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Künstlerresidenz 2022
Residenzkünstlerin Tagebuch

Clara Ehrenwerth Travel
© Clara Ehrenwerth

Clara Ehrenwerth war 2022 Residenzkünstlerin am Goethe-Institut Wellington. Hier berichtet sie über ihre Eindrücke in Wellington und anderswo.

PART 4: I GUESS THIS IS GOODBYE

Es ist der dritte Tag im neuen Jahr, und ich sitze in Sandalen am Auckland Airport und bereite mich darauf vor, in den deutschen Winter zurückzufliegen. Vor mir liegt die Startbahn, hinter mir liegen neun Wochen am anderen Ende der Welt, das sich sehr schnell kein bisschen mehr nach dem anderen Ende der Welt angefühlt hat.
Obwohl ich wirklich keine Ahnung von Logistik habe, fällt es mir leichter, das geschäftige Rumrangiere auf dem Vorfeld des Flughafens sinnvoll zu überblicken als die letzten sechzig Tage. So viele neue Eindrücke, Gedanken, Begegnungen.
Ich habe Ohrwürmer von den Gesängen der Tūī im Botanischen Garten, dem Krächzen der Kākā und von den vielen Vogellauten, die ich immer noch nicht zuordnen kann. Ich habe Ohrwürmer von der elektronischen Selfcheckout-Stimme im Supermarkt: „Quantity needed“, „Please place item in the bagging area“, „Thank you for shopping at Countdown“. Ich hatte tagelang einen Ohrwurm von „Purea Nei“ und habe versucht, eine Aufnahme davon zu finden, aber nichts im Internet kommt auch nur annährend an die Versionen heran, die irgendwo von allen zusammen gesungen werden, die gerade da sind - vor einer Lesung, bei einer Feier, in der Abendsonne. (Während ich das schreibe, setzt sich die Melodie natürlich schon wieder in meinem Ohr fest.)
Ich bin den City to Sea Walkway gegangen und den Escarpment Track, war im Otari Wilton’s Bush und in Zealandia und im Zoo, und auf dem Eastern und dem Southern und dem Northern Walkway (Western Walkway, wo bist du eigentlich?). Ich stand im Sonnenuntergang am Princess Beach, ich stand im Sonnenuntergang in der Island Bay, und am Atatürk Memorial, und am Mount Kakau. Ich glaube, ich darf jetzt behaupten: Mir fällt keine Stadt ein, die schöner in der Landschaft liegt als Wellington (eventuell nicht mal eine ausgedachte).
Wenn ich nicht gelaufen bin, habe ich voller eingebildetem Einheimischen-Stolz meine Snapper-Card an die Scanner in den Bussen gehalten - ungläubig, dass eine Nahverkehrsfahrt in Aotearoa aktuell etwa ein Sechstel eines deutschen Tickets kostet. Ich habe es trotzdem zum ersten Mal in meinem Leben bereut, keinen Führerschein zu haben, weil man außerhalb der Hauptstadt ohne Auto kaum irgendwo hinkommt. Und, Geständnis: Ich habe das Mülltrennungssystem bis zuletzt nicht verstanden (obwohl Mülltrennung ja auch in Deutschland allererste Bürgerpflicht ist) – wo ist der Kompost? Plastikverpackungen auswaschen? Und warum stellt man den Müll ausgerechnet in der windigsten Stadt der Welt in Tüten auf die Straße?
Ein Glück, dass der Flughafen in Auckland besser organisiert ist als meine Gedanken. Jetzt zum Beispiel wird das Boarding für den Flug nach Singapur ausgerufen. Da muss ich, fürchte ich, gleich mal einsteigen.
Okay, ich geb’s zu: Ein bisschen freue ich mich auch auf die Langeweile, das Gewöhnliche, den Alltag. Nach all den Eindrücken, die wochenlang auf mich eingeprasselt sind, habe ich tatsächlich ein bisschen Sehnsucht danach, wieder tagein, tagaus auf die weiße Wand hinter meinem Schreibtisch zu schauen - in meinem Büro am anderen Ende der Welt.
Mach’s gut, Aotearoa! Auf Wiedersehen, Wellington! Bis bald, irgendwann.

  • Clara Ehrenwert Abschiedsbild © Clara Ehrenwerth

TEIL 3: A VERY DIFFERENT TUNE

Ich blieb wie angewurzelt stehen. Was war das denn? Pfiff da jemand? Über mir?

Ich war, zugegeben, ziemlich übermüdet, weil ich erst vor wenigen Stunden in Wellington angekommen war. Durch den Schleier meiner Müdigkeit wirkte auf meinem ersten neuseeländischen Spaziergang durch den Botanischen Garten sowieso alles etwas irreal. Die unendlich hohen Bäume. Die Palmen im Wind. Die Bolton Street, die so steil ist wie eine Skisprungschanze. Die Autobahn, die direkt durch den Friedhof führt. Aber dieses Geräusch? Tü-tü-tü-tütü-tü. Ein Abendgesang in Moll, gefolgt von einem bestätigenden Schnalzen. Eine Melodie, die – vielleicht mit ein paar Punktierungen – locker die ersten fünf Töne einer Bach-Fuge sein könnten.

Tatsächlich war es aber ein Vogel, der hier gleichzeitig als Komponist und Interpret auftrat – ein tūī, wie ich später im Internet lernte. Ein bisschen sieht er auch aus wie ein eingebildeter Opernsänger mit seinem hochtrabenden weißen Federbüschel am Hals. Natürlich wusste ich vorher, dass Aotearoa eine einzigartige Flora und Fauna hat – aber darauf war ich dann doch nicht vorbereitet: wie anders sich ein Abend, ein Morgen anfühlt, wenn die Vögel einen anderen Sound beisteuern.

In den letzten Wochen habe ich gelernt, dass die tūī alle ihre eigene Melodie singen. Nach meiner Beobachtung sind es tatsächlich meistens fünf Töne, aber ich weiß nicht, ob diese Erkenntnis ornithologisch haltbar ist. In Wellington scheinen melancholische Gesänge zu dominieren. Als ich vergangenes Wochenende in Napier war, sangen die tūī in der Fußgängerzone jedenfalls heiterere Hits. Aber das passt ja auch zum Wetter.

Schon seit dieser ersten Begegnung versuche ich die tūī-Gesänge festzuhalten, weil ich weiß, dass sie mich, wenn ich im Januar in den deutschen Winter zurückreise, immer an die Zeit in Aotearoa erinnern werden. Falls ihr also in den nächsten Wochen jemanden seht, die unter einem Baum steht und einen Arm weit nach oben streckt, um mit ihrem Handy einen tūī -Gesang aufzunehmen, und dabei animierend tūī -Melodien pfeift: das bin ich.

  • Baum mit Tui © Clara Ehrenwerth
  • Tree with Tuis inside 2 © Clara Ehrenwerth
  • tree with tuis inside 3 © Clara Ehrenwerth
  • Tree with Tuis inside 4 © Clara Ehrenwerth

TEIL 2: TO THE NEXT LEVEL

Dies ist eine Sammlung diverser Treppen, die mir in meinen ersten zwei Wochen in Wellington und Umgebung begegnet sind. Es ist allerdings nur eine sehr begrenzte Auswahl.

Ich bin in den letzten vierzehn Tagen so viele Treppen hinauf- und hinuntergestiegen wie noch nie in meinem Leben. In meiner Wahlheimat Leipzig gibt es nur einen einzigen Hügel, den Fockeberg. Er ist kein natürlicher Berg, sondern entstand nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Trümmer der vielen Gebäude, die durch die Bomben zerstört worden waren, wurden ab 1947 von überall aus der Stadt zusammengetragen und zu diesem riesigen, knapp vierzig Meter hohen Haufen aufgeschichtet. Heute ist er mit Bäumen und Wiesen bewachsen und an Silvester ein sehr beliebter Platz, um das Feuerwerk über der Stadt anzuschauen.

In Wellington überwinde ich nun jeden Tag viele Höhenunterschiede. Egal ob ich gerade zum Einkaufen gehe oder eine Wanderung unternehme: Immer ist da eine Treppe, mit der ich das nächsthöhere Level erklimmen kann. Manche führen zu einem fantastischen Ausblick über die Stadt, andere direkt in die Wildnis. Der Escarpment Track an der Kāpiti Coast hat auf zehn Kilometern 1.200 Stufen, und ich glaube, auf dem City to Sea Walkway sind es nicht viel weniger. Im Ōtari-Wilton’s Bush gibt es sogar eine Treppe, in die eine bereits vorhandene Baumwurzel direkt als Stufe eingearbeitet wurde. Wie praktisch!

Ich bin nicht hundertprozentig sicher, aber ich würde behaupten, ich habe inzwischen alle Treppenaufgänge, die den Lambton Quay mit The Terrace verbinden, entdeckt. Mein liebster ist der an der Masons Lane, weil es mich irgendwie rührt, dass dieser eher dunkle und feuchte Aufgang durch die Anbringung der wohnzimmerartigen Lampen aufgehübscht wurde. Ich laufe die 72 Stufen herunter, nur um ein paar Häuser weiter im Inneren des Fitnessstudios wieder auf das anfängliche Niveau heraufzulaufen. Ich sehe keinen Grund, warum irgendjemand in dieser Stadt auf der Stepmill trainieren sollte.

Jetzt muss ich aber los – es gibt noch jede Menge Treppen in der Stadt, die von mir entdeckt werden wollen…
 

  • Treppen 1 © Clara Ehrenwerth
  • Treppen 2 © Clara Ehrenwerth
  • Treppen 3 © Clara Ehrenwerth
  • Treppen 4 © Clara Ehrenwerth
  • Treppen 5 © Clara Ehrenwerth
  • Treppen 6 © Clara Ehrenwerth
  • Treppen 7 © Clara Ehrenwerth

TEIL 1: AS WE FLY INTO THE DAYBREAK

Heute vor zwei Wochen bin ich aufgebrochen. Ich habe einen Koffer, den ich mir extra von meiner Mutter geliehen habe, weil ich so einen großen Koffer gar nicht besitze, mit 26 Kilo Gepäck beladen, und den Rucksack, den ich immer zum Wandern in den österreichischen Alpen mitnehme, mit weiteren 8,5 Kilo. Die größte Herausforderung der gesamten Reise war, den Koffer vom vierten Stock des Altbaus, in dem sich meine Wohnung befindet, durch das Treppenhaus runter auf die Straße zu bugsieren. Verglichen damit waren die restlichen 20.000 Kilometer ein Klacks.

Schritt 1: Eine dreistündige Zugfahrt von Leipzig nach Frankfurt.

Schritt 2: Ein zwölfstündiger Nachtflug von Frankfurt nach Singapur.

Der darauffolgende Tag war der kürzeste Tag meines bisherigen Lebens. Ich habe im Flugzeug gegen 9 Uhr morgens gefrühstückt, und als wir kurz darauf in Singapur landeten, war es schon fast Abend. Ich putzte mir die Zähne in einem sehr sauberen Flughafenbad mit riesigen Spiegeln, entwickelte eine Obsession für die vielen verschiedenen Teppichböden, mit denen der Changi Airport ausgekleidet ist, und schaffte es sogar (u.a. dank meiner neuer Obsession), so ausgiebig durch die Terminals zu spazieren, dass meine Schrittzählerapp eine zufriedene Push-Nachricht geschickt hat.

Schritt 3: Ein zehnstündiger Flug von Singapur nach Christchurch. Dort wurde dann direkt nach dem Abendessen (seit meinem Frühstück waren keine fünf Stunden vergangen) wieder die Nacht eingeläutet. „Please close the blinds“, sagte der Steward, „as we fly into the daybreak.“ Der Tag, der da anbrach, während ich natürlich nicht schon wieder schlief, sondern ziemlich betäubt I’m a Cyborg but that’s okay schaute und Kreuzworträtsel löste, war mein Ankunftstag. Es fehlte nur noch Schritt 4: Nach einer längeren wetterbedingten Wartezeit mit Air New Zealand in einer holprigen Stunde von Christchurch nach Wellington. Ein sehr windiges Willkommen.

Als ich schließlich in meinem Cottage ankam, waren 40 Stunden vergangen, seitdem ich den Koffer in Leipzig die Treppen heruntergewuchtet hatte (auf der Uhr allerdings nur 28). In Wellington bleibe ich jetzt bis Weihnachten, und im Januar geht es dann zurück nach Deutschland. Die Richtlinien der Airline erlauben noch vier Kilo mehr Gepäck – mal sehen, was ich mit zurücknehme.
 
  • Clara Ehrenwerth Travel © Clara Ehrenwerth
  • Clara Ehrenwerth Travel © Clara Ehrenwerth
  • Clara Ehrenwerth Travel © Clara Ehrenwerth
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  • Clara Ehrenwerth Travel © Clara Ehrenwerth
  • Clara Ehrenwerth Travel © Clara Ehrenwerth
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