Moment, die Worte eines oder einer Überlebenden zu hören. Natürlich glaubt man der Person. Man ist mit ihr in einem Raum, sie ist real. Sie erzählt in genau diesem Moment, was sie durchgemacht hat. Der oder die Überlebende ist ja selbst emotional berührt und in der Begegnung kann man diese Emotionen auffangen. Zuhörer*innen werden stärker eingebunden als wenn sie nur etwas zu der Geschichte lesen.

Manipulierte Ansichten

An das Thema der Quellen schließt sich die Frage nach der digitalen Fotografie und Videografie an: Beide Technologien erleichtern es enorm, visuelles Material zu bearbeiten. Dieses Mittel wird in der Erinnerungsarbeit teilweise bewusst herangezogen. Shahak Shapiras Yolocaust prangert die Praxis an, an Gedenkstätten Freizeit-Schnappschüsse für Soziale Medien zu machen. Er hat Selfies von Menschen am Denkmal für die ermordeten Juden Europas auf Fotos von Konzentrationslagern platziert. Aber auch Antisemit*innen können sich Methoden digitalen Editierens relativ einfach zu Eigen machen und Bilder manipulieren. Ein Beispiel ist das Foto Anne Franks, das Neonazis in Deutschland – vermutet in der Hooliganszene – in Trikots gegnerischer Fußballmannschaften montierten, was Herrn Naors Worte über den derzeit ansteigenden Antisemitismus noch einmal veranschaulicht. Was sind Ihre Einschätzungen und Vorschläge zum Umgang mit digitaler Manipulation?

Pawel Sawicki:
Manipulierte Quellen gibt es seit Anbeginn der Menschheit. Wir müssen analysieren, ob eine Montage despektierlich ist. Das ist nicht automatisch der Fall. Jede Technologie lässt sich sachgemäß, aber auch unsachgemäß nutzen. Das werden wir nicht ändern. Hasser*innen wird es immer geben. Wir müssen Wege finden, uns ihnen entgegenzustellen, aufzuklären, zu kämpfen. Wir können es mit dem Gebrauch eines Messers vergleichen, diesem uralten Werkzeug der Menschheit. Man kann damit Brot schneiden und man kann mit demselben Messer jemanden aus Hass umbringen. Die Motivation einer Person ist entscheidend und man muss diejenigen festnehmen und verurteilen, die ein Messer dazu benutzen, andere anzugreifen. Manchmal können wir rechtliche Schritte gegen digitalen Missbrauch unternehmen, aber das ist nicht so einfach. Wir sollten Werkzeuge haben – juristische Werkzeuge, Meldewerkzeuge –, denn ich bin zutiefst davon überzeugt, dass das, was Hasser*innen und Antisemit*innen tun, nicht nur furchtbar ist, sondern in vielen Fällen auch illegal. Was die in Herrn Shapiras Projekt eingebundenen Selfies betrifft, denke ich, wir sollten das Bewusstsein der Menschen dafür schärfen, wie respektvolles Gedenken aussieht. Natürlich ist das komplex: Das Selfie ist die visuelle Sprache unserer Zeit und nicht jedes Selfie ist problematisch.

Ernst Hüttl:
 

Hin zu einem Internet mit einem Gewissen

Was muss die Zukunft bringen? Wie kann eine Erinnerungsarbeit mit einem Gewissen und, in diesem Zusammenhang, ein Internet mit einem Gewissen aussehen? Gibt es ein Projekt, das Sie gerne in der Zukunft realisiert sehen würden?

Abba Naor:
Mir ist wichtig, diese Vergangenheit an die junge Generation weiterzugeben. Sie soll ihnen eine Lehre im Hinblick darauf sein, was geschehen kann, wenn man falschen Prophet*innen zuhört. Gegenwärtig machen falsche Prophet*innen wieder allerlei Versprechungen. Die Jugend von heute hat ein besseres Leben verdient. Ihre Vorfahren mussten einen teuren Preis für diese Dummheiten, die damals gemacht worden sind, bezahlen.

Emely Fuchs:
​​​​​​​
Pawel Sawicki:
Erinnerung ist entscheidend. Ein Bewusstsein dafür, warum das damals passiert ist, ist entscheidend. Zudem sollten wir anfangen, über die Kernfrage der menschlichen Verantwortung zu sprechen: Wenn wir etwas über die Geschichte lernen, sind wir unbeteiligte Beobachter*innen vergangener Ereignisse. Auch bei heutigen Entwicklungen, die im Namen derselben hasserfüllten Ideologien geschehen wie vor 80 Jahren, sind wir unbeteiligte Zuschauer*innen. Die neue Herausforderung für unsere Institution liegt in beidem: die wichtige Aufgabe zu erfüllen, Fakten, Daten und Namen zu vermitteln, und den Zusammenhang zwischen dieser Geschichte und der heutigen Verantwortung der Menschen herauszustellen. Soziale Medien und neue Technologien sind ein weiterer Werkzeugsatz, den wir uns dienstbar machen müssen. Aber der Auftrag bleibt derselbe: der Opfer zu gedenken, ihre Geschichten zu vermitteln und die konkrete Relevanz der Vergangenheit für die Menschen von heute begreiflich zu machen.

Abba Naor:
Noch ein kleiner Zusatz. Obwohl ich heute schon 92 Jahre alt bin und trotz allem, was ich erlebt habe, muss ich sagen: Leben ist eine feine Sache. Man soll damit nicht leichtsinnig umgehen. Ich rede jetzt vor allem zu den jungen Leuten. Sie sollen das Leben genießen und das Beste daraus machen.

Ernst Hüttl:
Ich kann Herrn Sawicki nur zustimmen. Es geht um die Frage: Was hat das mit mir zu tun? Wie können wir einen Gegenwartsbezug herstellen? Können wir zu Empathie, einem Perspektivwechsel und Selbstreflexion anregen? Umgekehrt sollte die zukünftige Erinnerungsarbeit kein Schwarz-Weiß-Denken und kein „Othering“ hervorbringen. Mir persönlich wäre wichtig, dass sie den Menschen den Raum gibt, in der Weise zu gedenken, die sie für sich als richtig empfinden. Keine Skripte vorgeben. Deshalb sehe ich das Projekt Yolocaust eher kritisch, weil es relativ starre Verhaltensregeln fixiert und diese auch mit einer Form von Public Shaming  durchzusetzen versuchen, anstatt Gründe zu hinterfragen. Etwa: Warum stößt die Selfie-Praxis an? Ich spreche mich für einen offenen Raum aus, der vielleicht sogar Fehler zulässt.

Pawel Sawicki:
Eines ist in unserer Diskussion klar: Egal, welche Werkzeuge wir benutzen, die Worte und Geschichten der Überlebenden sind der Kern der Erinnerungsarbeit. Noch haben wir Überlebende, die mehr hinzufügen können. Wir brauchen Menschen. Was weitere Ansätze für die Zukunft angeht, denke ich an die Institutionen auf der ganzen Welt, die in den letzten 75 Jahren unzählige Seiten und Aufnahmeminuten gesammelt haben. Wir werden sie unaufhörlich nutzen. Aber diese Sammlung ist nach wie vor weit verstreut. Wenn es ein Projekt gibt, von dem ich träume, dann ist es die digitale Zusammenführung dieser Datenbanken, die Forscher*innen, Pädagog*innen und Schüler*innen weltweit Zugriff auf weitere Erzählungen aus erster Hand geben. Wir sollten uns darauf konzentrieren, zusammenzuarbeiten und Material zu teilen. Es wird lange dauern, aber es ist es wert.

Ernst Hüttl:
Ich denke an zwei konkrete Projekte. Das eine ist das Hologramm von Pinchas Gutter – es ist tatsächlich als Hologramm aufgezeichnet, aber im Moment existiert noch nicht die Technologie, es auch als solches wiederzugeben. Die Technik wird es in der Zukunft wahrscheinlich irgendwann geben. Überdies gibt es ein Projekt von Maiken Umbach und Gary Mills, zwei Professor*innen an der Nottingham University. Ich nehme an, dass sie es 2020 oder 2021 realisieren. Es modelliert historische, sprich zweidimensionale Fotografien als dreidimensionale Räume nach, in denen sich Besucher*innen via VR bewegen können. Oft haben Täter*innen diese historischen Fotografien aufgenommen. Wer sich jene in 2-D anschaut, wird in die Täterperspektive gezwungen. Der begehbare dreidimensionale Raum erlaubt einen Perspektivwechsel. Ich bin sehr gespannt auf dieses fantastische Projekt.

Emely Fuchs:
Ich möchte dafür plädieren, dass man Schulen stärker in die digitale Erinnerungsarbeit einbezieht beziehungsweise Schulen in höherem Maße die Verbindung zur digitalen Welt suchen. Denn die Schule ist der Ort, der junge Menschen am meisten mit dem Thema konfrontiert, wie bereits gesagt. Klassen könnten zum Beispiel Ergebnisse ihrer Projekte online veröffentlichen und so über die Schüler*innen andere Jugendliche erreichen, vor allem in sozialen Netzwerken wie Instagram.

Abba Naor:
Ich beschäftige mich die letzten 20 Jahre mit dem Holocaust, fast jeden Tag. Ich glaube, ich habe bereits alles ausprobiert. Ich hab schon alle möglichen Kinder getroffen, manchmal Gruppen von 500 Schüler*innen. Die Jugend, egal wo sie herkommt, egal welche Religion sie hat, sie nimmt diese Vergangenheit mit großem Respekt auf. Das beruhigt mich wirklich. Also, Mensch kann mit Mensch zusammenleben. Man muss nur den richtigen Draht zueinander finden.



Web-Realisation: Elisa Jochum, Svenja Hoffmann, Elisabeth Gschwandtner, Linda Hügel, Miriam Steller

Top