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Desinformation
„Gewehrlauf im Gesicht“

Fotos aus den Facebookprofilen von Andris Ciekurs, Jānis Pļaviņš, Aldis Gobzems, Valentīns Jeremejevs.
Fotos aus den Facebookprofilen von Andris Ciekurs, Jānis Pļaviņš, Aldis Gobzems, Valentīns Jeremejevs. | © Goethe-Institut Riga. Fotomontage: Madara Eihe, Re:Baltica

Als Re:Baltica/Re:Check im März dieses Jahres zur offiziellen Faktenprüfstelle bei Facebook (FB) wurde und die erste unwahre Information kennzeichnete, waren die führenden Verbreiterinnen und Verbreiter von Verschwörungstheorien empört.

Von Inga Spriņģe

Am aktivsten wütete der junge Unternehmer Jānis Pļaviņš, der nach eigenen Angaben im Alltag besonders strukturiertes sogenanntes Memory water vertreibt. In einem kurzen Video, das tausende Male geteilt wurde, behauptete er, Covid-19 sei aufgrund finanzieller Interessen von Bill Gates in den USA künstlich erschaffen und in China bei einer militärischen Sportveranstaltung verbreitet worden. Zu Pļaviņš gesellte sich ein weiterer Aktivist, dessen FB-Seite Gaismas tīmeklis (Netz des Lichts) regelmäßig 5G-Sendemasten bekriegte.
 
Mit Behauptungen, die Redefreiheit werde eingeschränkt und die Faktenprüfer*innen von Re:Check würden wie KGB-Agenten aus der Sowjetzeit handeln (Umformulierung von Re:Check) begannen die führenden Verschwörungstheoretiker*innen eine Unterschriftensammlung, um uns diesen Status bei FB zu entziehen. DFRLab, das die Verbreitung von Desinformation analysiert, fand heraus, dass mindestens 22 Gruppen und Seiten auf FB diesen Aufruf teilten. Wir wurden Prostituierte genannt, liberale Schlampen, „Wahrheitsministerium“ und Goebbels‘ Erben. Die größte Seite von Impfgegnern und -gegnerinnen auf FB veröffentlichte ein Video, das sich über mein Privatleben ausließ.

Doch diese Kampagnen nützten nichts. Seit März haben wir über 50 Nachrichten auf FB als irreführend oder unwahr gekennzeichnet; die meisten davon stehen im Zusammenhang mit C-19. Bei der alltäglichen Zusammenarbeit mit Faktenprüferinnen und -prüfern weltweit ist erkennbar, dass fast identische Falschinformationen auch in anderen Ländern verbreitet werden.

Beliebte Mythen 

Zu Beginn waren Mythen über die Herkunft des Virus und den Schutz davor beliebt (viel Knoblauch essen und Grippemedikamente einnehmen), später blühte die Impfgegnerbewegung auf (Bill Gates und die Pharmaindustrie haben das Virus geschaffen, um Profit zu machen) und nun schließen sich Gegnerinnen und Gegner der Gesichtsmasken an. Letztere sind besonders für Lettland typisch aufgrund der anhaltend erfolgreichen Einschränkung der Verbreitung des Virus. Das klingt paradox, doch so ist es. Während viele europäische Staaten strenge Einschränkungen einführten, lobte die internationale Presse Lettland, weil die Zahl der Erkrankten bei uns niedrig blieb. Leider führen diese guten Ergebnisse – unter Beihilfe der Verbreiter*innen von Falschinformationen – bei einem Teil der Bevölkerung zu dem Gefühl, das Virus existiere nicht, „weil ich niemanden kenne, der/die infiziert ist“.
 
Daraus resultierten Ende Oktober über 200 Neuinfektionen am Tag. Die Regierung führte eine Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und Geschäften ein, doch in den sozialen Netzwerken begann eine starke anti-Masken-Kampagne. Unter den Initiatoren und Initiatorinnen stach der Oppositionspolitiker Aldis Gobzems mit einer großen Anhängerzahl in den sozialen Netzwerken hervor. Der ehemalige Anwalt mit guten Redekünsten veröffentlichte Fotos davon, wie er im Geschäft ohne Maske einkaufte. Sein Ziel war es, eine Strafe für die Missachtung der Maskenpflicht zu bekommen, um klagen zu können. Während der Entstehung dieses Artikels veröffentlichte er eine Nachricht auf FB, er werde Mitte November am Meer Unterschriften für die Abschaffung von Strafen für dieses Vergehen sammeln, aber kostenlos Masken an Rentner verteilen.
 
Anscheinend nutzt Gobzems C-19 für seine politischen Interessen, denn gleichzeitig plant er, dort am Meer seine eigene Partei zu gründen. Aus seiner vorigen Partei KPV_LV wurde er wegen Reputationsschädigung ausgeschlossen.

Ein guter Nährboden für Verschwörungstheorien

Auch Verbreiter*innen von Falschinformationen nutzen das Virus aktiv, um die Zahl ihrer Anhänger*innen zu vergrößern. Dies ist aus mehreren Gründen möglich.
 
Erstens ist Lettland mit seinem großen sozialen Ungleichgewicht ein guter Nährboden für Verschwörungstheorien. Wenn das staatliche Sozialsystem schwach ist und die Menschen nicht zum Arzt gehen oder in Krisensituationen psychologische Hilfe in Anspruch nehmen können, ist der einfachste Weg, die Schuld am eigenen Unglück einer anderen, unbekannten Macht zu geben.

Eine etwas ältere, vor fünf Jahren von der Firma SKDS durchgeführte Umfrage zeigt, dass mehr als die Hälfte der Einwohner*innen Lettlands glauben, ihr Leben werde von den Ergebnissen verschiedener Verschwörungstheorien beeinflusst. Somit überrascht es nicht, dass die Hälfte der in Lettland Lebenden in einer jüngeren SKDS-Umfrage antworteten, sie seien der Ansicht, C-19 sei künstlich erschaffen.
 
Zweitens fördert der Algorithmus der sozialen Netzwerke besonders die Verbreitung von „alles ist schlecht“-Nachrichten. Verbreiter*innen von Verschwörungstheorien sind zwar eine Minderheit, doch sie sind aggressiv. Da sie irreführende Informationen aktiv teilen, sind Facebooks Algorithmen „der Ansicht“, dass diese Posts beliebt sind, und zeigen sie deshalb möglichst vielen Menschen. Diejenigen, die diesen Fehlinformationen widersprechen, werden grob ausgelacht, womit jede gesunde Diskussion im Keim erstickt wird. Das Ergebnis ist die Spaltung und Radikalisierung der Gesellschaft.

Androhung physischer Gewalt

Ein Teil der aggressiven Aktivisten und Aktivistinnen schreckt auch nicht vor der Androhung physischer Gewalt zurück. Ein junger Mann drohte der Gesundheitsministerin Ilze Viņķele in FB-Kommentaren kürzlich einen „Gewehrlauf im Gesicht“ an. Ein anderer schrieb: „Ey du Schwein? Ist dir deine Familie lieb??? Verschwinde aus Lettland. Wenn nicht, gehst du allein zur Beerdigung.“ Viņķele sagte gegenüber Re:Baltica/Re:Check, dass sie und ihre Kollegen und Kolleginnen solche Drohungen wöchentlich erhalten. Zuletzt erstattete sie deswegen Anzeige bei der Polizei.
 
Auch im Büro von Re:Baltica/Re:Check erschien letzten Herbst ein Mann mit einem Beerdigungs-Blumenstrauß, um zu klären, warum wir angeblich für den Milliardär George Soros arbeiten. Sorositen ist einer der häufigsten Tags, mit dem uns unzufriedene Verbreiter von Falschinformationen und einzelne Politiker versehen. (Unter den Unterstützern von Re:Baltica befand sich auch das von Soros finanzierte Open Society Institute, das offen auf unserer Website genannt ist.) Später stellte sich heraus, dass dieser Mann uns schon zuvor auf FB gedroht hatte. Die staatliche Polizei begann widerwillig einen Kriminalprozess, der später von der Staatsanwaltschaft eingestellt wurde, weil für uns keine reale Gefahr bestanden habe. Dies ermutigte unseren Verfolger nur, der mir noch immer regelmäßig Kurznachrichten schickt und mich anruft, um seine Meinung über uns kundzutun.
 
Doch seit Re:Check und ebenso Lettlands größtes Nachrichtenportal Delfi begannen, auf FB die Fakten zu überprüfen, haben auch wesentliche Veränderungen stattgefunden. Als die größten Verbreiter*innen von Falschinformationen sahen, dass die Sichtbarkeit ihrer FB-Seiten sich verringerte, erarbeiteten sie eine neue Taktik. Um die Risiken zu diversifizieren, schufen sie neue FB-Seiten und Webseiten. Obwohl keiner dieser einzelnen Kanäle ein großes Publikum hat, teilen und verbreiten sie gegenseitig ihre Inhalte und erreichen so eine beachtliche Zahl.
 
In letzter Zeit werden auch die Geschäftsinteressen der Desinformationsakteure und -akteurinnen nicht mehr verheimlicht. Die führende Impfgegnerin hat begonnen, eine nach eigenen Angaben besondere Handytasche zu verkaufen, die die schädlichen Strahlen abhält. Der Verkäufer des strukturierten Wassers bietet auch Nahrungsmittellieferungen nach Hause an, die er auf seiner Desinformations-Webseite aktiv bewirbt. Alle zusammen trafen sie sich im Oktober bei einem eigenen Festival, auf dem die Namen der Vorträge an die Welt Harry Potters erinnerten. Für 20 Euro konnten die Teilnehmer an einem Tag in verschiedenen Vorträgen alles über Auren, Chakren, heilende Steine und die Schädlichkeit von Impfungen erfahren. Angesichts dessen, dass bereits zusätzliche Seminare zu diesen Themen angekündigt wurden, war das Festival wohl ein Erfolg.

Was Sie tun können, wenn Sie verdächtige Informationen sehen:

  • Schicken Sie diese Re:Check zur Überprüfung an die E-Mail-Adresse recheck@rebaltica.com
  • Teilen sie von Re:Check überprüfte Nachrichten, damit in den sozialen Netzwerken auch objektive Informationen zugänglich sind. Re:Check-Inhalte werden hier gesammelt
  • Melden Sie diese direkt bei FB (diese Möglichkeit besteht bei jedem Post). Abgesehen von Faktenprüfstellen wie Re:Check beaufsichtigt noch ein separates Team FB-Inhalte.Dessen Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass gegen eine Reihe an FB-Regeln nicht verstoßen wird, etwa durch Hassreden, sexuelle Drohungen usw. Diese Personen können auch bestimmte Profile und FB-Seiten blockieren, was die Faktenprüfer und -prüferinnen nicht können.
  • Wenn Sie sich bedroht fühlen, melden Sie es auch bei der staatlichen Polizei. Bisher reagiert die Polizei passiv auf solche Beschwerden, doch wenn diese sich häufen, schenkt vielleicht auch die Polizei diesem Thema mehr Aufmerksamkeit. Drohungen können in der virtuellen Welt genauso einen Schaden anrichten wie in der realen.

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