Film Berlin – Ecke Schönhauser

Berlin – Ecke Schönhauser © DEFA-Stiftung link

Mi, 25.04.2018

20:00 Uhr

Goethe-Institut Amsterdam

Hier ist die Bildunterschrift

East German Cinema

(DDR 1957)
Länge: 81 Min.
Regie: Gerhard Klein
Sprache Film: Deutsch mit engl. UT
Sprache Einführung: Englisch

Mit dem Titel seines dritten Spielfilms benennt Gerhard Klein auch gleich den wichtigsten Schauplatz. Die maßgeblichen Szenen sind im Ost-Berliner Prenzlauer Berg angesiedelt. Hier, inmitten des alten Arbeiterbezirks, trifft sich unter dem Viadukt der Hochbahn allabendlich eine Gruppe Jugendlicher, hört Musik, tanzt dazu, übt sich im Kräftemessen und Flirten. Als eines Abends eine Straßenlaterne zerstört wird, greift die Polizei ein. Die Jugendlichen werden vernommen, dann aber mit ermahnenden Worten wieder entlassen. Der Vorfall gerät zum Anlass einer Spaltung innerhalb der Clique. Während Karl-Heinz, der Anstifter des Steinwurfs, mehr und mehr sein Heil im Westen und dunklen Geschäften sucht, beginnt der junge Arbeiter Dieter zunehmend über sich selbst zu grübeln; er findet schließlich seinen Platz in der Wirklichkeit, nicht zuletzt wegen seiner Liebe zu Angela. Kohle, an dem die Geldstrafe wegen Rowdytums hängen bleibt, flüchtet vor den Schlägen seines Stiefvaters ins Reich der Illusionen; so oft er kann, verbringt er seine Zeit in den nahen Kinos West-Berlins. Durch die Auseinanderentwicklung der einstigen Freunde spitzt sich die Situation zu, Entscheidungen werden unaufschiebbar – so wie früher wird es nie wieder sein.

Berlin – Ecke Schönhauser stellt eine der wichtigsten Ausnahmeerscheinungen des DEFA-Filmschaffens in den 1950er-Jahren dar. Nach dem Tod Stalins im März 1953 und der Einleitung des kurzen kulturpolitischen Tauwetters unter Chruschtschow hatte die sowjetische Kinematografie wieder zu einer eigenständigen Sprache gefunden. Michael Kalatosows Antikriegsfilm Die Kraniche ziehen (1956) fungierte als Initialzündung eines von Demagogie befreiten Kinos, das wieder den einzelnen Menschen mit seinen Nöten und Sehnsüchten in den Mittelpunkt rückte. Wie in den anderen sozialistischen Bruderstaaten auch, fiel diese Neuausrichtung in der DDR auf fruchtbaren Boden. Erstmals konnten hier künstlerische Positionen vertreten werden, die zuvor noch der Zensur zum Opfer gefallen waren. Gerhard Kleins Film bekennt sich ganz offen zum Instrumentarium des Neorealismus, der in Italien ab Mitte der 1940er-Jahre mit Filmen von Luchino Visconti, Vittorio de Sica oder Roberto Rossellini Triumphe gefeiert und die internationale Filmsprache erneuert hatte. Wie seine italienischen Kollegen dreht Klein nicht länger in der aseptischen Atmosphäre hochwertig ausgestatteter Studios, sondern begibt sich mitten in das Leben seiner Zeitgenossen. Indem er seine Helden/innen in den Straßen Berlins agieren lässt, schließt er Beschönigungen des Alltags von vornherein aus, seine Bildsprache gewinnt dadurch stark an Authentizität. Schon die erste Einstellung des Films setzt programmatische Zeichen. Noch während des Vorspanns verdichten sich vorüberfahrende Straßenbahnen, eilende Passanten, ein Kohlenlieferant mit Handwagen sowie zahllose andere Einzelbewegungen zu einem Bild pulsieren den Verkehrs. Die im Zentrum des Films stehende Gruppe Jugendlicher wird als Teil dieser Wirklichkeit eingeführt, ihr Handeln und Denken signalisiert somit eine organische Zugehörigkeit zur vorgefundenen Realität. Auch die Benutzung von Alltagsprache, die dokumentarisch eingesetzte Kamera oder die oft direkt aus dem Geschehen kommende Realmusik kennzeichnen Kleins – für die DEFA sehr ungewöhnlichen – Stil. Die meisten Filme jener Zeit waren stilistisch noch dicht an die Traditionen der starren Ufa-Ästhetik gekoppelt. Noch wichtiger sind jedoch die inhaltlichen Zeichen, die Gerhard Klein setzt. Zwar ist Berlin – Ecke Schönhauser kein umstürzlerischer Film, er bewegt sich durchweg im staatspolitischen Kanon und bedient bewährte Ost-West-Gut-Schlecht-Schemata. Doch wie keine andere filmische Arbeit jener Zeit reizt er die vorhandenen Spielräume aus. Er wirbt vehement um Verständnis für jene jungen Menschen, die in zahlreichen anderen Publikationen und Filmen zuvor und auch später als "untypisch" für das sozialistische Gemeinwesen klassifiziert wurden. Denn es handelt sich um unangepasste Jugendliche, die sich den Freizeitangeboten der FDJ bewusst entziehen, nach westlicher Musik aus Kofferradios auf öffentlichen Plätzen tanzen und sich in ihrer Kleidung, Haartracht und Gesten an Vorbildern orientieren, die von der "feindlichen" Unterhaltungsindustrie geliefert wurden. Von Karl-Heinz abgesehen, der als Anstifter des Steinwurfs durchweg mit negativen Attributen versehen wird, sind die anderen Mitglieder der Gruppe ausnehmend positiv gezeichnet. Sie sind mit dem späteren Brecht-Schwiegersohn Ekkehard Schall in der Rolle des Dieter, dem aus Kleins Jugendfilm Alarm im Zirkus (1953) bekannten Ernst-Georg Schwill als Kohle und Ilse Pagé als Angela mit Sympathieträgern/innen besetzt. Ihr Anderssein fasst Dieter in folgenden Sätzen zusammen: "Warum kann ich nicht leben, wie ich will? Warum habt ihr lauter fertige Vorschriften? Wenn ich an der Ecke steh, bin ich halbstark, wenn ich Boogie tanze, bin ich amerikanisch. Und wenn ich das Hemd über der Hose trage, ist es politisch falsch." Nur selten wurde ein derart differenziertes Jugendbild in der DDR zugelassen.
 

Mit einer Einführung des Filmexperten Jeffrey Babcock.

In Zusammenarbeit mit Jeffrey's Underground Cinemas.

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