Ivars Ijabs
Wohin? 21 Fragen zu Flucht und Migration

Ivars Ijabs
Foto: Goethe-Institut Lettland

In dem Projekt „Wohin?“ wurde Autoren und Intellektuellen aus verschiedenen Ländern der Welt ein Fragebogen zu Flucht und Migration vorgelegt. Inspirationsquelle waren dabei die Fragebögen des Schweizer Schriftstellers Max Frisch, die dieser in seinen Tagebüchern in prägnanter Weise zu allgemeinen Themen wie Freundschaft, Ehe, Tod oder Geld formulierte. Es schien einen Versuch wert, auch das Thema Flucht auf diese Weise zu vertiefen. Als Vertreter Lettlands beantwortete Ivars Ijabs den Fragebogen.

Was bedeutet für Sie der Begriff Flüchtling?

Das Wort „Flüchtling“ gehört zu den Begriffen, die in jeder konkreten Sprache die Geschichtserfahrung der Sprecher dieser konkreten Sprache widerspiegeln. Im Lettischen ist das Wort „Flüchtling“ eine neutrale Bezeichnung, die sowohl jemanden bezeichnet, der auf der Suche nach Schutz in einem anderen Staat ankommt, als auch jemanden, der flüchtet. Wir unterscheiden nicht wie im Englischen zwischen refugee und fugitive. Was die geschichtlichen Konnotationen angeht, so hat die Erfahrung des Ersten Weltkrieges für die Letten eine besondere Bedeutung, als Millionen von Letten das Baltikum zurückließen und flüchteten. Wie auch andernorts in Europa, hat dieser Begriff in der rechten Politik einen negativen Anklang erhalten – manchmal wird auch von „so genannten Flüchtlingen“ oder „denen, die sich als Flüchtlinge ausgeben“ u. Ä. gesprochen. Das demonstriert nur die allgemeine Nervosität und die Unfähigkeit, die komplizierte und oftmals unangenehme Realität adäquat anzunehmen.

Ist Flucht vor Armut für Sie weniger legitim als Flucht vor Krieg oder politischer Unterdrückung?

Armut kann unterschiedlich sein. Wenn Menschen der Hungertod droht oder ein völlig erniedrigendes Leben aufgrund fehlender Gesundheitsversorgung oder Grundressourcen, ist ihr Anspruch auf einen Flüchtlingsstatus begründet. Die Frage ist, welche Stufe des Mangels wir bereit sind, als „Flucht vor Armut“ anzunehmen und nicht als einfache Wirtschaftsmigration. Lettland hat in den letzten zehn Jahren etwa zehn Prozent seiner Einwohner verloren, die sich im Rahmen des freien Verkehrs von Arbeitskräften in andere Länder der EU begeben haben – nach Großbritannien, Irland, auch Deutschland. Ein Großteil von ihnen würde sein Handeln sicherlich als „Flucht vor Armut“ legitimieren – so übertrieben und relativ diese Armut auch sein mag. Natürlich ist es die grundsätzliche Pflicht eines jeden Staates, sich um die Möglichkeit zur Sicherung eines Existenzminimums seiner Einwohner zu kümmern, und die internationale Gemeinschaft hat die Pflicht zu reagieren, wenn ein Staat diese Pflicht nicht erfüllt. Dass diese Einmischung sich häufig in der Aufnahme von Flüchtlingen in kritischen Situationen äußert, ist faktisch ein Anzeichen für fehlgeschlagene Politik der entwickelten Staaten – in einer Situation, da sich mehrere „gescheiterte Staaten“ in der Nähe Europas bilden. Gleichzeitig sieht die globale Gerechtigkeit sicherlich für Einwohner relativ ärmerer Staaten die Möglichkeit vor, auf der Suche nach einem besseren Leben in entwickelte Länder zu migrieren. Wenn solche Möglichkeiten gegeben werden, geht es nicht um ein unbegrenztes Recht, sondern um besondere Privilegien, die im Ermessen jedes Staates selbst liegen.

Und Flucht vor ökologischen Problemen?

Ähnlich wie im vorigen Fall hängt das von der Art und dem Umfang des ökologischen Problems ab. Wenn die ökologischen Probleme von globalen ökologischen Prozessen verursacht wurden und der konkrete Staat damit nicht adäquat umgehen kann, ist das sicherlich ein legitimer Grund für einen Flüchtlingsstatus in einem anderen Land. Doch sehr häufig werden ökologische Probleme von unangemessenem Wirtschaften und einer unfähigen, korrupten Regierung verursacht. Hier muss der erste Schritt der internationalen Gemeinschaft die beständige und zielgerichtete Arbeit mit dem im entsprechenden Land regierenden Regime sein, nicht einfach die Aufnahme von Flüchtlingen.

Wann hört man auf, Flüchtling zu sein?

Wenn es um die Bedingungen geht, unter denen ein Mensch seinen Flüchtlingsstatus verlieren kann, dann ist davon später die Rede. Wenn das philosophischer gemeint ist, kann ich folgendermaßen antworten: Man hört dann auf, Flüchtling zu sein, wenn man in der Lage ist, seine „alte“ Heimat mehr oder weniger neutral und objektiv zu betrachten.

Gibt es für Sie ein Recht auf Asyl?

Ja, natürlich. Obwohl Menschenrechte oft politisiert und missbraucht werden, sind sie doch im Grunde eine unmissverständliche Errungenschaft der modernen Zivilisation.

Wenn ja: ist es bedingungslos, oder kann man es verwirken?

Das Recht auf Asyl verwirkt der Mensch in dem Moment, da er im neuen Aufenthaltsland Werte pflegt, die denen des Regimes im verlassenen Land ähneln. Zum Beispiel verliert ein Flüchtling, der im neuen Aufenthaltsland beginnt, radikale und fundamentalistische Ideen zu verbreiten, sich gegen die demokratische Grundordnung zu richten, offen Terrorismus zu verherrlichen, die Rechte seiner Mitmenschen zu missachten, meiner Meinung nach das moralische Recht auf einen Flüchtlingsstatus. Juristisch ist die Situation natürlich viel komplizierter, doch das Recht auf einen Flüchtlingsstatus ist sicher nicht absolut.

Glauben Sie, dass eine Gesellschaft begrenzt oder unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen kann?

Begrenzt, natürlich. Interessant ist die Frage, inwiefern die Grenzen der Flüchtlingsaufnahme mit den allgemeinen Grenzen der Immigrationspolitik des entsprechenden Staates übereinstimmen. Theoretisch müssten sie im Falle von Flüchtlingen weiter sein, doch in Wirklichkeit passen die Staaten ihre Flüchtlingspolitik meistens an die Prioritäten der Immigrationspolitik an.

Falls begrenzt: worin bestehen diese Grenzen?

Wir können natürlich normative Theorien darüber aufstellen, wo diese Grenzen sein müssten. Doch solch rigorose Konzeptionen hätten wenig Sinn, da diese Grenzen in den konkreten Gesellschaften sehr unterschiedlich gezogen sind. Zudem sind die Unterschiede selbst unter den demokratischen Staaten sehr groß. Sie werden von verschiedenen Faktoren bestimmt: der Geschichtserfahrung, der Arbeitspolitik, der politischen Ordnung, der Aufnahmekapazität eines Staates. Interessant ist die Frage, wie die Auswanderung, die ein Staat erlebt,  seine Haltung gegenüber Flüchtlingen beeinflusst – am ehesten natürlich negativ. Polen, Litauen, Lettland, Rumänien und andere „neue“ Mitgliedsstaaten der EU haben ihre Einwohner in den letzten Jahren in das „alte“ Europa „exportiert“, was eine genügend traumatische Erfahrung ist. Auch die Flüchtlingsaufnahme wird in diesem Licht betrachtet. Sozusagen, werden unsere Söhne, Töchter und Enkel nun in unserer Heimat von arabischen und afghanischen Migranten „ersetzt“ – ähnlich, wie die Häuser der nach Sibirien geschickten Letten von Immigranten aus anderen Sowjetrepubliken eingenommen wurden. Eine solche Perspektive finden viele beängstigend, und das beeinflusst natürlich das Denken der Gesellschaft und entsprechend die politischen Entscheidungen.

Gibt es in Ihrem Land privilegierte Flüchtlinge, d.h. solche, die Ihr Land eher aufzunehmen bereit ist als andere? Wenn ja, warum?

Es wird von möglichen Privilegien für Christen aus dem Nahen Osten gesprochen, auch für Familien mit Kindern. Doch da Lettland erst einige Dutzend Flüchtlinge aufgenommen hat, waren die Vorlieben bei der Auswahl der Flüchtlinge keine ersthafte Priorität.

Werden Flüchtlinge in Ihrem Land aus Ihrer Sicht gerecht behandelt?

Gerechtigkeit gegenüber Flüchtlingen kann nicht von der Gerechtigkeit der allgemeinen Politik eines Staates getrennt werden. Zudem versteht jeder Staat Gerechtigkeit ein wenig anders. Schauen Sie sich allein die Unterschiede in der Sozialpolitik unter verschiedenen EU-Staaten an – hier haben wir die starken „Wohlstandsländer“ Schweden und Dänemark und die fast schon neoliberalen baltischen Staaten. Die Einstellung gegenüber Flüchtlingen ist auch in Lettland der Ausdruck dieser allgemeinen Gerechtigkeit. Das sehr liberale Verständnis von Gerechtigkeit, mit niedrigen Steuern auf Kapital und sehr eingeschränkter Sozialpolitik, äußert sich so auch gegenüber Flüchtlingen, denen ziemlich asketische Unterstützung angeboten wird, was u.a. das staatliche Unterstützungspaket und die Zugänglichkeit von Gesundheitsversorgung angeht. Zudem ist eine solche Einstellung populär, weil die Menschen Flüchtlinge nicht in einer besseren Situation sehen wollen als die eigenen Rentner oder junge Familien.

Wären für Sie Einschnitte im Sozialsystem Ihres Landes akzeptabel, wenn dies helfen würde, mehr Flüchtlinge aufzunehmen?

Für solche Angebote fehlt in Lettland der politische Konsens, daher erscheint mir die Frage zu abstrakt.

Was sind für Sie Voraussetzungen für erfolgreiche Integration? Gibt es Mindestanforderungen

- an die Ankommenden?
- an die Aufnehmenden?

Über dieses Thema sind schon kilometerweise Bücher geschrieben, daher wird es schwer, kurz zu antworten. Integration ist wahrscheinlich zunächst die Aufgabe des Aufnahmelandes, weil dieses es unvermeidlich mit sehr verschiedenen Ankommenden zu tun hat. Erst einmal kann und muss man von den Flüchtlingen eine respektvolle Einstellung gegenüber dem aufnehmenden Land und seinen Einwohnern verlangen. Die Aufgabe des Staates bei der Integration von Flüchtlingen ist natürlich kompliziert. Erstens brauchen die einreisenden Menschen klare und gut verständliche Spielregeln, deren Annahme die Voraussetzung für ihr zukünftiges Leben ist. Zweitens ist der Sprachunterricht ein sehr wichtiges Integrationsinstrument; dieser muss effektiv organisiert sein. Drittens hat der Staat das Recht, Ghettobildung zu vermeiden, indem er die Flüchtlinge und Immigranten angemessen und entsprechend der Bedürfnisse des Arbeitsmarkts auf Regionen und Gemeinden verteilt. Schließlich zeigen die Ereignisse der letzten Zeit auch, dass der Staat die Pflicht hat, bestimmte „Risikogruppen“ mit Tendenz zum Radikalismus zu kontrollieren, die ein Risiko für die gesellschaftliche Sicherheit darstellen und eventuell die Integrationsversuche bedrohen könnten. Selbstverständlich geht es auch nicht ohne eine positive Einstellung der Gesellschaft gegenüber Menschen anderer Nationalitäten, Kulturen und Religionen. Ein demokratischer Staat hat das Recht zu verlangen, dass Ankommende seine Sprache als grundlegendes gesellschaftliches Kommunikationsmittel sowie die Grundwerte der demokratischen Gesellschaft lernen. Das gilt nicht nur für Immigranten, sondern auch für Flüchtlinge, die es sich nicht selbst ausgesucht haben, zu einem Mitglied der aufnehmenden Gesellschaft zu werden. Der Flüchtlingsstatus ist zu respektieren und verdient ein Entgegenkommen, aber er kann kein Grund für kulturelle Arroganz und Isolation sein.

Kennen Sie persönlich Flüchtlinge?

Ich kenne viele Menschen mit einer Flüchtlingsvergangenheit aus früheren Zeiten. Was die „neue“, 2015 begonnene Flüchtlingswelle betrifft, so kenne ich persönlich keine dieser Menschen.

Unterstützen Sie aktiv Flüchtlinge?

Als Person des öffentlichen Lebens und Meinungsführer habe ich mich mehrfach für eine realistische Einstellung gegenüber Flüchtlingen eingesetzt, meistens in Verbindung mit der Pflicht Lettlands, Solidarität mit den anderen europäischen Staaten zu zeigen.

Wie wird sich die Flüchtlingssituation in Ihrem Land entwickeln?

a) in den nächsten zwei Jahren?

In den nächsten zwei Jahren sind wohl kaum große Erschütterungen zu erwarten. Im Rahmen des EU-Flüchtlingsprogrammes werden mehrere hundert Flüchtlinge nach Lettland kommen, zusammen mit ihren Familienmitgliedern vielleicht ein paar tausend. Die Politisierung der Flüchtlingsfrage wird sich fortsetzen. Auf der einen Seite werden verschiedene „Horrorgeschichten“ über das Verhalten der Flüchtlinge an ihren Aufenthaltsorten verbreitet werden – auf der anderen verschiedene „Erfolgsgeschichten“ über die Bereicherung Lettlands durch den Zufluss von Menschen anderer Kulturen und Religionen. Die Anstrengungen der EU, die Flüchtlinge gezwungenermaßen auf die Mitgliedsstaaten zu verteilen, werden keinen Erfolg haben, wenn nicht ein raffinierter Mechanismus zur Motivierung der Mitgliedsstaaten für die Aufnahme von Flüchtlingen erfunden wird.

b) in den nächsten zwei Jahrzehnten?

Für die nächsten zwanzig Jahre eröffnen sich hingegen breitere Spekulationsmöglichkeiten. Zunächst hängt viel von den Flüchtlingsströmen ab, hauptsächlich im Nahen Osten und Nordafrika. Ein möglicher Risikofaktor ist die Richtungsänderung des Flüchtlingsstroms aus dem Nahen Osten nach Russland als Transitland, was die baltischen Staaten in die Situation bringen könnte, in der heute Griechenland und Italien sind. In den nächsten zwanzig Jahren werden in allen europäischen Staaten ernsthafte politische Diskussionen sowohl über die Integrationspolitik als auch über die Sicherheitspolitik und den Kampf gegen den Terrorismus stattfinden. Man kann nur hoffen, dass die Flüchtlingsfrage nicht zum Grund eines Scheiterns der EU oder der Stagnation der europäischen Integration wird.

Können Sie sich eine Welt ohne Flüchtlinge vorstellen?

Nein. Ich möchte mir natürlich sehr eine Welt ohne militärische Konflikte, Hunger und Naturkatastrophen vorstellen, doch eine solche Vision wäre zu weit von der Realität entfernt. Eine andere Frage ist, ob wir uns eine Welt vorstellen können, in der der Begriff „Flüchtling“ seinen Sinn verloren hat – soweit dieser Begriff an territoriale Nationalstaaten gebunden ist, die diese Flüchtlinge nach Belieben aufnehmen können oder auch nicht. Möglicherweise können wir uns eine solche Welt als positive Entwicklungsperspektive vorstellen – genau wie Kants Vision vom ewigen Frieden, in der die Staaten durch das Recht der Gastfreundschaft verbunden sind.

Haben Sie oder Ihre Familie in der Vergangenheit Erfahrung mit Flucht gemacht?

Sowohl die Familienzweige meines Vaters als auch die meiner Mutter flüchteten während des Zweiten Weltkrieges – nach Westen, als Lettland 1944 eine wiederholte sowjetische Okkupation drohte. Ein Teil der Verwandten landete letztendlich in den USA, andere in Großbritannien und Australien. Das war natürlich eine sehr traumatische Erfahrung. Viele Angehörige sahen sich erst nach fast einem halben Jahrhundert wieder, Ende der 1980er Jahre, als der "eiserne Vorhang" durchlässiger wurde. Aber man kann nicht leugnen, dass sich die Flüchtlinge während des Zweiten Weltkrieges relativ erfolgreich in ihren Gastländern integrierten, gleichzeitig aber ihre Sprache, Kultur und Überzeugung vom erlittenen Unrecht nicht verloren. Besonders überraschend war das Festhalten der „zweiten Generation“ der Flüchtlinge an der lettischen Identität und der Loyalität gegenüber einem unabhängigen Lettland. Heute dient das als Erinnerung an die Unvorhersehbarkeit der geschichtlichen Entwicklung wie auch daran, dass die Flüchtlingsintegration bei Weitem nicht so hoffnungslos ist, wie man sich das manchmal vorstellt.

Glauben Sie, dass Sie in Ihrem Leben jemals zum Flüchtling werden?

Ich sitze nicht auf meinen Koffern und plane, mein Vaterland zu verlassen. Das tut auch der allergrößte Teil der mir bekannten Menschen nicht. Doch die Geschichte hat uns in Lettland gelehrt, auf verschiedene Eventualitäten gefasst zu sein. Daher kann man die Möglichkeit, flüchten zu müssen, nicht vollkommen ausschließen. Dafür gibt es viele mögliche Risikofaktoren: Russlands wachsende geopolitische Ambitionen, ein Kurswechsel in der US-amerikanischen Außenpolitik, ein Scheitern der EU, internationaler Terrorismus, Probleme bei der Kontrolle von Atomwaffen u.a. Keiner dieser Faktoren scheint heute ausreichend gefährlich, um eine ernsthafte Bedrohung darzustellen. Doch globale Krisen entstehen meistens durch ein schicksalhaftes Zusammenwirken verschiedener Faktoren, das zumeist zufällig ist – besonders, wenn noch ein anderer, völlig unerwarteter Faktor oder "Schwarzer Schwan" auftritt, um es mit Nassim Talebs Worten zu sagen. Daher kann und darf man die Möglichkeit, flüchten zu müssen, nicht gänzlich ausschließen. Wohin? Sicherlich an einen Ort, der zu dem Zeitpunkt mehr oder weniger sicher und erreichbar erscheint.

Wie viel Heimat brauchen Sie?*

Interessanterweise gibt es im Lettischen keine direkte Übersetzung des deutschen Wortes Heimat oder des englischen homeland, die sich auf das Zuhause bezieht – den Ort, an dem wir zu Hause sind. Wir haben nur Worte, die sich auf die Geburt oder die Eltern beziehen wie „Geburtsland“ oder „Vaterland“. Wir können uns die Mutmaßung erlauben, dass die Letten sich geschichtlich in ihrem Land selten wie zu Hause gefühlt haben, daher verbindet man seine Herkunft öfter mit dem Geburtsort und seinen biologischen Vorfahren.
Wenn Sie fragen, wieviel „Geburtsland“ (Heimat) ich brauche, ist die Antwort einfach: genau soviel, dass ich ein weltoffener Mensch sein kann. Zum Verhältnis von Heimat und „der restlichen Welt“: Wir sollten aufhören, sich gegenseitig bedingende Begriffe einander gegenüberzustellen. Eine positive Einstellung gegenüber seinem Geburtsland und der Wunsch, dessen besondere Merkmale zu bewahren, bedeutet keinesfalls Xenophobie und Isolationismus; ebenso wie Weltoffenheit keinen Nihilismus gegenüber dem eigenen Geburtsland und seinen Menschen bedeutet. Im Gegenteil: global erfolgreich sind diejenigen, die sich respektvoll gegenüber ihrer Herkunft sowie der Sprache und Kultur ihrer Heimat verhalten. Die Heimat ist der „blinde Fleck“, in dem wir alle stehen, während wir die Prozesse der Welt betrachten. Wir sehen ihn selbst keinen Moment, er ist nur „von außen“ zu sehen. Doch er bestimmt unsere Perspektive, wenn wir die Welt betrachten.
Im Laufe ihres Lebens wollen die Menschen ihre Heimat relativ unverändert lassen, so, wie sie „immer gewesen ist“. So ein Wunsch ist natürlich – wir wünschen uns einen umso stabileren Grund unter den Füßen, je schneller sich die Umwelt verändert. Doch in Wirklichkeit ist die Heimat kein Land, sondern eher eine Kommunikationsgemeinschaft. Sie besteht aus lebenden Menschen, die sich im Laufe der Zeit immer öfter ändern, reisen, neue Erfahrungen machen und sich entwickeln. Daher ist Heimat immer eine dynamische Kategorie: darüber, was diese Heimat ist, wird ununterbrochen gestritten. Ist unsere Heimat die Hauptstadt-Silhouette ohne Minarette? Oder ist es vielleicht die Höflichkeit und Toleranz gegenüber Fremden in unserem Alltag? Welche Beziehung hat die Heimat zum Staat – besonders dann, wenn sich die politischen Regimes während unserer Lebenszeit geändert haben? Diese Fragen müssen diejenigen gemeinsam beantworten, die sich der entsprechenden Heimat zugehörig fühlen und in ihrem Interesse sprechen wollen.

*Diese Frage ist Max Frischs Fragebogen zu „Heimat“ entnommen.