Multiperspektivische Illustrationen
Wie Sprichwörter verbinden

Collage – Illustrationen von Beatrice Davies (oben links), Nik Neves (oben rechts), Anjali Mehta (unten links), Jinyoung Choi (unten rechts)
Collage – Illustrationen von Beatrice Davies (oben links), Nik Neves (oben rechts), Anjali Mehta (unten links), Jinyoung Choi (unten rechts) | Illustrationen: © Beatrice Davies (oben links), Nik Neves (oben rechts), Anjali Mehta (unten links), Jinyoung Choi (unten rechts)

Es gibt viele Redewendungen und Sprichwörter, die wir fast täglich benutzen ohne darüber nachzudenken, was dahintersteckt. Bei vielen von ihnen haben wir sofort ein Bild im Kopf – manchmal ist das Bild unverständlich, unterhaltsam oder gar schräg. Redewendungen sind dabei ein fester Bestendteil jeder Sprachkultur. Vier Künstler*innen nähern sich jeweils einer anderen Sprachkultur in Form von Illustrationen an. Auf diesem Weg sind sich Beatrice Davies aus Deutschland und Nik Neves aus Brasilien nähergekommen. Auf der anderen Seite versuchen Anjali Mehta und Jinyoung Choi mit dem Zeichenstift kulturelle Distanzen zu überwinden. Die Ergebnisse offenbaren trotz aller geografischen Ferne die eine oder andere Gemeinsamkeit.

Von Beatrice Davies, Nik Neves, Anjali Mehta und Jinyoung Choi

„Cada macaco no seu galho“

Illustration: „Cada macaco no seu galho“ von Beatrice Davies
Illustration: „Cada macaco no seu galho“ von Beatrice Davies | Illustration: © Beatrice Davies
Im Jahr 1972 nahmen die beiden berühmten Musiker Caetano Veloso und Gilberto Gil das politische Lied Cada macaco no seu galho auf. Geschrieben ungefähr acht Jahre zuvor vom Autor Clementino Rodrigues, bekannt als Riachão (1921-2020), wurde das Lied sofort zum Publikumserfolg in Brasilien. Der aus einem Sprichwort stammende Text enthält sowohl eine Kritik am historischen Rassismus in der brasilianischen Gesellschaft als auch ein Hinweis auf die Distanz zwischen gesellschaftlichen Schichten – jeder Affe auf seinem Ast. Das Lied, das in den folgenden Jahrzehnten von zahlreichen weiteren Musiker*innen interpretiert wurde und als Klassiker der Música Popular Brasileira gilt, war im Geist der Pandemie immer da: Jede*r steht für sich und die Kluft zwischen Armen und Reichen ist so groß wie nie zuvor.

„Als ich darüber nachgedacht habe, was ich mit dem brasilianischen Sprichwort ‚Cada macaco no seu galho‘ verbinde, was aus dem Portugiesischen wortwörtlich übersetzt ‚Jeder Affe auf seinem eigenen Ast‘ und sinngemäß ‚Jede Person in ihrer eigenen Ecke‘ bedeutet, musste ich an die häusliche Quarantäne und den Lockdown in Deutschland denken, in dem alle Bürger*innen brav auf ihrem Ast sitzen mussten. Als ich mich dann selbst in häuslicher Quarantäne befand, sah ich oft aus dem Fenster hinaus zum Gebäude gegenüber. Dort betrachtete ich, wie sich in jeder Wohnung, ‚auf jedem Ast‘ das Leben unterschiedlich abspielte. Jede einzelne Wohnung war eine kleine Welt an sich. Und die Menschen darin sahen so nah und doch so weit voneinander entfernt aus“, sagt die in Berlin lebende Illustratorin Beatrice Davies.

„Jemandem zu Leibe zu rücken“

Illustration: „Jemandem zu Leibe zu rücken“ von Nik Neves
Illustration: „Jemandem zu Leibe zu rücken“ von Nik Neves | Illustration: © Nik Neves
Im Jahr 1897 forschte der Leipziger Wissenschaftler Carl Flügge daran, wie sich körperliche Nähe und Distanz auf die Übertragung von Krankheitserregern auswirkt. Er vermutete, dass durch Einhaltung von Abständen zwischen den erkrankten und gesunden Menschen die Ansteckungsgefahr verringert werden könnte. Seine These wurde 40 Jahre später von den Wissenschaftler*innen Mithilfe von Hochgeschwindigkeitsaufnahmen bestätigt und schaffte somit die Grundlage für das zukünftige Gebot von Abstandsregeln, die besonders in Zeiten der COVID-19-Pandemie Anwendung finden. So heißt es momentan überall „Abstand halten und niemandem zu sehr auf den Leib rücken. Es zeigt sich also, dass das „Jemandem zu Leibe rücken“ und seine ursprüngliche Bedeutung, jemandem bedrohlich nahe zu kommen, immer noch sehr aktuell sind.

„Den Ausdruck ‚Jemandem zu Leibe zu rücken‘ zu illustrieren, war keine einfache Aufgabe. Aber was ist schon einfach, wenn man Deutsch erst nach seinem 30. Lebensjahr gelernt hat? Ich kann mich nicht erinnern, den Ausdruck in meinen fast sieben Jahren Arbeit zwischen Deutschland und Brasilien je gehört zu haben, und das machte es schwierig, ganz sicher zu sein, ob die Zeichnung tatsächlich den Punkt trifft. Das Verinnerlichen und die Interpretation von Bedeutungen abstrakter Begriffe ist wohl die größte Herausforderung. Sprachliche Feinheiten, die länger brauchen, einen dann aber wirklich das Gefühl geben, in einer Kultur zu Hause zu sein“, so der brasilianische Illustrator Nik Neves.

„Der nahe Nachbar ist besser als der entfernte Verwandte“

Illustration: „Der nahe Nachbar ist besser als der entfernte Verwandte“ von Anjali Mehta
Illustration: „Der nahe Nachbar ist besser als der entfernte Verwandte“ von Anjali Mehta | Illustration: © Anjali Mehta
„Das bekannte koreanische Sprichwort ‚Der nahe Nachbar ist besser als der entfernte Verwandte‘  hat viele Nuancen, die während der Pandemie sehr wichtig wurden. Sicherlich hat jeder auch seine eigene, persönliche Wahrnehmung und Erfahrung mit diesem Sprichwort. Wir haben gesehen und erlebt, wie Menschen, die in unserer Nähe lebten, im Alltag immer mehr an Bedeutung gewannen: von täglichen Gesprächen und Treffen bis hin zu gemeinsam verbrachten Tagen, von gemeinsamem Kochen bis zu gegenseitiger Hilfe, wenn jemand krank wurde. Und das Schöne an diesem Sprichwort ist, dass es nicht nur eine Erfahrung in Korea war, sondern eine, die überall auf der Welt beobachtet und erlebt wurde. Mein Kunstwerk zeigt einen besonders häufigen Akt der Freundlichkeit: Ein älteres Ehepaar wird von einem Nachbarn mit Lebensmitteln und Einkäufen unterstützt, während es per Videoanruf mit dem Sohn telefoniert. Der wohnt in einem anderen Land und kann nur durch virtuelle Anrufe Trost spenden. Mehr ist nicht möglich“, so Anjalia Mehta.  

„Mit festem Schritt“

Illustration: „Mit festem Schritt“ von Jinyoung Choi
Illustration: „Mit festem Schritt“ von Jinyoung Choi | Illustration: © Jinyoung Choi
„Als ich das indische Sprichwort gelesen habe, entfaltete sich vor meinen Augen eine weit entfernte Gipfellandschaft. Die Sonne geht unter und obwohl es noch ein weiter Weg bis zum Ziel ist, kann man den Berg überqueren, solange man langsam einen Schritt nach dem anderem geht. Wegen der Coronapandemie sind viele Dinge undurchsichtig geworden und in diesen beklemmenden Zeiten hoffe ich, dass wir die Schönheit um uns herum und die kostbaren Werte mitnehmen, so dass wir auf dieser langen Reise nicht erschöpfen und Schritt für Schritt weiter gehen können. Mit diesem Wunsch im Herzen habe ich dieses Bild gemalt“, sagt Jinyoung Choi.

 
 

Biografien

Anjali Mehta lebt als Künstlerin und Illustratorin in Neu-Delhi, Indien. Mit ihren Illustrationen stellt sie verschiedene Formen, Szenen und Beziehungen dar, die durch ihre persönlichen Erfahrungen im modernen Leben geprägt sind. Sie widmet sich gern der menschlichen Psychologie und den Spuren, die Menschen in der Welt hinterlassen. Ihre schwungvollen Kunstwerke werden durch den starken Einsatz von Pigmenten, Texturen und Mustern zum Leben erweckt, wobei sie verschiedene Materialien und Mittel erkundet. Sie lässt sich von starken Frauen, Reisen, Fotografie und Menschen inspirieren.

Beatrice Davies wurde 1990 in Italien geboren und arbeitet als Illustratorin und Comiczeichnerin in Berlin, Deutschland. Nachdem sie 2010 ein Stipendium der School of Visual Arts New York erhalten hatte, begann sie ihr Studium der Illustration. 2015 folge der Beginn eines Studiums im Bereich Visuelle Kommunikation an der Kunsthochschule Weißensee Berlin. Im Jahr 2016 wurde sie mit einem ComicInvasionBerlin-Stipendium ausgezeichnet, das ihr die Zusammenarbeit mit der Obdachlosenzeitung strassen|feger ermöglichte. Ihre erste Graphic Novel Der König der Vagabunden – Gregor Gog und seine Bruderschaft, die 2019 im avant-verlag erschienen ist, war für den Leibinger Comicpreis 2019 nominiert. Ihr zweiter Comic, A Child's Journey, erschien im Frühjahr 2020 im JaJa Verlag.

Jinyoung Choi, in Seoul ansässig, arbeitet als Illustratorin für diverse Medien. In den sozialen Medien teilt sie oft Zeichnungen von alltäglichen Dingen, die nervöse Gemüter entspannen sollen, wobei sie unter dem Künstlernamen ‚Healthy Drawing‘ (gesundes Zeichnen) aktiv ist. 

Nik Neves ist ein brasilianischer Zeichner, Comickünstler und Illustrator. Er ist Produzent der unabhängigen Zeitschrift Inútil, in der er Comic-Experimente und graphische Erzählungen publiziert. Als Illustrator arbeitet er regelmäßig für Zeitschriften und Verlage in Brasilien, Deutschland und England.

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