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Karrieren im Tanz
Transkulturalität statt Multikulti

Im 21. Jahrhundert sind Tänzer und Choreografen überall und nirgends zuhause: Karrieren im Tanz sind international.

Zum prominenten Beispiel die Forsythe Company: Sie umfasst derzeit 22 Tänzer aus elf Nationen. Ihr Kopf und rechter Fuß ist William Forsythe, aufgewachsen in New York, seine Company ist seit 2004 in Dresden und Frankfurt beheimatet. Oder seine Landsfrau, Meg Stuart: Sie lebt in Berlin, ihre Company Damaged Goods operiert von Brüssel aus. 1991 folgte sie einer Einladung zum Klapstuk Festival in Leuven, die ihr ihre erste abendfüllende Choreografie Disfigure Study ermöglichte. Die Resonanz war überwältigend, schließlich verbrachte Stuart mehr Zeit in Europa als in den USA und gründete 1994 in Brüssel ihre Company. Möglich wurde dies nicht zuletzt, weil sie als erste nicht-belgische Choreografin öffentliche Fördermittel erhielt.

Während es im deutschen Sprechtheater immer noch zur Ausnahme gehört, dass Schauspieler „mit Migrationshintergrund“, wie die Umschreibung des Fremden im Eigenen heute heißt, auf der Bühne stehen, sind Karrieren im Tanz – ähnlich wie in Bildender Kunst und Musik – international. Diese Tendenz hat sich seit den 1990er-Jahren durch die forcierten Transferbewegungen der Globalisierung noch einmal verstärkt. Im deutschen Sprechtheater werden derzeit Stücke diskutiert, in denen Schauspieler als Kinder von Einwanderern der zweiten oder dritten Generation zu Darstellern ihrer eigenen Geschichte werden und damit die Diversifizierung der einst als „multikulturell“ begrüßten Gesellschaft verhandeln. Im Tanz dagegen ist die Ein- und Auswanderung so selbstverständlich, dass sie in der künstlerischen Praxis kaum reflektiert wird. Denn sie ist oft die Voraussetzung der künstlerischen Tätigkeit: Zwecks Erlernung und Ausübung verlassen Menschen ihre Heimatländer. Die Ursache beider Migrationsbewegungen aber liegt letztlich in der jeweiligen wirtschaftlichen Situation begründet. Schließlich ist die zeitgenössische Kunst, wie der Kunstkritiker und Essayist Nicolas Bourriaud schreibt, „vor allem eine Zeitgenossin der sie umgebenden Ökonomie“.

Mehrsprachigkeit auf vielen Ebenen

Die Internationalität des Tanzes hat verschiedene Gründe: In vielen Ländern sind Infrastrukturen für zeitgenössischen Tanz wie Ausbildungsstätten und Fördermittel kaum vorhanden. Junge Tänzer bilden sich autodidaktisch beispielsweise via Youtube weiter oder sie gehen zur Ausbildung ins Ausland. Auch dies unterscheidet den Tanz strukturell grundlegend vom Schauspiel, wo in den Bildungsinstitutionen Studenten nicht-deutscher Abstammung stark unterrepräsentiert sind. Natürlich bringt dies auch Schwierigkeiten mit sich: Schon während des Studiums muss die kafkaeske Bürokratie der Visumsbeschaffung absolviert werden, nach dem Abschluss findet sie ihre Fortsetzung – gerade wenn der Absolvent als freier Tänzer oder Choreograf weiterarbeitet und nicht lückenlos nachweisen kann, dass er dem Staat künftig nicht auf der Tasche liegen wird. Zudem scheint es, dass im angespannten Krisen-Klima nach 2008 die Grenzen wieder undurchlässiger werden und Visa widerwilliger ausgestellt werden. In die künstlerische Praxis haben diese Reibungen (noch) keinen Eingang gefunden.

„Jeder bringt seinen eigenen Background, sein Körperwissen und seine Kultur mit“, berichtet die argentinische Choreografin Paula Rosolen, die an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt studierte. „Meine Erfahrung unterschied sich sehr von der meiner Mitstudenten aus Polen, Korea, Russland oder China. Die Ausbildung versuchte, einen gemeinsamen Boden zu schaffen.“ Schon hier finden interkulturelle Auseinandersetzungen statt. „Man wächst als Mensch sehr“, findet Rosolen. „Man lernt Geschichten kennen, die sich stark von der eigenen unterscheiden und auch von der des Ortes, an dem man jetzt gemeinsam lebt.“ Internationalität und Interkulturalität greifen hier eng ineinander – und sei es in der unterschiedlichen Prägung der Körper, die da zusammen kommen und Haut an Haut, Knochen an Knochen miteinander arbeiten. Die „universale“ Kunstform Tanz hat sich gewandelt: Ihre grenzübergreifende Verständlichkeit beruht heute weniger darauf, dass sie ohne Verbalsprache auskommt, sondern vielmehr auf ihrer Mehrsprachigkeit, die sowohl im Bewegungsvokabular als auch in der mündlichen Rede herrscht. Auf den Proben ist die Arbeitssprache ja ohnehin Englisch.

Kulturelle Prägungen des Körpers

Einige wenige choreografische Arbeiten thematisierten in den letzten Jahren kulturelle Präfigurationen im Tanz: So ist das Stück Nijinsky Siam des thailändischen Choreografen Pichet Klunchun ein tänzerischer Kulturvergleich, der die Identität geschlossener Kulturräume von Anfang an in Zweifel zieht und jenen Punkt fruchtbar macht, an dem sich Traditionen – hier klassisches Ballett und thailändischer Khon-Tanz – ineinander und zueinander übersetzen. Denn künstlerische Inspiration macht keineswegs an nationalen Grenzen halt. Übersetzung nutzen auch Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen als ästhetisches Mittel: In ihren inszenierten Begegnungen zwischen ivorischen und deutschen Tänzern stellen diese einander und damit dem Publikum ihre tänzerischen Sozialisierungs- und Lernprozesse vor. Dabei nutzen sie gerade die Elemente Mehrsprachigkeit und Übersetzung (der deutsche Tänzer übersetzt stets das, was der ivorische berichtet), um kulturelle Kontexte des Tanzes aufzudecken und zu verhandeln.

So zeichnen tänzerischer Alltag und Bühne eine Kinetik der Globalisierung nach: Über 175 Millionen Menschen leben außerhalb ihres Heimatlandes, Tendenz steigend. Identitäten, Ethnien und Nationalitäten verwerfen sich. „Eine wiederkehrende Frage meiner Arbeiten ist“, sagte Meg Stuart einmal im Interview, „die doppelte Erfahrung, sich überall und nirgends zuhause zu fühlen“. Wenn man so möchte, schafft der Tanz transkulturelle oder transnationale Identitäten, Kulturen und Ausdrucksformen verflechten sich zu einem geradezu utopischen Moment: Hier kann die Zukunft kulturell diversifizierter Gesellschaften entworfen und erprobt werden.

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