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Ken Krimstein
Das Denken feiern – und das Leben

Eine Graphic Novel über Hannah Arendt, die wohl größte philosophisch-politische Denkerin des 20. Jahrhunderts – passt das zusammen? Und wie das passt! Ken Krimstein liefert den Beweis.

Von Marit Borcherding

Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt © dtv Normalerweise zeichnet Ken Krimstein Cartoons für den New Yorker und andere amerikanische Magazine. Mit Die drei Leben der Hannah Arendt hat er diesen Rahmen eindrucksvoll gesprengt. Zu zeigen, wie sehr Arendts Denken von ihrer außergewöhnlichen Lebensgeschichte geprägt worden sei, ginge kaum besser als in einer Graphic Novel, die Bilder und Worte gemeinsam wirken lässt, schreibt Krimstein im Nachwort seines Buches – und überzeugt.

Welt verstehen

Alles beginnt mit einer Kindheit in Königsberg, der Stadt Immanuel Kants, dessen Werke Hannah, immer erkennbar an ihren grünen Gewändern im ansonsten schwarz-weiß gehaltenen Buch, schon früh auf der Suche nach letztgültigen Antworten verschlingt. Sie inhaliert Gedanken, und bald inhaliert sie Nikotin – der Qualm ihrer non-stop-glimmenden Zigaretten schlängelt sich so fortwährend über die Seiten des Buches, wie ihre nicht abreißenden Gedankenübungen zum besseren Verständnis der Welt. Schon als Kind erfährt sie Beschimpfungen und Ausgrenzung, weil sie Jüdin ist. Mutter Martha gibt der Tochter einen Rat, den sie ihr Leben lang beherzigen wird: „Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen. Und jetzt mach deine Hausaufgaben.“
 
Bald zieht die Hochbegabte nach Marburg und trifft dort auf den Superstar unter den Philosophieprofessoren: Martin Heidegger. Eine innige und komplizierte Liebesbeziehung zwischen der 17-jährigen Studentin und dem 35-jährigen verheirateten Lehrer beginnt – Krimsteins Zeichenstift lässt die Konturen beider ineinander übergehen. Später trat Heidegger bekanntlich der NSDAP bei und propagierte deren Gedankengut. Hannah Arendt distanzierte sich naturgemäß, aber der Kontakt blieb bestehen.

Aus den Fugen

Die erste Flucht bahnt sich an – im englischen Original trägt das Buch den Titel The three escapes of Hannah Arendt – vorher aber verpflanzt Krimstein seine Heldin ins Romanische Café nach Berlin, „Geburtsstätte der modernen Welt“. Hier trafen sich alle, wirklich alle  Geistesgrößen der Metropole: Künstler, Lebenskünstler, Theoretiker. Aber diese illustre Welt gerät durch die Naziherrschaft immer mehr aus den Fugen, bald brennt der Reichstag. Und Krimstein lässt die Intellektuellen im Café ahnungsvoll sarkastisch fragen: „Warte mal, was ist mit den kommunistischen Juden? Die könnten es gewesen sein!“
 
Hannah Arendt und ihre Mutter werden verhaftet, aber es gelingt ihnen, nach Prag zu entkommen. Von dort geht es weiter nach Paris – die zweite Flucht. Hier trifft Hannah ihren zweiten Ehemann Heinrich Blücher und vertieft die Freundschaft mit dem Philosophen Walter Benjamin. Ihr Leben besteht aus der Dreieinigkeit Lieben, Denken, Handeln – und Krimstein stattet seine Hannah mit drei Armen auf jeder Körperseite aus, in einer der sechs Hände die unvermeidliche Zigarette.
 
Handeln heißt auch, Handlungsspielräume zu nutzen, wo sie sich bieten – es gelingt Hannah Arendt, aus dem Internierungslager im südfranzösischen Gurs und schließlich in die USA zu fliehen. Auf den Tod des Freundes Walter Benjamin reagieren Hannah und Heinrich, indem sie sich gegenseitig aus dessen letztem Manuskript vorlesen: „Der Engel der Geschichte hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. ... Aber ein Sturm ... treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft ...“   
 
In New York angekommen, profiliert sich Hannah Arendt als Kämpferin für ein streitbares, widerständiges Judentum. Ein Abgrund tut sich für sie auf, angesichts der Berichte über deutsche Vernichtungslager, in denen Millionen Juden und Jüdinnen ermordet worden waren: „In der Welt ist etwas im Gang, das die Menschen veranlasst, ihre eigene Freiheit zu kannibalisieren, und während sie dies tun, verwandeln sie andere Menschen in eine Deponie. Wie funktioniert das? Und warum?“

Ohne Geländer

Um das und mehr herauszufinden, braucht es ein „Denken ohne Geländer“ – Hannahs dritte Flucht führt sie weg von der Philosophie Heidegger’scher Prägung hin zur politischen Theorie und zur Suche nach einem Ausweg aus den Mustern totalitärer Systeme. Freiheit, das ist für sie „eine Milliarde Wahrheiten, die öffentlich vertreten werden, in jedem Augenblick. Ein Durcheinander? Na und? Dann schau dir die Alternativen an.“  Und was meint Augustinus, der spätantike Kirchenlehrer, über den Hannah Arendt promoviert hatte? „Mir gefällt das“, gesteht der Philosoph beim gezeichneten Plausch auf der Parkbank - und schnorrt von ihr eine Zigarette.  
 
Im Nachwort hofft Ken Krimstein, dass er es schafft, eine neue Leserschaft an Hannah Arendts bewegtes Leben heranzuführen, und sein Buch dazu einlädt, sich direkt mit ihrem Denken auseinanderzusetzen. Eine so kunstvoll gestaltete, pointierte und kundige Einladung  zum Eintritt in ein auch heute aufregendes Denkgebäude erhält man selten.
Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt, S. 14-15 © Ken Krimstein / dtv
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Ken Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt
München: dtv, 2019. 244 S.
ISBN 978-3-423-28208-6

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