Berlinale 2016
Fremde Szenen einer Flucht

Les Sauteurs
Les Sauteurs | ©Berlinale 2016

Bei den 66. Internationalen Filmfestspielen in Berlin beherrschte das Thema Flucht und Vertreibung weite Teile des Programms. Besonders die Arbeiten von Filmemachern aus Afrika und dem Nahen Osten eröffneten interessante Perspektiven.

Tiefe Dunkelheit liegt über dem Berg Gurugu. Nichts regt sich an den steinigen Hängen, an deren Fuß der Grenzzaun liegt, der Marokko von der spanischen Enklave Melilla trennt. Zwischen Müll und Gestrüpp leben hier mehr als 1000 Männer aus Mali und von der Elfenbeinküste, die immer wieder versuchen, die Grenzanlagen zu überwinden. In dem Dokumentarfilm Les Sauteurs (Those Who Jump, 2016) verfolgen wir ihren Alltag, sehen ihnen beim Kochen, Waschen und Fußballspielen zu. Gefilmt wird das von dem Malier Abou Bakar Sidibé, der selbst auf seinen nächsten Sprung hinfiebert. Die Kamera hat er von Moritz Siebert und Estephan Wagner, die die Lebensrealität von afrikanischen Geflüchteten in Marokko dokumentieren wollten. Allerdings nicht aus ihrer westlichen Sicht, sondern direkt durch die Augen „Abous, des zukünftigen Europäers“, wie dieser von einem Mitstreiter bezeichnet wird.

Im Camp herrscht ein strenges Regime, es gibt ein ungeschriebenes Gesetz für jede Aktivität, vom Umgang mit der Polizei bis hin zu den Sprüngen über die Grenzanlagen. Viele der Männer leben über Monate auf dem Gurugu zusammen, angetrieben von dem gleichen Ziel: „Jeder will seinen Familien helfen“, meint Abou Bakar Sidibé. „Jeder will ein Afrikaner in Europa werden.“ Les Sauteurs, der mit dem Preis der Ökumenischen Jury ausgezeichnet wurde, war einer von vielen Filmen bei der 66. Berlinale, der Flucht und Vertreibung thematisierte. Kein Wunder, denn die Diskussion um Geflüchtete ist in Deutschland seit 2015 das beherrschende Thema. Das schlägt sich natürlich auch in der Programmauswahl des wichtigsten deutschen Filmfestivals nieder.

Weggehen ohne anzukommen

Wer in Deutschland lebt, kennt die europäische Perspektive auf Flucht und Migration nur zu gut. Deshalb sind die Arbeiten von Filmemachern aus Afrika und dem Nahen Osten umso interessanter. Ein besonderer Fall ist das Schicksal der Eritreer und Sudanesen, die vor Krieg, Terror und Armut nach Israel fliehen. Meist landen sie in Internierungslagern an der ägyptisch-israelischen Grenze, ohne Aussicht auf Asyl. In seinem neuen Film Bein gderot (Between Fences, 2016) dokumentiert der israelische Filmemacher Avi Mograbi die Zustände im Lager Holot. Dort organisiert Theaterregisseur Chen Alon einen Workshop, mit dem er Geflüchteten zu neuem Mut und Selbstvertrauen verhelfen will.

Während die Workshopteilnehmer in einer verlassenen Kaserne Szenen ihrer Flucht nachspielen, erzählen sie von den Zuständen in Holot: Es gebe kaum Bildungsangebote, nur schlechte medizinische Versorgung und das Essen sei grauenhaft. Im Lager sei es genauso schlimm wie in der Haftanstalt Saharonim, meint einer der Geflüchteten: „Holot ist auch ein Gefängnis, nur einfach größer.“ Eine Zukunft haben die Eritreer und Sudanesen in Israel nicht, denn der Staat sieht afrikanische Geflüchtete als Bedrohung. Bein gderot führt so nicht nur das „aktivistisch-therapeutische Theater“ von Chen Alon vor, sondern macht ebenfalls eine starke politische Aussage: „Israel, das doch von Geflüchteten gegründet wurde, weigert sich, andere Geflüchtete wahrzunehmen“, so Avi Mograbi.

Die psychischen Kosten einer Flucht

Wer den langen Weg durch die Wüste auf sich nimmt, um dann Jahre in Holot auszuharren, hat seiner Heimat endgültig den Rücken gekehrt. Aber was tut man, wenn die Bindung an die eigene Stadt so stark ist, dass man sie nicht verlassen kann? In dem Spielfilm Akher ayam el madina (The Last Days of the City, 2016) des ägyptischen Regisseurs Tamer El Said werden leise Töne angeschlagen. Khalid (Khalid Abdalla) will einen Film über Kairo drehen, kommt aber nicht so recht voran. Deshalb bittet er drei Freunde aus Beirut und Bagdad um Hilfe. Wir befinden uns im Winter 2009/2010, Kairo bebt und die Absetzung von Hosni Mubarak steht kurz bevor. Khalids Freunde Hassan (Hayder Helo) und Tarek (Basim Hayar) stammen beide aus Bagdad. Der eine will seine Geburtsstadt nicht verlassen, der andere lebt als Geflüchteter in Berlin. Es sei krankhaft, sich derart an Bagdad zu klammern, meint Tarek. Doch Hassan hat keine Wahl: „Bagdad ist ein Moment, außerhalb dessen ich nicht leben kann. Wenn ich es könnte, würde ich zu dir nach Berlin kommen.“

Hassan wird seine Liebe zu Bagdad mit dem Leben bezahlen. Tarek scheint in Berlin nicht richtig anzukommen. Und Khalid bleibt in Kairo gefangen. Eine endgültige Antwort auf die Frage, wie man eine Flucht psychisch verkraften kann, findet in Akher ayam el madina, der mit dem Caligari-Filmpreis ausgezeichnet wurde, keine der Figuren. Die Realität außerhalb des Kinosaals ist noch bedrückender. In der letzten Szene von Les Sauteurs schafft es Abou endlich, dank mit Nägeln präparierter Schuhe den Grenzzaun nach Europa zu überwinden. Seine leuchtenden Augen, sein ungläubiger Blick in der letzten Einstellung lassen kaum erwarten, dass er Mali viele Tränen hinterher weinen wird. Doch anders als er glaubt, ist seine Odyssee in Melilla nicht beendet. Sie wird sich über Behörden und Ämter bis auf den europäischen Kontinent fortsetzen. Ihr Ausgang ist äußerst ungewiss.