Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Berlinale-Blogger*innen 2022
Eine Revolution der romantischen Komödie

„A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“ von Nicolette Krebitz
„A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“ von Nicolette Krebitz | Foto (Detail): © Reinhold Vorschneider / Komplizen Film

Im Wettbewerb der Berlinale läuft ein sentimentaler Film mit dem schwer auszusprechenden Titel „A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“. Es ist ein weiterer Film über romantische Beziehungen, in denen die Balance im Machtverhältnis eher zugunsten der Frau kippt – schon deshalb, weil sie wesentlich älter ist als der Mann.

Von Egor Moskvitin

Das soziale und intime Leben älterer Menschen ist ein Thema, das Filmfestivals seit geraumer Zeit beschäftigt, und die Berlinale interessiert sich vielleicht mehr dafür als alle anderen. Im Jahr 2018 wurde hier The Real Estate gezeigt, eine schwedische Komödie über die Libido einer alternden Geschäftsfrau.

Einer der niederschmetterndsten Filme zu diesem Themenkomplex in diesem Jahr in Berlin ist Rimini von Ulrich Seidl, ein Drama über einen gealterten, erfolglosen Sänger, der versucht, seinen Schmerz durch Sex mit Gleichaltrigen zu betäuben. Hier handelt es sich wie so oft um eine Tragödie – doch seit kurzem ist Alter auch ein Thema in romantischen Komödien. Dazu gehört, abseits der Berlinale, Oscar-Anwärter Licorice Pizza von Paul Thomas Anderson, ein Film, in dem ein 15-jähriger Schüler einer 28-Jährigen romantische Avancen macht. Auf dem US-amerikanischen Sundance-Festival gewann der Film Cha Cha Real Smooth, den Publikumspreis. Darin verliebt sich ein jugendlicher College-Abgänger in eine erwachsene Frau mit Kind. Sowohl auf dem Sundance-Festival als auch in Berlin wurde die gefühlvolle Komödie Good Luck to You, Leo Grande gezeigt. Darin spielt Emma Thompson eine pensionierte Lehrerin, der mithilfe eines jungen Gigolos die sexuelle Befreiung gelingt.

Am erschütterndsten und seltsamsten in dieser langen Reihe von Filmen ist aber A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe der deutschen Regisseurin Nicolette Krebitz. Schon angesichts ihres letzten Films Wild (2016), der das immer intensiver werdende Verhältnis einer Frau zu einem Wolf zum Thema hatte, war klar: Konventionelle Liebesgeschichten sind nichts für sie. Und auch von der Produktionsfirma Komplizen Film, die von Maren Ade und Janine Jackowski gegründet wurde, sind keine einfachen Filme zu erwarten.

Milan Herms in Nicolette Krebitz' Film „A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“ Milan Herms in Nicolette Krebitz' Film „A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“ | Foto (Detail) © Reinhold Vorschneider / Komplizen Film
Anna, verkörpert von der Ausnahme-Schauspielerin Sophie Rois, ist ein alternder Filmstar – sie wird nur noch für die Vertonung von Filmen und Radiosendungen angefragt. Eines Tages nimmt sie einen Nebenjob an: Sie soll dem schüchternen jungen Theaterstudenten Adrian (Milan Herms) Sprechunterricht geben. Beim ersten Treffen stellt sich heraus, dass der junge Mann niemand anders ist als der Dieb, der Anna vor kurzem auf der Straße die Handtasche gestohlen hat. Dennoch übergibt sie die Sache nicht der Polizei und beginnt stattdessen eine schöne und schmerzhafte Beziehung mit ihm, die von ihrem Nachbarn und Altersgenossen (gespielt von Udo Kier in einer für ihn ungewohnt komischen Rolle) mit Sorge beobachtet wird.

Wie schon in dem Film Undine von Christian Petzold, gezeigt auf der Berlinale 2020, entwickelt sich die Liebe der beiden zu einer Kraft, die auf magische Weise die gesamte Umgebung um sie herum verändert. So klappern plötzlich die Türen in Annas Haus – der Geist von Annas verstorbenem Mann sammelt seine Sachen zusammen. Zwei rastlose Vögel bauen unter der Decke der Wohnung ein Nest. Die Liebenden Anna und Adrian rennen nackt über die Uferpromenade in Nizza. Und die Polizei, die nach Verdächtigen fahndet, die bei einem Überfall Schmuck erbeutet haben sollen, wird in diesem Märchen wohl genauso gebraucht wie der böse Wolf in Rotkäppchen: um Gefühle auszutesten und die Hauptfiguren aus der Welt ihrer Träumereien in einen Raum des Rationalen zurückzubringen.
 
Milan Herms, Sophie Rois in Nicolette Krebitz' Film „A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“ Milan Herms, Sophie Rois in Nicolette Krebitz' Film „A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“ | © Reinhold Vorschneider / Komplizen Film
Einige ästhetische Ansätze des Films scheinen redundant, und die blinde Verzauberung der weiblichen Hauptfigur (ungeachtet ihres beeindruckenden Spiels) wirkt nicht überzeugend. Doch Nicolette Krebitz gelingt es tatsächlich, ein Alphabet für die Beschreibung von Gefühlen anzubieten.

Der russisch-US-amerikanische Poet und Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky schrieb: „Die Liebe ist wie der Akt eines fehlenden Verbs.“ Krebitz hat nicht nur auf Wortklassen verzichtet, sondern auch auf Konsonanten. So erhalten auch Betonungen einen Sinn. Übrig bleiben die Vokale: die Saiten der Seele. Nicolette Krebitz spielt sehr geschickt auf ihnen.

Top