Geschichte und Sexualität
Die kolonialen Wurzeln der Homophobie

Rassismus – Luiz Mott auf der Demonstration gegen den Präsidenten Jair Bolsonaro im Juli 2021 in Salvador
„Bolsonaro Genocide“: Luiz Mott auf der Demonstration gegen den Präsidenten Jair Bolsonaro in Salvador im Juli 2021 | Foto (Detail): Grupo Gay da Bahia Archiv

Der brasilianische Anthropologe Luiz Mott ist eine Symbolfigur der Geschichte des Kampfes um die Bürger*innenrechte der queeren Bevölkerung in Lateinamerika. In seinen Forschungen stellt er fest, dass die Verfolgung aus sexuellen Motiven mit dem Beginn der Kolonisierung des Kontinents zusammenfällt.

Von Anna Azevedo

Es ist Juni 1979 und der Anthropologe Luiz Mott und sein Freund schauen am Porto da Barra in Salvador, Nordostbrasilien, hinaus auf den Sonnenuntergang. Da greift ihn ein Mann an und schlägt ihn ins Gesicht. „Das hat mich tief geprägt. Ich hatte noch nie Prügel bekommen, jedenfalls nicht als Erwachsener und schon gar nicht aus homophoben Motiven“, erzählt Mott. Der Gewaltakt war ein Alarmsignal: „Wir mussten uns organisieren, um die freie Ausübung unserer Sexualität und unserer Rechte zu gewährleisten“, erinnert sich der Wissenschaftler.
 
Anfang des Jahres erst hatte Mott die Universität von Campinas im Bundesstaat São Paulo verlassen und einen Lehrstuhl für Anthropologie an der Bundesuniversität von Bahia angenommen. Im Gepäck hatte er eine damals noch kaum ausgearbeitete Studie über sexuelle Verfolgung zu Zeiten der Inquisition in Lateinamerika. Der Angriff auf ihn fachte seine Neugier auf die Dokumente neu an, und so tauchte er als Professor tief ein in die Archive der Inquisitionsverfahren. „Ich wollte meinen Aktivismus auf eine Grundlage stellen, den Intoleranten anhand historischer und anthropologischer Wahrheit beweisen, dass es Homosexualität immer schon gab und gleichzeitig die kolonialen Wurzeln der Homophobie herausarbeiten“, sagt Mott.

Ein Tabu der patriarchalen Gesellschaft

Aus der minutiösen Recherche in den Beständen der Heiligen Kongregation, die im Nationalarchiv Torre do Tombo in Lissabon aufbewahrt sind, entstand ein Pionierwerk der lateinamerikanischen Anthropologie, das ein 500-jähriges Schweigen über ein Tabu der patriarchalen Gesellschaft beendete: die Freiheit der Liebe zwischen Menschen des gleichen Geschlechts im präkolumbischen Amerika. Jedenfalls brachte es die Behauptung zu Fall, homosexuelles Handeln sei in der Neuen Welt erst mit den Kolonisatoren an Land gegangen. Und es macht deutlich, wie koloniale Zusammenhänge in Repression gegen nichtbinäre Sexualbeziehungen zwischen einheimischer Bevölkerung und Kolonist*innen mündeten, die noch heute in homophobem Verhalten ihren Ausdruck findet.

„Homophobie ist ein Ergebnis von Machismo und Sklaverei.“

Luiz Mott

Als 1492 die ersten Europäer in Amerika einfielen, trafen sie dort auf eine Bevölkerung, die sexuell freizügig lebte. Die Berichte der ersten Reisenden sind die wichtigste Quelle für Sitten und Gebräuche der Einheimischen jener Zeit. In seiner Chronik Historia General y Natural de las Indias (1535) schildert der Spanier Gonzalo Fernandez de Oviedo, dass in Europa gemeinhin als Sodomie bezeichnete Praktiken von der Karibik bis nach Kolumbien frei ausgelebt wurden. Im Brief von Pero Vaz de Caminha an den König von Portugal über die Ankunft der Portugiesen in Brasilien (1500) beschreibt dieser die Nacktheit der indigenen Frauen, die keinerlei Scham hätten, ihre Körper zu zeigen. Die Tupinambá, die damals den größten Teil der brasilianischen Küste besiedelten, hatten eigene Worte für homosexuelle Personen: tibira für Männer, çacoaimbeguira für Frauen. In den bekannten Maya-Codizes (um 1230) ist von sexuellen Erfahrungen unter Personen des gleichen Geschlechts die Rede.

Machismo und extreme Gewalt

Innerhalb der in der Neuen Welt installierten Gesellschaft, so Mott, stellten die Inhaber der Macht – weiße heterosexuelle Männer – lediglich zehn bis 20 Prozent der Bevölkerung. Um die Masse an Schwarzen, Indigenen und als Kolonist*innen eingewanderten Männer und Frauen zu kontrollieren, schreckten die Kolonisatoren nicht vor extremer Gewalt zurück und setzten eisern die Gesetze der katholischen Könige der Iberischen Halbinsel durch, die sich auf Angst, Unterdrückung des Individuellen, Zwang und Tod gründeten.
 
Homosexualität wurde von der Krone als Majestätsbeleidigung und von der Kirche als abscheuliche, mithin unaussprechliche Sünde betrachtet. Die Tribunale der Inquisition setzten sich an die Spitze der Verfolgung von Sodomist*innen. „Einer Schwarzen oder Indigenen Person intim zugetan zu sein“, war daher, so Mott, „ein Bruch des von der Kolonisierung verlangten gesellschaftlichen Abstandsgebots. Die koloniale Ideologie implizierte Eroberung und führte zu einem machistischen Verhalten, das im spanischen und portugiesischen Amerika noch brutaler war als auf der Iberischen Halbinsel zur Zeit der Entdeckungen. Homophobie ist ein Ergebnis von Machismo und Sklaverei.“

„Sogar der Präsident erklärt öffentlich: ‚Mir wäre lieber, mein Sohn wäre tot, als dass er schwul wäre.‘ Ein diskriminierender Satz, den wir seit Jahrhunderten von Nord bis Süd in Brasilien hören.“

Luiz Mott

Die vollständigste Sammlung an Prozessakten im portugiesischen Nationalarchiv bezieht sich auf die Inquisition. Mott untersuchte viertausend Anzeigen, davon 283 der Sünde der Sodomie bezichtigte Brasilianer oder in Brasilien ansässige Portugiesen, die dafür zu Strafen wie Verbannung oder Zwangsarbeit auf den Galeeren verurteilt wurden. Auch wenn kein einziger brasilianischer Homosexueller zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt wurde, konnte die Recherche zumindest die Hinrichtung zweier Homosexueller im kolonialen Brasilien nachweisen: 1613 banden die französischen Eroberer in São Luís do Maranhão einen timbira der indigenen Tupinambá vor die Mündung einer Kanone, mit der sein Körper zerfetzt wurde, und 1678 wurde ein junger Sklave in der Stadt Sergipe del Rei wegen der Anschuldigung der Sodomie totgepeitscht. Lesbischen Frauen gegenüber war die Repression laut Mott weniger rigoros. 1649 strich die Inquisition Frauen ganz von der Liste der Verbrechen der Sodomie.

Homoaffektivität in Lateinamerika

Rassismus – Protest von Luiz Mott und einem Mitglied der Grupo Gay da Bahia vor dem Justizpalast in Salvador gegen hassbasierte Morde an Menschen aus der queeren Szene in Brasilien.
„Homosexuelle verlangen Gerechtigkeit“: Protest von Luiz Mott und einem Mitglied der Grupo Gay da Bahia vor dem Justizpalast in Salvador gegen hassbasierte Morde an Menschen aus der queeren Szene in Brasilien im Jahr 1995. | © Grupo Gay da Bahia Archiv
Luiz Motts Forschungsarbeiten über Homoaffektivität in Lateinamerika dient auch der Unterfütterung des Kampfes der Homosexuellen in Brasilien. Im Februar 1980, wenige Monate nach dem Angriff auf ihn in Salvador, gründete der Anthropologe mit 17 weiteren Personen die Grupo Gay da Bahia (GGB), die älteste noch aktive Bewegung für die Rechte der queeren Bevölkerung in Lateinamerika. Ihr sind entscheidende Veränderungen in der brasilianischen Gesellschaft zu verdanken, etwa die Streichung des Begriffs Homosexualität von der Liste der vom Nationalen Medizinrat offiziell beschriebenen Krankheiten, in der nichtbinäre sexuelle Orientierung noch bis 1985 als sexuelle Abnormität und Verirrung klassifiziert war.
 
Im Jahr 1989 Protest von Luiz Mott und Mitgliedern der Grupo Gay da Bahia vor dem Justizpalast in Salvador gegen die willkürliche Verhaftung von Transvestiten.
„Homophobie ist eine Krankheit“: Protest von Luiz Mott und Mitgliedern der Grupo Gay da Bahia vor dem Justizpalast in Salvador gegen die willkürliche Verhaftung von Transvestiten im Jahr 1989. | © Grupo Gay da Bahia Archiv
Der heute 75-jährige Mott erinnert sich, dass der Begriff „gay“ damals eine Art Sammelbezeichnung war für die unterschiedlichsten sexuellen Orientierungen. Eine der vielen Aktivitäten der Grupo Gay da Bahia in den vergangenen 41 Jahren ist auch die Dokumentation der seit 1990 gewaltsam zu Tode gekommenen queeren Personen allein wegen ihrer „Abweichung von einem gesellschaftlich auferlegten und auf der Grundlage von Heteronormativität, Binarität und Cis-Normen referenzierten Muster“, wie es im Bericht der Gruppe für 2020 heißt.

Hassrede

Ein neuer Blick auf die Geschichte Brasiliens macht deutlich, dass es bis zum Vorabend der Unabhängigkeit dauerte, bis Homosexualität mit dem Ende der Inquisition im Jahr 1821 kein Verbrechen mehr war. „Es war der erste Schritt auf dem Weg zu Bürger*innenrechten für Homosexuelle“, sagt Mott. Die Verfolgung nahm allerdings auch unter der neuen rechtlichen Situation nicht ab. Im Gegenteil. Trotz wichtiger zivilgesellschaftlicher Errungenschaften wie der Strafbarkeit von Transphobie, der Ehe für alle, der Anerkennung des selbst gewählten Namens und dem Recht auf Geschlechtsangleichung steht Brasilien weltweit immer noch an der Spitze der Länder mit den meisten Morden und Suiziden an und innerhalb der queeren Community.
 
Rassismus – Luiz Mott bei der Feier anlässlich der Anerkennung von Grupo Gay da Bahia als gemeinnützige Organisation in dem Rathaus von Salvador im Jahr 1985
Luiz Mott bei der Feier anlässlich der Anerkennung von Grupo Gay da Bahia als gemeinnützige Organisation in dem Rathaus von Salvador im Jahr 1985 | © Grupo Gay da Bahia Archiv
Als Eminenz der Homosexuellenbewegung Brasiliens warnt Mott, dass sich die Hassrede gegen queere Personen in den vergangenen zwei Jahren verschärft habe. „Sogar der Präsident erklärt öffentlich: ‚Mir wäre lieber, mein Sohn wäre tot, als dass er schwul wäre.‘ Ein diskriminierender Satz, den wir seit Jahrhunderten von Nord bis Süd in Brasilien hören.“ Gesellschaftlich verlangt die Situation, so Mott, im Moment besondere Aufmerksamkeit. Nicht einmal die irre Inquisition in Brasilien habe Homosexuelle zum Tode verurteilt, mahnt er. Anders als heute, wo Zeitungsmeldungen über Morde an Menschen, die ihre Sexualität nicht verstecken, keine Seltenheit mehr sind.

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