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Virtuelle Realität und Kunst
Virtuelle Realität und immersive Medien in der lettischen Kunst

Zane Zelmene „Simulacrum“. Ausstellungseröffnung in der Galerie RIXC am 22. Februar 2018
Zane Zelmene „Simulacrum“. Ausstellungseröffnung in der Galerie RIXC am 22. Februar 2018 | Foto: Kristīne Madjare © RIXC

Technologien, in die man eintauchen kann, dringen stark in die lettische Kunst vor und immer mehr Künstler erschaffen Kunstwerke in der virtuellen Realität (Virtual Reality, VR) und der erweiterten Realität (Augmented Reality, AR) und erweitern so die Grenzen der physischen Erfahrung des Betrachters.

Von Anna Priedola

Einer der ersten lettischen Künstler, der sich seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts mit der Erforschung des virtuellen Raums und der Schaffung von dreidimensionalen Bildern in der Kunst beschäftigt, ist Jānis Garančs, der sein Diplom in audiovisuellen Medien an der Kunsthochschule für Medien in Köln (KHM) erhielt.  Mit stereoskopischen und oftmals mehrkanaligen Videoprojektionen entführt der Künstler den Betrachter in malerische Datenlandschaften und vielschichtige Informationsräume. Im lettischen Kanon zeitgenössischer Kunst und der Sammlung des im Entstehen befindlichen lettischen Museums für zeitgenössische Kunst ist J. Garančs als Innovator aufgeführt. Derzeit arbeitet der Künstler an einer fesselnden Videoinstallation, in der die Schwankungen des globalen Aktienmarkts dargestellt werden – virtuelle Datenströme, welche die physische Realität stark ins Wanken bringen und das Leben vieler Menschen erschüttern können.
 
Nun, da VR-Technologien leichter zugänglich und vergleichsweise günstig geworden sind, wenden sich auch andere Künstler in Lettland der Erforschung der Möglichkeiten der virtuellen und erweiterten Realität zu. Die innovativen Kuratoren der lettischen digitalen Kunst, die Leiter des Zentrums für Neue Medien-Kultur RIXC Rasa Šmite und Raitis Šmits, organisierten 2017 das Kunst- und Wissenschaftsfestival Virtualitātes un realitātes („Virtualitäten und Realitäten“) in Riga. In dessen Zentrum standen eine vielseitige Ausstellung mit Werken in VR, AR und anderen Medien über virtuelle Werte und Erscheinungen im digitalen Zeitalter sowie eine der Untersuchung dieses Themas gewidmete internationale Konferenz von Medienkünstlern und -theoretikern unter dem Namen OPEN FIELDS 2017. Auch nach dem Festival organisiert das RIXC regelmäßig Kunstausstellungen in VR und anderen immersiven Medienformen, an denen lettische Künstler teilnehmen, darunter die Ausstellung Mikropasauļu svārstības („Die Schwankungen der Mikrowelten“, 2017), die aus dem langfristigen Kunst- und Forschungsprojekt zur Gewinnung nachhaltiger Energie entstand. Dabei konnte der Betrachter in einem 360°-Video um sich herum Visualisierungen der unsichtbaren, aber in der Mikrowelt des Sumpfes immer vorhandenen Prozesse entdecken.

PERSPEKTIVÄNDERUNGEN

Auch die Künstlerin Zane Zelmene ermöglichte es den Besuchern des RIXC-Festivals „Virtualitäten und Realitäten“, in der Installation Microcosmos (2017) durch die VR-Brille die Natur aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Durch die VR-Brille konnte sich der Betrachter die Oberfläche eines Steins aus der Sicht eines mikroskopischen Wesens anschauen und dann seine veränderte Wahrnehmung bei der Betrachtung des Steins in der Galerie damit vergleichen. In der Personale Simulacrum (2018) wiederum hatte die Künstlerin eine Traumwelt als VR-Erfahrung erschaffen, in der der Betrachter fliegen und sich zwischen verschiedenen, in technischen Geräten und der Erinnerung gespeicherten sowie selbst erschaffenen „Schauplätzen“ hin und her teleportieren konnte. Durch immersive Medien kann man die von flachen, zweidimensionalen Bildern in den gewohnten Medien geschaffenen Vorstellungen ändern – die „Schauplätze“ in Z. Zelmenes Werk sind sphärisch, und der Betrachter kann diese 360°-Fotografien oder Realitätsblasen betreten sowie sie werfen, fangen und damit spielen.
 
Alvis Misjūns hat ebenfalls ein VR-Spiel in ein Kunstwerk integriert, indem er in der spielerischen Installation Viedais dārzs („Der intelligente Garten“, 2019) ein lettisches Gehöft auf dem Land rekonstruiert hat, wo bei Sonnenaufgang das Gemüse erwacht und herumläuft – Gurken, Karotten und die für Letten so wichtigen Kartoffeln –, welches der Betrachter mit Gärtnerhandschuhen an seinen virtuellen Händen dann versuchen kann, einzufangen. Die Rekonstruktion historischer Gehöfte in 3D wird auch von den Angestellten des lettischen ethnografischen Freilichtmuseums als bedeutende Ressource wertgeschätzt, durch die man Veränderungen am Zustand eines Gebäudes und dessen Absinken im Boden in einem bestimmten Zeitraum nachvollziehen kann.

FLUCHT AUS DER PHYSISCHEN REALITÄT

Eine Generation der Digitalmedien-Künstler entsteht auch in Liepāja, wo das Zentrum für elektronische Kunst und Medien E-Lab und das Labor für Kunstforschung der Universität Liepāja (MPLab) regelmäßig verschiedene Ereignisse zu neuen Medien und Klangkunst organisieren. Diese Generation ist in einer teilweise virtuellen und global vernetzten Welt aufgewachsen und kann daher als Digital Natives bezeichnet werden. Die Lebenserfahrung der jungen Leute zeigt, dass sich die Technologien außerordentlich schnell entwickeln und ihre Funktionsweise für einfache Anwender nicht zu verstehen ist. Eine solche Welt ist sehr unbeständig und zudem von der Sorge über den bedrohlichen Klimawandel durchdrungen. In ihren Kunstwerken erschaffen die jungen Künstler VR-Umgebungen, in denen der Betrachter eine spekulative und dystopische Zukunftsvision erleben und sozusagen am eigenen Leib erfahren kann, z.B. durch einen Besuch in der virtuellen Realität des Apokalypsemuseums, in dem die Materialität der Computergrafiken betont ist – rohe Polygone und inhaltslose Formen. Die Künstlerin Ieva Vīksne entwickelt in ihrer individuellen kreativen Tätigkeit die VR-Kunstwerk-Serie Transitions („Übergänge“) – in Transition I (2017) kann der Betrachter scheinbar eine Nachtod-Erfahrung machen, in Transition II (2018) das Hochladen in ein von künstlicher Intelligenz gesteuertes System.
 
Für eine vollwertige Erfahrung in der virtuellen Realität ist auch ein interaktives, der dreidimensionalen Welt entsprechendes Klangbild sehr wichtig. Dies wird vom Klangkünstler Māris Dejus, ebenfalls aus Liepāja, sichergestellt, der z.B. für die VR-Umgebung Kādā ostas pilsētā („In einer Hafenstadt“, 2017) das gleichnamige Gedicht von Artis Ostups rekonstruiert hat. Der Betrachter kann die im Gedicht beschriebene Landschaft erfühlen und meditativ zwischen den Booten und den im Wind schaukelnden Bäumen umherwandeln, er fühlt das Prickeln auf seiner Haut und möchte diesen friedlichen Ort gar nicht verlassen.

ERWEITERTE REALITÄT – WENN DAS FÜHLBARE UND DAS IMAGINÄRE VERSCHMELZEN

Der Medienkünstler Gints Gabrāns erschuf mit Übertretung physikalischer sowie menschengemachter Gesetze im Rahmen des Kunstprojekts SAN (2016-2018) virtuelle Riesenskulpturen und präsentierte diese in Riga, in ländlichen Gegenden Lettlands und selbst in den Kunstzentren der Weltmetropolen einhergehend mit der Frage, was „real“ sei. Diese Skulpturen konnten von Betrachtern über Smartphones und andere mobile Geräte mit einer vom Künstler programmierten App in erweiterter Realität angesehen werden.
 
Immer mehr virtuelle und imaginäre Konstrukte werden zu einem Teil der menschlichen Realität, z.B. werden die Wirrungen der Bürokratie in der AR-Installation Transrealitātes Zirgu ielā („Transrealitäten in der Zirgu Straße“, 2018) genauso riesig wie Gabrāns‘ virtuellen, gekrümmten Wolkenkratzer. Daher benutzen die Künstler entsprechende Medien – die virtuelle und die erweiterte Realität – um ein Leiden im digitalen Zeitalter auszudrücken.

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