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Shift Society
Exklusive Inklusion?

Das Bild zeigt eine Schreibmaschine mit einem Blatt Papier, auf das Equality, das englische Wort für Gleichberechtigung, getippt worden ist.
Menschen mit Behinderungen müssen in vielen Bereichen de facto noch immer um Gleichberechtigung kämpfen, auch in einer Zeit digitaler Geräte und Möglichkeiten. | Foto (Detail): Markus Winkler © Unsplash

Warum ist das Internet immer noch voller Barrieren für Menschen mit Behinderungen? Oder stimmt das etwa nicht? NGO-Gründerin Tiffany Brar, Video-Influencer Daniel Jones, App-Entwickler Javier Montaner und Forscher Shai Fuxman diskutieren über das Spannungsfeld zwischen den digitalen Möglichkeiten und ihrer tatsächlichen Umsetzung – und was jede*r Einzelne in der Gesellschaft tun kann.

Von Elisa Jochum

Der runde Tisch

Im Mittelpunkt dieses Artikels stehen Ihre individuellen Erfahrungen und Stimmen zu digitaler Inklusion und Barrierefreiheit. In welchem Bezug stehen Sie dazu? 
 
Javier Montaner:
In unserem Sozialunternehmen Mouse4all arbeiten wir von Spanien aus an Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen – insbesondere Menschen mit körperlichen Behinderungen. Wir nähern uns der Welt der Inklusion dabei von technischer Seite. Wir gründeten das Unternehmen vor vier oder fünf Jahren, als uns bewusst wurde, wie viele Menschen vom digitalen Leben ausgeschlossen sind. Es sieht so aus, als hätten alle und alles zu mobilen Benutzeroberflächen gewechselt – zu Smartphones und Tablets; jede*r von uns nimmt WhatsApp oder Facebook in Anspruch. Aber manche Menschen wurden dabei außen vor gelassen. Wir versuchen, Menschen mit Behinderungen dabei zu helfen, auf alle derzeit verfügbaren Technologien zuzugreifen.
 
Daniel Jones:
Bei mir wurden das Asperger-Syndrom, ADHS, eine Zwangserkrankung (OCD) und Legasthenie diagnostiziert. Ich betreibe in Großbritannien einen preisgekrönten YouTube-Kanal mit 130.000 Abonnent*innen und ein größeres Social-Media-Outlet. Wir sind auf jeder verfügbaren Plattform vertreten. Wir betreiben die Webseite theaspieworld.com, aber alles darauf wandert in die sozialen Medien. Wir verbreiten Inhalte zu Bildungszwecken, insbesondere für Autismus-Spektrum-Störungen. The Aspie World ist eine digitale Marke. Ich erstelle Inhalte, bei denen ich aus meiner persönlichen Erfahrung heraus spreche, um Menschen oder ihren Kindern dabei zu helfen, Werkzeuge, Methoden und Hacks für ein Leben im Spektrum zu entwickeln. Wir produzieren jede Menge Inhalte – etwa zwanzig Beiträge pro Tag.
 
Shai Fuxman:
Ich forsche im Bildungsbereich, mit Fokus auf positiver Jugendentwicklung. Ich lebe in den USA und arbeite für das Education Development Center, eine globale Non-Profit-Firma. Ich habe auch einen ganz persönlichen Bezug zu dieser Arbeit. Ich habe eine Tochter im Autismus-Spektrum, die zudem Epilepsie hat. Als Elternteil begann ich mich insbesondere für die Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen zu interessieren. Als Forscher habe ich ihre Erfahrungen in den sozialen Medien untersucht. Ich habe mich zudem mit zwei Kolleg*innen zusammengetan, die ein Kind beziehungsweise einen Bruder mit Autismus haben. Wir arbeiten an der Entwicklung einer App namens Caregiver Navigator. Sie ist dazu gedacht, Eltern und anderen Menschen, die für Kinder mit Behinderungen in pflegenden und unterstützenden Rollen tätig sind, dabei zu helfen, sich im Bildungs- und Gesundheitssystem zurechtzufinden, das zumindest hier in den USA sehr kompliziert ist. Allein schon herauszufinden, wie man die richtigen Leistungen und Angebote für sein Kind sichern kann, ist ein Vollzeitjob. Der Stress und die Sorge gehen nicht spurlos an Eltern vorüber. Unsere App wird in Kürze zur Verfügung stehen. Ich bin schon gespannt, welchen Beitrag sie leisten kann.
 
Tiffany Brar:
Ich komme aus Kerala in Indien und bin vollkommen blind. Ich leite eine Non-Profit-Organisation, in der wir blinden Menschen soziale Kompetenzen vermitteln und sie im Umgang mit Technologie ausbilden. Wir arbeiten zudem mit der Regierung zusammen, um Barrierefreiheit und Inklusion in Indien zu fördern. Indien ist ein Entwicklungsland und Barrierefreiheit ist hier ein echtes Problem.

Wovon sprechen Sie?

Was bedeuten für Sie digitale Inklusion und Barrierefreiheit im Kontext von Behinderungen?
 
Daniel Jones:
 

Tiffany Brar:
Die drei wichtigsten Komponenten von digitaler Barrierefreiheit sind Inhalt, Navigation und Design. Wir müssen mithilfe unserer Screenreader alle Webseiten navigieren können. Videos sollten Untertitel und Audiodeskription besitzen. Darüber hinaus sind beschreibende Links essentiell und es sollte große Schriftgrößen und verpflichtende Alternativtexte für Bilder geben. Vor allem hier in Indien halten sich viele Dienste nicht an die Richtlinien für barrierefreie Webinhalte 2.0 oder 2.1. Nehmen wir nur mal Aarogya Setu, eine App, die die indische Regierung während der Covid-19-Krise entwickelt hat. Wenn wir versuchen, sie mit unseren Screenreadern zu lesen, stürzen diese ab. Menschen mit Behinderungen verstehen nicht wirklich, wenn man „Lesen Sie mehr“ oder „Klicken Sie hier“ sagt oder wenn der Screenreader plötzlich mitten auf der Seite zu funktionieren aufhört.
 
Wenn ich von digitaler Inklusion spreche, meine ich damit, dass Menschen mit Behinderungen von Anfang an in die Prozesse des App- und Webseite-Designs miteinbezogen werden sollten. Wenn das Design erst einmal feststeht, heißt es: „Oh, das ist nicht barrierefrei.“ Dann wird es für Entwickler*innen und Designer*innen sehr schwierig, sich noch einmal dran zu setzen und den Kern eines Produkts umzugestalten. In der Mehrzahl der Entwicklungsländer sucht man nach dieser Inklusion immer noch vergeblich.
 
Shai Fuxman:
Ich kann noch etwas zum sozialen Aspekt sowohl von Barrierefreiheit als auch von Inklusion hinzufügen. Mein Fokus liegt wie gesagt auf Jugendlichen. Während dieses Entwicklungsstadiums sind Beziehungen zu Gleichaltrigen extrem wichtig. Wie Javier sagte, findet heute vor allem für junge Leute ein sehr großer Teil des Lebens auf ihren Handys statt, sei es Snapchat, TikTok oder die neueste App. Für mich geht es bei digitaler Inklusion und Barrierefreiheit darum sicherzustellen, dass Kinder mit Behinderungen diese Apps nicht nur benutzen können, sondern dass sie ein Teil der Konversation sind – und dass wir Kindern beibringen, Menschen, die anders sind, zu akzeptieren; dass wir soziale Medien auf eine Art benutzen, die alle einschließt.
 
Javier Montaner:
Das Bild zeigt einen Screenshot von Javier Montaners Facebook-Post mit dem Inhalt: „Digitale Inklusion bedeutet, niemanden außen vor zu lassen. Es heißt, dass wir alle Zugang zu Mainstream-Tools und -Apps haben. Wir brauchen kein anderes Facebook oder WhatsApp. Der digitale Raum ist dann inklusiv, wenn alle dieselben Anwendungen benutzen können – egal, ob sie eine Behinderung haben oder nicht. Digitale Barrierefreiheit ist gleichbedeutend damit, Barrieren zu entfernen, seien sie körperlich oder kognitiv.“ © Goethe-Institut Sie können den Originalpost auf Facebook finden.

Alt bleibt neu? Von analogen zu digitalen Barrieren

Die Disability Community, Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen mit und ohne Behinderungen diskutieren eine Reihe von Ansätzen. In unterschiedlicher Terminologie und mit voneinander abweichenden Schwerpunkten stellen einige dieser Ansätze heraus, dass die bestehenden Barrieren für Gleichstellung und Inklusion Menschen mit Behinderungen nicht inhärent sind. Stattdessen stellen die gesellschaftlichen Strukturen diese Barrieren auf. In Zusammenhang mit unserer Diskussion ergeben sich daraus zwei wesentliche Fragen: die der Chancen und die neuer Risiken im digitalen Bereich. Wie trägt das Digitale einerseits dazu bei, Barrieren der analogen Welt einzureißen? Welche Möglichkeiten entstehen durch das Internet und digitale Geräte, die zuvor nicht existierten? Welche neuen Herausforderungen ruft das Digitale indessen auf den Plan?
 
Tiffany Brar:
Für mich als Person mit Sehbeeinträchtigung haben einige neue Online-Features begonnen, Barrieren abzubauen. Wenn man auf Facebook auf ein Foto stößt, sagt es beispielsweise: „Bild könnte enthalten vier Personen, stehend, Natur und Himmel.“ So bekommt man eine Vorstellung davon, um was für ein Bild es sich handelt. Aber Facebook ist nur in der mobilen Version, m.Facebook.com, barrierefrei, nicht im Desktop-Modus. Instagram ist überhaupt nicht barrierefrei. Auf WhatsApp können wir nicht auf Statusmeldungen antworten, wir können bestimmte Dinge nicht hören. In den sozialen Medien wimmelt es nach wie vor von Barrieren.
 
Javier Montaner:
Das Digitale eröffnet neue Chancen. Die Menschen mit körperlichen Behinderungen, mit denen wir arbeiten, waren immer auf jemand anderen angewiesen, der oder die bestimmte Tätigkeiten für sie übernahm. Aber wenn sie Zugang zur digitalen Welt haben, werden sie unabhängig. Sie können die Privatsphäre haben, die sie nie hatten, etwa ihre eigenen WhatsApp-Nachrichten schreiben und lesen. Manche Nutzer*innen können nicht lesen oder schreiben, kommunizieren aber mithilfe von Stickern und Emojis über Facebook. Das ist eine Möglichkeit, die die Technologie geschaffen hat.
 
Daniel Jones:
Ich kann mehrere Beispiele dafür nennen, wie die digitale Sphäre auf die analoge übergreift und Menschen mit Behinderungen hilft. Freund*innen von mir, die Rollstuhlfahrer*innen sind, setzen auf ihren Handys Karten ein, die rollstuhlgerechte Orte verzeichnen. Eine solche Karte sagt ihnen beispielsweise, welche Geschäfte rollstuhlgerecht sind, sodass sie nicht irgendwo landen, wo sie sie sich nicht bewegen können. Das gibt ihnen ein Stück Unabhängigkeit, weil sie auf niemanden zurückgreifen müssen, der oder die ihnen hilft. Sie können sich die Routen selbst zusammenstellen.
 
Ein weiteres Beispiel ist das Apple Wallet, das digital für Fahrkarten und Ähnliches bezahlt, direkt vom Handy aus. Dasselbe gilt für Uber. Menschen im Autismus-Spektrum haben Schwierigkeiten mit sozialen Kontakten. Daher kann es für sie hart sein, zum Hörer zu greifen und ein Taxi zu bestellen oder mit Geld umzugehen. Meine Freundin erledigt meine Finanzen, weil es für mich schwierig ist, Geld zu verwalten. Es kann sehr stressig sein, wenn man sich ad hoc damit auseinandersetzen muss, welches Geld man einer oder einem Taxifahrer*in geben oder eben nicht geben kann. Mit Apps wie Uber tippt man buchstäblich nur etwas ein, um jemandem zu sagen, wo man ist – man kann genau sehen, wo das auf der Karte ist –, man spricht nicht mit dem oder der Fahrer*in, man steigt hinten ein und PayPal kümmert sich ums Geld. Hier hat sich ein Modell digitaler Technologie in die analoge Welt integriert. 
 
Tiffany Brar:
Es gibt Barrieren, aber es liegt in unserer Hand, wenn wir sie ausräumen wollen. Vor zwei Tagen habe ich einen barrierefreien UNICEF-Onlinekurs zum Thema der Inklusion gemacht. Aber als ich heute Morgen an einem anderen UNICEF-Kurs über Kinderrechte teilnehmen wollte, stellten sie nur PDFs bereit, der Screenreader konnte den Text nicht navigieren und die Dokumente enthielten Unmengen an Bildern. Die UNO, die hinter der UNICEF steht, hat die BRK, das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, ratifiziert. Ihre eigenen Richtlinien erklären: Alles sollte barrierefrei sein. Warum bietet ihre Plattform einen Kurs an, der barrierefrei ist, und einen anderen, der es nicht ist? Wenn ein paar von uns ihnen jedoch schreiben und darauf hinweisen, dass nicht jede*r vollen Zugriff auf diesen Kurs hat und dass sie gemäß BRK Artikel 9 dazu verpflichtet sind, das zu ändern, werden sie anfangen, darüber nachzudenken. Menschen mit Behinderungen stoßen auf Barrieren und werden aktiv, um diese zu beseitigen.
 
Daniel Jones:
Aktuelle Daten zeigen, dass fünfzig Prozent aller Online-Suchen Voice-First-Suchen sind, sprich, die Menschen benutzen Amazon Alexa, Google Home Hub oder Siri. Ich optimiere alle meine Videos für Long-Tail-Keywords, für Voice-First-Technologie. Aber nicht nur das. Ich veröffentliche Inhalte als YouTube- und Facebook-Video. Alle haben Untertitel. Ich erstelle für Instagram zudem eine einminütige Version dieser selben Videos für Menschen mit ADS, die es nicht aushalten, einen zehnminütigen Clip anzuschauen. Sie möchten dieselben Informationen einem kürzeren Video entnehmen. Dann produziere ich einen Langform-Blogeintrag für Menschen, die vielleicht taub oder hörbehindert sind, sodass sie ihn lesen können, wenn das ihr bevorzugtes Format ist. Ich mache darüber hinaus einen Podcast für diejenigen, die womöglich blind oder sehbehindert sind. Zusätzlich haben wir das Alexa Skills Kit, sodass man einen kleinen Soundbite erhalten kann. Indem man Inhalte in jeder Form publiziert, deckt man alle diese Aspekte ab – und das ist wahre Barrierefreiheit.
 
Javier Montaner:
Barrierefreiheit heißt nicht, dass alle Inhalte für jede*n in derselben Form zugänglich sein müssen. Manchmal ist das technisch unmöglich, manchmal ist es zu teuer oder zu zeitaufwendig. Vielleicht habe ich eine kognitive Behinderung und muss nicht das ganze Buch genau so lesen, wie es der oder die Autor*in geschrieben hat. Ich muss es auf andere Art lesen. Barrierefreiheit ist für mich dann gegeben, wenn es eine Version des Buches gibt, die ich meiner kognitiven Situation entsprechend lesen kann. Künstliche Intelligenz macht in dieser Hinsicht sehr schnelle Fortschritte, beispielsweise automatische Untertitel oder die erwähnten Sprachinterfaces. Es ist unglaublich, wie diese sich in den letzten Jahren verbessert haben – wie Siri versteht, was ich sage, selbst wenn ich schlechtes Englisch und sehr leise spreche.
 
Shai Fuxman:

Beleidigungen, TikTok und die neuen Ausmaße des Mobbings

Shai, Sie erwähnten Cybermobbing bereits. Dabei geht es um Übergriffs- und Isolationserfahrungen im Netz. 2019 und 2020 berief sich die Videoplattform TikTok auf die Gefahren des Cybermobbings, um zu versuchen, ihre eigene Diskriminierung und den systematischen Ausschluss von Menschen mit Behinderungen, Mitgliedern der LGBTQIA+ Community und anderen zu rechtfertigen. Möchten einige von Ihnen Ihre Erfahrungen und Ansichten zu Cybermobbing näher ausführen – und dazu, wie es sich auf die Inklusion von Menschen mit Behinderungen auswirkt?
 

Shai Fuxman:
Soziale Medien sind für Jugendliche mit Behinderungen ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite finden sie online Unterstützung. Sie kommen in Kontakt mit Kindern, die so sind wie sie, und können mit ihnen eine Verbindung aufbauen, wie sie das in Person nicht könnten. Auf der anderen Seite zeigt unsere Forschung, dass Kinder mit Behinderungen mit höherer Wahrscheinlichkeit Cybermobbing erleben als Kinder ohne Behinderungen – und das führt auch zu Isolierung, Depressionen und Selbstmordabsichten. Wenn man in den sozialen Medien Beleidigungen postet, können Hunderte von Menschen diese sehen. Cybermobbing kann daher heftigere Auswirkungen haben als Mobbing in der analogen Welt. Die digitale Welt fungiert zudem als Zwischenglied: Weil wir uns nicht gegenüberstehen, wird es leichter, verletzend zu sein. Menschen sehen die Person nicht, über die sie sich lustig machen, und vergessen deshalb, welche Auswirkungen diese Übergriffe auf sie haben.
 
Shai Fuxman:
Das Bild ist ein Screenshot des ersten von zwei Tweets von Shai Fuxman, mit dem Inhalt: „Jugendliche mit Behinderungen berichten mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit von Cybermobbing wie Jugendliche ohne Behinderungen.“ … © Goethe-Institut
Es handelt sich bei dem Bild um einen Screenshot des zweiten Tweets von Shai Fuxman, mit dem Inhalt: … „Die Frage lautet: Wie schult man alle darin, sich nicht nur in Person, sondern auch im Internet wie verantwortungsvolle Bürger*innen zu verhalten? Dazu gehört auch, gut mit Menschen umzugehen, die anders sind als man selbst.“ © Goethe-Institut Sie können den Original-Thread mit diesen beiden Tweets auf Twitter finden.

Tiffany Brar:
Wenn jemand ohne mein Wissen und meine Erlaubnis ein Foto von mir macht, ist das ebenfalls Cybermobbing. Das ist bereits ein Vergehen. Manche Leute bearbeiten die Bilder sogar, die wir auf Facebook posten. Aber andere verwundbare Personen werden ebenfalls auf diese Art ausgebeutet.
 
Daniel Jones:
Das Management und Admin-Personal von Online-Diensten muss einen aktiveren Ansatz verfolgen. YouTube leistet hervorragende Arbeit beim Herausfiltern verletzender Kommentare. TikTok ist ein interessantes Beispiel. Es ist schon komisch, dass sie sagen, sie begrenzten die Reichweite von Inhalten, um Menschen mit Behinderungen zu schützen, während TikTok in Wirklichkeit die Verbreitung der so genannten Autismus-Challenge erlaubte. Die Leute verwendeten den Hashtag #AutismCallenge bei Videos, in denen sie tanzten, während sie versuchten so aussehen, als seien sie behindert, obwohl sie es nicht waren. TikTok ließ zu, dass diese schreckliche Art des Verspottens auf ihrer Website grassierte.
 
Ich initiierte eine Kampagne – produzierte zwei Videos und mobilisierte eine Menge Leute, die eine Petition unterzeichneten, um diesen Hashtag zu stoppen. TikTok handelte schließlich. Sie verboten den Hashtag und die Videos der Leute. Aber damit einhergehend schränkten sie die allgemeine Reichweite der Begriffe Asperger und Autismus und damit der Gemeinschaft auf dieser App ein – von Menschen wie mir, bei deren TikTok-Inhalt es darum geht, anderen zu helfen. TikTok sagte im Grunde genommen: Wenn man das Mobbing nicht ertragen kann, kann man die Plattform nicht nutzen. Es ist eine so große und neue Plattform. Sie müssen überdenken, wie sie mit Behinderung, Ethnizität, Race und Gender umgehen. Anderenfalls stehen sie vor einem wirklich großen Problem.
 
Shai Fuxman:

Ich teile Daniels Meinung zu TikTok. In unserem Bericht über Cybermobbing haben wir mehrere Empfehlungen ausgesprochen, wie man Cybermobbing gegenüber Jugendlichen mit Behinderungen ein Ende setzen kann. Eine dieser Empfehlungen lautete, dass die sozialen Medienplattformen eine aktivere Rolle bei der Überprüfung der Inhalte übernehmen und innovative Technologien einsetzen sollten, um verletzende Sprache zu erkennen. Wir wissen, dass diese Technologien bereits existieren – Algorithmen, die verletzende Sprache leicht identifizieren können. Daher müssen die sozialen Medienplattformen, TikTok eingeschlossen, eine klare Position zu diesem Thema beziehen und diese Position durch die Art und Weise zum Ausdruck bringen, wie sie ihre Webseiten verwalten.
 
Javier Montaner:

Technologie an sich ist weder gut noch schlecht. Die Art und Weise, wie wir sie einsetzen, macht sie gut oder schlecht. Soziale Netzwerke haben die Macht, Inklusion durch ihre Nutzungsbedingungen und das Kuratieren von Inhalten zu fördern. Wir als verantwortungsbewusste Nutzer*innen haben auch die Macht und die Pflicht, uns von Plattformen, die Inklusion ignorieren, zurückzuziehen.

„Nichts über uns ohne uns“

Einiges, was Sie oben über Chancen, alte und neue Herausforderungen sagten, ist an ein noch immer gängiges Narrativ gekoppelt, das postuliert: Menschen mit Behinderungen brauchen Hilfe – Ende der Geschichte. In dieser Erzählung absoluter Passivität ist kein Platz für Menschen mit Behinderungen als aktive Kraft. Technologie bremst bereits die kleinste Partizipation aus, wenn etwa die Kontaktformulare von Webseiten mit Access-Tools inkompatibel sind. Diese Seiten hindern Menschen daran, ein unzugängliches Feature zu melden und es zu verbessern, da das wichtigste Kommunikationsmittel selbst unzugänglich ist. Wie lassen sich nachhaltige Möglichkeiten etablieren, als Mensch mit Behinderung an Barrierefreiheit und weit darüber hinaus mitzuwirken (so wie die britische National Autistic Society etwa ein Bewusstsein auf dem Arbeitsmarkt schafft)? Mit anderen Worten, können Sie noch einmal näher darauf eingehen, wie Menschen mit Behinderungen die digitale Welt mit definieren und entwickeln können? Welche Strategien des Empowerment gibt es?
 
Tiffany Brar:
Es gibt viele Menschen mit Behinderungen, die als Coaches für Barrierefreiheit arbeiten. Sie testen Webseiten und digitale Anwendungen.
 
Tiffany Brar:

Javier Montaner:
Ich stimme vollkommen zu. Allerdings würde ich sagen, dass das nicht nur auf Indien zutrifft, sondern auch auf Spanien und viele weitere Länder überall auf der Welt. Häufig haben Entwickler*innen nicht die Absicht, es falsch anzugehen. Es fehlt ihnen schlicht an Wissen. Sie müssen ein stärkeres Bewusstsein entwickeln. Manchmal denken wir Ingenieur*innen über verrückte Features nach, die technisch gesehen sehr cool sind, aber wir vergessen die Nutzer*innen – nicht nur Nutzer*innen mit Behinderungen, sondern ganz allgemein. Das hat sich in jüngster Zeit zu ändern begonnen. Der Unternehmer Eric Ries hat den „lean startup“-Ansatz entworfen. Lean bedeutet, dass man neue Produkte sehr schnell entwickelt, aber von den Kund*innen gelenkt wird, die vom ersten Tag des Projekts an eingebunden sind.
 
Tiffany, ich habe das Gefühl, dass Sie die Situation in Indien als schlimmer als in manchen anderen Ländern wahrnehmen. Woher kommt dieser Eindruck? Ich selbst habe keine Behinderung und daher eine Außenperspektive, aber meinem Empfinden nach laufen die Dinge hier in Spanien ebenfalls nicht so gut, wie sie sollten.
 
Tiffany Brar:
Indien ist ein tolles Land und ich bin überzeugte Nationalistin, aber es gibt viele Höhen und Tiefen. Indien ist eine der größten Volkswirtschaften Asiens, doch die Menschen sind sich der Bedingungen für Menschen mit Behinderungen einfach nicht bewusst, obwohl Indien 2006 die BRK der UNO unterzeichnet hat. Das Land ist bisher nicht willens gewesen, das nötige Geld für gleiche Zugangsmöglichkeiten auszugeben. Ich kenne blinde Menschen aus den USA, England oder Deutschland, die nicht so stark auf einen Mangel an Inklusion hinweisen, während Indien immer noch dem Fürsorgemodell verhaftet ist.
 
Webentwickler*innen überall auf der Welt müssen sich in unsere Lage versetzen – aus der Perspektive einer Person mit Behinderung denken, nicht mit Mitleid, sondern mit Empathie. Behandelt Menschen so, wie ihr selbst behandelt werden wollt.
 
Shai Fuxman:
Ein wichtiger Aspekt in der Disability Community, der häufig zur Sprache kommt, ist der Gedanke „Nichts über uns ohne uns“. Tut nichts für sie, sondern mit ihnen.
 
Wenn ich zudem über meine Tochter spreche, erwähne ich normalerweise, wie hinreißend sie ist, dass sie viel Sinn für Humor hat und dass sie außerdem Autismus hat. Statt zu sagen: Sie ist autistisch, das ist es, was sie ausmacht. Mit anderen Worten, um das Narrativ zu ändern, darf die Gesellschaft Menschen mit Behinderungen nicht länger über ihre Behinderungen definieren. Wenn wir einen Wandel in der Debatte bewirken, sodass wir zuerst über die Stärken von Menschen sprechen, können wir den Beitrag viel besser würdigen, den sie für die Gesellschaft leisten können. Dadurch werden wir merken, dass eine barrierefreie digitale Welt nicht nur Menschen mit Behinderungen zugutekommt, sondern der ganzen Gesellschaft – weil es ihnen ermöglicht, uns alle an ihren Fähigkeiten teilhaben zu lassen.
 
Tiffany Brar:
Ich würde keinen Freund*innen mit Behinderungen Webseiten empfehlen, die nicht barrierefrei sind. Selbst meine Freund*innen ohne Behinderungen, die Aktivist*innen oder begeisterte Inklusivitätsverfechter*innen sind, würden solche Webseiten nicht besuchen. Webentwickler*innen sollten sich auch klar machen, dass sie mit Barrierefreiheit mehr Nutzer*innen und Kund*innen gewinnen.
 
Tiffany Brar:
Das Bild zeigt einen Screenshot von Tiffany Brars Facebook-Post, mit dem Inhalt: „Online-Dienste nehmen fälschlicherweise an, dass Menschen mit Behinderungen keine zahlenden Kunden auf ihren Beauty-, Shopping- oder Reise-Webseiten sein können. Selbst Dating-Plattformen – ein wichtiger Teil sozialer Inklusion – sind nicht barrierefrei. Viele Menschen ohne Behinderungen denken: „Naja, aber sie ist doch behindert, mit wem soll sie schon ausgehen?“ Oder: „Wie soll er denn hip gekleidet sein?“ Mit diesen falschen Vorstellungen sollte aufgeräumt werden.  Dasselbe gilt für erotische Seiten und Pornographie. Menschen mit Behinderungen haben das Recht, diese Inhalte anzusehen, wenn sie wollen – genau wie Menschen ohne Behinderungen. Ganz gleich, um welchen Inhalt es sich handelt, Gleichberechtigung muss die Maxime sein, nicht Diskriminierung.“ © Goethe-Institut Sie können den Originalpost auf Facebook finden.

Daniel Jones:

Javier Montaner:
Ich möchte noch einmal betonen, dass ein barrierefreies Produkt oder ein barrierefreier Dienst nicht nur für eine Person mit Behinderung gut ist, sondern für alle. Wenn man sein Video untertitelt, ist das von Wert für Menschen, die blind sind, und für Menschen, die hörbehindert sind, und es ist auch von Wert für Leute, die im Bus sitzen und keinen Sound benutzen können. Wenn man für Barrierefreiheit sorgt, entfernt man keine Features; man fügt welche hinzu. Die Krux sind nicht Personen, die Behinderungen haben, sondern die Welt, die Behinderungen aufweist. Wenn jemand in der physischen oder digitalen Welt keinen Zugang zu einer Dienstleistung hat, liegt das Problem nicht bei der betreffenden Person. Die Dienstleistung ist das Problem.

Touch und Screens

Das Internet wird in mehrfacher Hinsicht mit räumlicher Unabhängigkeit assoziiert. Es ermöglicht einigen Menschen, ihre Einkäufe von zu Hause zu erledigen und von überall zu arbeiten, was ihnen eine größere Mobilität und besseren Zugang einräumt. Gleichzeitig sind die Geräte zur Internetnutzung materiell, woran uns Herman, Hadlaw und Swiss zu Beginn der vielsagend betitelten „Theories of the Mobile Internet: Materialities and Imaginaries“ erinnern (übersetzt: Theorien des mobilen Internets: Materialitäten und Vorstellungen). Und in „Disability and Haptic Mobile Media“ (übersetzt: Behinderung und haptische mobile Medien) fragt Goggin: „[W]as ist mit den vielen von uns, die Computertechnologien mit anderen Körperteilen [als unseren Händen] berühren möchten?“
 
Jene physischen Geräte, die Zugriff zum Web eröffnen, müssen selbst zugänglich sein. Javier, wie trägt Ihre App Mouse4all dieser gegenständlichen Seite des Internets Rechnung?
 

Javier Montaner:

Geschwindigkeit; und Geld

Das Internet läuft mit einer enormen Geschwindigkeit. Sobald Nutzer*innen etwa eine Webseite aufrufen, öffnen sich oft Pop-up-Fenster; binnen Sekunden können Videos, Töne und Werbung ohne zu fragen zu laufen beginnen (was für Menschen mit photosensitiver Epilepsie besonders gefährlich sein kann).
 
Ist die digitale Geschwindigkeit Ihrer Meinung nach grundsätzlich eine Barriere? Oder kann sie der Barrierefreiheit auch förderlich sein? Erhält die Frage der Temporalität online eine neue Dimension oder spiegelt das Internet das Tempo der analogen Welt wider?

 
Daniel Jones:
Menschen haben eine Aufmerksamkeitsspanne von drei Sekunden, deshalb verlangen sie ständig nach Updates. Alles muss sofort sein, egal, ob wir über die digitale oder die analoge Sphäre sprechen. Nutzer*innen können auf manchen digitalen Anwendungen jedoch ihre Bildfrequenz verlangsamen, beispielsweise auf YouTube. Gelegentlich beschleunige ich Videos auf das Doppelte oder Dreifache ihres regulären Tempos und kann die Informationen trotzdem noch verarbeiten, weil mein Gehirn sehr schnell arbeitet. Es ist also sehr hilfreich, wenn Videos diesen Faktor der Barrierefreiheit aufweisen – wenn man ihre Geschwindigkeit variieren kann.  
 
Tiffany Brar:
Online-Features müssen Barrierefreiheit gewährleisten, während sie immer schneller werden. Überdies müssen Kund*innen sich derzeit, wenn sie auf Amazon eine Zahlung tätigen, durch mehrere Fenster hindurcharbeiten, bis sie den Abschnitt zur Bezahlung erreichen. Menschen mit Behinderungen wollen bestimmte Webseiten nicht benutzen, weil es einfach zu lange dauert.  
 
Daniel Jones:
Auf meiner Webseite gibt es auch einen Shop und wir haben ihn gerade aufgerüstet, sodass er Käufer*innen direkt zur Zahlung bringt, statt sie einen Prozess mit 16 Einzelschritten durchlaufen zu lassen. Der Grund, warum andere einen solchen Prozess implementieren, ist Add-on-Selling. Wenn man bereits seine Kreditkarte in der Hand hat und sowieso etwas kauft, ist man womöglich auch gewillt, noch mehr auszugeben. Das ist mit der Kasse in jedem Supermarkt vergleichbar. Da liegen zahlreiche Schokoriegel für Impulskäufe aus, die Käufer*innen dazu verleiten sollen zu denken: „Ach ja, das Snickers da brauche ich auch noch.“
 
Tiffany Brar:
Jemand wie ich hätte davon die Nase gestrichen voll, insbesondere da diese Werbung oft zwischendrin in Form von Popups auftaucht. Das ist sehr frustrierend für Menschen mit eingeschränkter Mobilität, einer Sehbeeinträchtigung oder einer kognitiven Behinderung, die so viele Inhalte gar nicht verarbeiten können.
 
Shai Fuxman:
Ich würde darüber hinaus gerne auf die Schnittstelle zwischen Behinderungen und sozioökonomischem Status oder finanziellen Mitteln hinweisen. In den USA sind viele Technologien, die für Menschen mit Behinderungen entwickelt wurden, sehr teuer. Innerhalb der Disability Community schaffen diese Kosten eine Barriere für Menschen mit niedrigem Einkommen. Um die wirtschaftliche Kluft zu schließen, muss Technologie in den USA und auf der ganzen Welt sowohl barrierefrei als auch finanziell erschwinglich sein.
 
Javier Montaner:
Wir nennen das „finanzielle Barrierefreiheit“. Wir sind ein Sozialunternehmen, aber immer noch ein Unternehmen, das verkaufen muss, um zu überleben. Wir haben von Anfang an versucht, ein kostengünstiges Produkt anzubieten. Doch der Markt ist nicht bereit. Obwohl 15 Prozent der Weltbevölkerung eine Behinderung haben, sind wir immer noch mit einem Nischenmarkt konfrontiert. Das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage führt derzeit zu teuren Produkten. Nutzer*innen, NGOs, der öffentliche Sektor und private Unternehmen – wir alle müssen zusammenarbeiten, um unterstützende Technologien für alle Menschen, die sie benötigen, verfüg- und bezahlbar zu machen.
 
Tiffany Brar:
Viele Menschen verstehen die Problematik nicht, bis sie sie selbst erleben. Ich kenne Expert*innen im technischen Bereich, denen das Thema egal ist. Aber wenn ihre Mutter oder Schwester einer Einschränkung ausgesetzt sind, dann heißt es plötzlich: „Okay, okay, okay, meine Mutter braucht Zugang.“ Die Gesellschaft muss sich ändern und Inklusion über diese Momente hinaus wichtig nehmen.
 
 
Ein besonderer Dank geht an Thomas Heymel von der Stiftung Pfennigparade für seinen Input.

Web-Realisation: Jörn Müller, Elisa Jochum, Svenja Hoffmann, Miriam Steller, Linda Hügel
 

BARRIEREFREIHEIT AUF DIESER WEBSITE

Wir sind uns bewusst, dass diese Website selbst noch nicht so barrierefrei ist, wie sie sein sollte. Wir arbeiten daran!

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