12. Taiwan International Documentary Festival: Filmemacher im Fokus
Volker Koepp: Ein Werk, ein Universum

Volker Koepp
Foto (Zuschnitt): © Taiwan International Documentary Festival, TIDF

“Das Universum Volker Koepp” heisst der Untertitel eines Buches über den Filmemacher, das im Jahr 2019 erschienen ist. Von einem filmischen Werk als von einem Universum zu sprechen, ist oft nicht mehr als ein Klischee; hier aber passt es perfekt. 

Schaut man mehrere Filme von Volker Koepp hintereinander an, so hat man in der Tat das Gefühl, sich durch eine einzige filmische Welt, einen einzigen geistigen Zusammenhang zu bewegen. Nicht, dass er immer wieder denselben Film gedreht hätte. Sie sind keineswegs untereinander austauschbar, sondern fügen sich gerade in ihren Differenzen zu einer Art imaginären Landkarte. Der Eindruck organischer Geschlossenheit hängt mit geografischen und historischen Kontinuitäten zusammen: Die meisten der Filme sind im Osten Deutschlands und in den Ländern des ehemaligen Ostblocks entstanden, dem einstigen Einflussgebiet Sowjetrusslands; und viele von ihnen beschäftigen sich, auf die eine oder andere Weise, mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts, mit Krieg, Vertreibung und Migration insbesondere. Es hängt auch mit einer Kontinuität derjenigen zusammen, die in den Filmen auftauchen: Koepp filmt, nach eigener Aussage, Menschen, die er mag, und oft filmt er sie nicht nur einmal. Nicht nur in seinem Wittstock-Zyklus, der drei Arbeiterinnen über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg begleitet, auch in zahlreichen anderen Filmen stößt man immer wieder, oft unerwartet, auf bekannte Gesichter. Was das Universum Volker Koepp aber vor allem anderen auszeichnet, ist eine Kontinuität des Blicks. Eines Blicks, in dem sich empathische Zugewandtheit und respektvolle Distanz auf eigenartige Art mischen.
 
Leben in Wittstock Foto : © DEFA-Stiftung Vielleicht kann man das Geheimnis des Koepp´schen Blicks auf die Formel bringen: Liebe und Freiheit. Eben, weil er die Menschen und Orte, die er filmt, innig liebt, will er sie nicht um jeden Preis für sich vereinnahmen, sondern lässt ihnen ihre Freiheit. Besonders deutlich wird das in seiner Interviewtechnik. Die Menschen, die in Koepps Filmen zu sehen sind, haben nicht die Aufgabe, einem Argument dienlich zu sein, das der Regisseur sich vor den Dreharbeiten ausgedacht hat. Vielmehr geht es darum, dass sie etwas von sich selbst, etwas Persönliches in den Film einbringen, etwas, das den Blick des Films und damit auch unseren Blick auf die Welt verändert. Dieses Persönliche, das die Menschen der Kamera mitteilen, sind nicht unbedingt Worte. Vielleicht sind es nicht einmal in erster Linie Worte, sondern vielmehr - Blicke. Es gehört zu den Eigenarten der Filme Koepps, dass sie den Pausen zwischen zwei Sätzen oft mehr Aufmerksamkeit widmen als den Sätzen selbst. Was vielleicht mehr als alles andere von seinem Werk in Erinnerung bleibt, sind Menschen, die uns anblicken. Unvergesslich ist etwa die Art und Weise, wie in den Wittstock-Filmen Elsbeth, eine der drei Hauptfiguren, wieder und wieder zur Kamera schaut, mal schüchtern und verlegen, mal flirtend und fast ein wenig herausfordernd.
 
Die Kontinuität des Universum Volker Koepp ist umso erstaunlicher, als die Voraussetzungen, unter denen es entstanden ist, sich seit den Anfängen seines Schaffens mehrmals, und einmal sehr radikal, gewandelt haben. Begonnen hat der Regisseur seine Filmlaufbahn als Angestellter des Dokumentarfilmstudios der DEFA, des staatlichen Filmstudios der DDR. Seit den 1990er Jahren ist er, im wiedervereinigten Deutschland, sein eigener Produzent und muss sich dabei den ständig sich verändernden Rahmenbedingungen für dokumentarisches Kino stellen, etwa in der Zusammenarbeit mit wechselnden Fernsehsendern. Auch die Rezeption der Filme hat sich gewandelt: Wurden sie früher hauptsächlich im Vorprogramm von Kinovorführungen innerhalb der DDR gezeigt, finden sie heute dank zahlreicher Festivalaufführungen ein Publikum in aller Welt.
 
Volker Koepp Foto (Zuschnitt): Volker Koepp © Edition Salzgeber Koepp wurde 1944 geboren, ein Jahr vor Ende des zweiten Weltkriegs, in einer Stadt unweit der Ostsee, die damals den Namen Stettin trug und Teil der deutschen Provinz Pommern war; heute heißt sie Szczecin und ist im Westen des deutschen Nachbarlandes Polen gelegen. In diesem Sinn hatte der Regisseur schon mit seiner Geburt eines seiner zentralen Themen gefunden: Die fluiden Grenzziehungen im Verlauf der europäischen Geschichte und das prekäre Verhältnis zu Heimat und Identität, das aus ihnen folgt. In gewisser Weise sind alle Menschen, die im 20. Jahrhundert geboren wurden, und die Kinder Zentral- und Osteuropas vielleicht ganz besonders, Geworfene, Unbehauste. Eine sichere, ewige, verlässliche Verankerung in den eigenen Grund und Boden existiert für die allermeisten schlichtweg nicht. Daraus folgt jedoch nicht, dass es keine Verbindung gebe zwischen den Menschen und den Orten, aus denen sie stammen. Eben weil sie oft unerreichbar sind, oder sich unwiederbringlich verändert haben, kommen wir zeitlebens nicht los von den Städten, Dörfern, Landschaften unserer Kindheit und Jugend. Die Filme von Volker Koepp lassen diese Sehnsucht greifbar werden, und zwar selbst für Zuschauer, die die Orte, die er filmt, selbst nie zu Gesicht bekommen haben.
 
Berlin-Stettin Foto (Zuschnitt): © Edition Salzgeber In gewisser Weise haben vermutlich alle Filme Koepps eine autobiographische Dimension. Explizit wird sie in Berlin-Stettin aus dem Jahr 2009, in der Erinnerung des Regisseurs an seine Mutter, die 1945, nach der Niederlage der Deutschen, von russischen Soldaten vergewaltigt wurde und der es anschließend gelang, für sich und ihre Kinder ein neues Leben aufzubauen. Den Großteil seiner Kindheit verbringt Koepp 150 Kilometer südwestlich von seiner Geburtsstadt, in Berlin. Die Schule schließt er in Dresden ab, 1962, ein Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer, einem Ereignis, das die Landkarte Europas ein weiteres Mal und auf Jahrzehnte hinaus einschneidend verändert.
 
1965 wird er an der Deutschen Hochschule für Filmkunst (heute: Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf) zugelassen, der ältesten und größten Filmschule Deutschlands. Der Weg zum dokumentarischen Kino war keineswegs vorgezeichnet; er ist zumindest auch einem Vorfall zu verdanken, der Koepps Regiekarriere um ein Haar beendet hätte, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Wegen seiner Freundschaft mit dem regimekritischen Dichter Thomas Brasch, der gegen die brutale Niederschlagung des “Prager Frühlings” durch russische Truppen in Prag im Jahr 1968 und damit auch gegen die politische Führung der DDR protestiert hatte, wäre er beinahe der Filmhochschule verwiesen worden. Nach langen Diskussionen darf er das Studium fortsetzen, muss aber “zur Strafe” einen kurzen Dokumentarfilm drehen: Wir haben schon eine ganze Stadt gebaut beschreibt den Lebens- und Berufsalltag von Bauarbeitern. Damit hat der Regisseur ein weiteres Thema gefunden, das vor allem für seine Arbeiten für die DEFA, in vieler Hinsicht aber bis heute zentral ist: Die Frage danach, wie Menschen geprägt werden von ihren materiellen Lebensumständen und vor allem von der Arbeit, die sie verrichten.
 
In der DDR ist dieses Thema ideologisch belegt: Die Arbeiterschaft wird im Sinne der marxistischen Lehre als die “herrschende Klasse” heroisiert, Filme, die Arbeitern gewidmet sind, haben erst einmal die Aufgabe, an dieser Heroisierung mitzuwirken. Dass Koepp Anderes im Sinn hat, wird nirgendwo deutlicher als in einer Filmserie, die alleine ausreichen würde, ihm einen Ehrenplatz in der Geschichte des deutschen Dokumentarfilms zu sichern: dem Wittstock-Zyklus.
 
Witttock, Wittstock Foto (Zuschnitt): © Deutsche Kinemathek, Berlin Wittstock ist eine Kleinstadt im Nordosten Deutschlands, ungefähr auf halbem Weg zwischen Berlin und der Ostsee. Die Gegend ist dünn besiedelt und landwirtschaftlich geprägt, aber in Wittstock selbst wird in den 1970er Jahren die Textilfabrik “Ernst Lück” gegründet. Vor allem Frauen aus der Umgebung nähen hier Pullover, Hemden und andere Kleidungsstücke der Alltagsmode. Koepp, der seit 1970 beim DEFA-Studio für Dokumentarfilm angestellt ist, besucht mit seinem Team zum ersten Mal im Jahr 1974/1975 die Stadt und filmt einige der Arbeiterinnen - die meisten von ihnen junge Frauen, die die Arbeit eher mangels Alternativen denn aus innerer Überzeugung angenommen haben, und die auch sonst kaum zur Heroisierung taugen. Offenherzig sprechen sie in Mädchen in Wittstock über Probleme an ihrem Arbeitsplatz, über die zu hoch angesetzten Plansölle, kleingeistige Vorgesetzte und das erdrückende Gefühl von Eintönigkeit.
 
Leben in Wittstock Foto (Zuschnitt): © DEFA-Stiftung Auch heute noch erscheint es wie ein kleines Wunder, dass ein Film wie Mädchen in Wittstock, der so gar nicht dem Selbstbild des Arbeiter- und Bauernstaates DDR entspricht, die ansonsten oft sehr strenge staatliche Zensur passieren konnte. Tatsächlich muss Koepp zwar immer wieder bei Abnahmegesprächen um seine Filme kämpfen, bleibt in diesen Kämpfen aber zumeist siegreich. Inmitten eines staatlich gelenkten Filmschaffens bewahrt er sich ein Stück Unabhängigkeit - die freilich erkauft wird mit der mangelnden Sichtbarkeit seiner Arbeiten. So werden seine DEFA-Filme, anders als die vieler Kollegen, fast nie im DDR-Fernsehen ausgestrahlt, wo sie ein deutlich größeres Publikum gefunden hätten als im Vorprogramm von Kinovorführungen.
 
Vielleicht gibt es noch einen weiteren Grund dafür, dass Koepp nicht allzu oft ins Visier der Zensoren gerät: Er dreht keine explizit politischen Filme. Im Zentrum seines Werks stehen keine Probleme, sondern Menschen. Kritik üben die Filme nur implizit, eben vermittels der Menschen, die in ihnen auftauchen und ihre Sicht aufs Leben schildern. Auch Mädchen in Wittstock ist in erster Linie ein Film über eine Gruppe junger Frauen, die zwar alle vor ähnlichen Problemen stehen, aber jeweils ganz unterschiedlich mit ihnen umgehen. Das Individuelle überstrahlt das Systemische - dieses mit der Staatsideologie der DDR ganz und gar nicht kompatible Prinzip wird zum moralischen Kern von Koepps Werk.
 
Neues in Wittstock Foto (Zuschnitt): © DEFA-Stiftung Zu den Arbeiterinnen in Wittstock kehrt der Regisseur in den Folgejahren immer wieder zurück. Bis 1981 entstehen drei weitere Wittstock-Kurzfilme und dann, 1983, der erste Langfilm: Leben in Wittstock zieht ein erstes Fazit aus der mehrjährigen Langzeitbeobachtung. Die Protagonistinnen - im Laufe der Reihe haben sich die drei Arbeiterinnen Edith, Renate und Elsbeth als Hauptfiguren herauskristallisiert - sind älter geworden, manche Träume haben sich erfüllt, viele nicht, und selbst die, die sich erfüllt haben, verschaffen einem selten die Befriedigung, die man sich von ihnen erhofft hatte. Die Grundstimmung des Wittstock-Zyklus ist Melancholie: Das unnachgiebige Verstreichen der Zeit erweist sich auf die Dauer als das Einzige, auf das man sich verlassen kann. 
 
Märkische Heide, Märkische Sand Foto (Zuschnitt): Thomas Plenert ©DEFA-Stiftung Noch deutlicher wird dieser Aspekt in den beiden nach der deutschen Wiedervereinigung entstandenen Fortsetzungen Neues in Wittstock (1992) und Wittstock, Wittstock (1997). Das Leben von Edith, Renate und Elsbeth hat sich radikal verändert. Nach der Privatisierung der Textilfabrik werden alle drei arbeitslos. Mit ihrer neuen Situation gehen sie ganz unterschiedlich um, aber die Prägung durch Wittstock und ihre geteilten Erfahrungen am Arbeitsplatz wird keine der drei je ganz los. Immer wieder setzt Koepp in allen diesen Filmen Rückblenden ein, Erinnerungsbilder, Material aus älteren Filmen, das in der Wiederholung den Blick auf die Gegenwart verändert. In Wittstock, Wittstock gibt es eine Szene, in der Elsbeth vor einem Fernseher sitzt und sich Szenen aus Mädchen in Wittstock anschaut. Sie spricht ihre eigenen Sätze von damals nach und überprüft, ob sie noch gelten. In den Wittstock-Filmen schwingt andauernd Vergangenheit mit. Damit werden sie zum Modell für eine Auseinandersetzung mit Geschichte, mit den Spuren vergangener, meist traumatischer Ereignisse in der Gegenwart, die für Koepps Kino vor allem ab Mitte der 1990er Jahre zentral ist.
 
Aber noch einmal einen Schritt zurück: In den 1970er und 1980er Jahren realisiert Koepp für die DEFA neben dem Wittstock-Zyklus eine lange Reihe weiterer kurzer Dokumentarfilme, die meisten auf die eine oder andere Art Portraits von Menschen und den Orten, in denen sie leben. In dieser Phase findet Koepp nicht nur zu seinen Themen, sondern entwickelt auch - in enger Zusammenarbeit mit langjährigen Mitarbeitern wie den Kameramännern Christian Lehmann und Thomas Plenert oder der Dramaturgin Anne Richter - einen eigenen, unverwechselbaren Stil. Koepps Filme zeichnen sich durch eine im dokumentarischen Bereich außergewöhnliche Sorgfalt in der Bildgestaltung aus. Auffällig ist zum Beispiel seine Vorliebe für Aufnahmen mit dem Stativ: Wo Dokumentarfilme in der Tradition des Direct Cinema von der Arbeit mit der agilen Handkamera geprägt sind, bevorzugt Koepp im Allgemeinen statische Einstellungen - auch, weil bei der DEFA Dokumentarfilme fast durchweg mit schweren 35mm-Kameras gedreht werden. Der feste Rahmen des Bildes trägt eine Ruhe und Gelassenheit in den Film ein, der sich auch auf die Menschen vor der Kamera überträgt. Man hat den Eindruck, dass jeder, der in einem Volker-Koepp-Film auftritt, sich dort auch wohlfühlt.

Märkische Ziegel Foto (Zuschnitt): © DEFA-Stiftung_Thomas Plenert Am Ende von Koepps DEFA-Zeit steht die “Märkische Trilogie”, ein Projekt, das man als einen großen Glücksfall der Dokumentarfilmgeschichte betrachten darf, weil Koepp etwas gelingt, was er ursprünglich gar nicht beabsichtigt hatte: eine Zeitenwende sehr unmittelbar im Bild festzuhalten. Es beginnt 1988 mit Märkische Ziegel, einem halbstündigen Film über eine Ziegelfabrik in der Kleinstadt Zehdenick. Im Zentrum steht die Frustration der Arbeiter über die unwürdigen Arbeitsbedingungen und den erbärmlichen Zustand ihres Arbeitsplatzes - die Fabrik, die Material für Baustellen im ganzen Land produzieren soll, ist selbst ein baufälliges Wrack. In Märkische Ziegel ist an allen Ecken und Enden spürbar, dass es mit der sozialistischen Wirtschaftsordnung bergab geht. Aber weder die Arbeiter noch - vermutlich - Koepp können ahnen, dass die DDR bereits ein Jahr später zusammenbrechen wird.
 
Im Zuge der dramatischen Ereignissen im Herbst 1989, die am 9. November des Jahres zum Fall der Berliner Mauer führen, fährt Koepp ein weiteres Mal nach Zehdenick. Märkische Heide, Märkischer Sand, der zweite Teil der Trilogie, zeigt eine gesellschaftliche Eruption. Die Wut der Arbeiter richtet sich nun nicht mehr nur gegen die eigenen Lebensumstände, sondern gegen ein ganzes politisches System, das ihnen plötzlich wie ein einziges Lügengebilde vorkommt. Gleichzeitig zeichnet sich am Horizont eine düstere Zukunft ab: Die Arbeit in der Fabrik läuft vorläufig weiter, aber jeder weiß, dass harte Einschnitte bevorstehen.

Märkische Gesellschaft mbH Foto (Zuschnitt): © DEFA-Stiftung_Thomas_Plenert In Märkische Gesellschaft mbh schließlich, dem Abschluss der Reihe, gedreht im Herbst 1990, ist die neue Zeit bereits angebrochen. Der Kapitalismus hält Einzug in Zehdenick, und mit ihm tauchen neue Gesichter in der Stadt auf, Westdeutsche, für die der Ausflug in den Osten vor allem ein Abenteuer ist. Vielen Einheimischen wiederum bleibt angesichts der wegbrechenden Arbeitsplätze wenig anderes als die Flucht in den Alkohol. Koepp spielt diese komplett unterschiedlichen Erfahrungswelten nicht gegeneinander auf, sondern stellt sie als gleichberechtigte Perspektiven auf die Gegenwart nebeneinander. Die Märkische Trilogie zählt auch deshalb zu den zentralen dokumentarischen Arbeiten über die Deutsche Wiedervereinigung, weil die Filme keine politische These belegen möchten, sondern offen bleiben für die Komplexität und Widersprüche der Umbruchphase.
 
Leben in Wittstock Foto (Zuschnitt): Barbara Berthold © DEFA-Stiftung Die Wiedervereinigung markiert einen Einschnitt in Koepps Werk. Insbesondere, weil er fortan nicht mehr fest angestellter Mitarbeiter eines großen Studios ist, sondern seine Projekte mit wechselnden Partnern als selbstständiger Filmemacher erarbeitet. Tatsächlich ist Koepp einer von sehr wenigen DEFA-Filmemachern, denen es gelingt, nach 1990 kontinuierlich weiterzuarbeiten. Dass er sein Werk fortsetzen kann und bald zu den angesehensten Dokumentaristen des vereinigten Deutschlands zählt, verdankt sich Unterstützern in Fernsehsendern (ohne deren finanzielle Kooperation in Deutschland kaum ein Kinofilm entstehen kann) oder bei Filmfestivals; vor allem aber verdankt es sich Koepps fortgesetztem Erfolg bei den Zuschauern. Seine Filme sind in Deutschland keine Blockbuster, aber er hat sich über die Jahre ein treues Stammpublikum erarbeitet, ein Publikum, das sich in seinen Filmen genauso wohlfühlt wie die Menschen auf der Leinwand.
 
Auch die Filme selbst verändern sich nach 1990, wenn auch eher äußerlich als innerlich - im Kern geht es immer noch darum, Menschen zu begegnen, etwas von ihrem Leben zu erfahren. Aber sie werden länger, teilweise persönlicher, greifen weiter aus, in die Geschichte und vor allem geografisch. Von nun an ist der Regisseur Koepp ein Reisender, seine Filme realisiert er in einer eher aufmerksam schlendernden, als geradlinig-zielgerichteten Bewegung von Ort zu Ort, von Landschaft zu Landschaft. Koepp wendet seinen Blick nicht etwa nach Westen, in Richtung der ehemaligen BRD und Westeuropa, sondern nach Osten. Ab Mitte der 1990er Jahre beginnt er, Filme in den Ländern des ehemaligen Ostblocks zu drehen: In Polen, im Baltikum, in der Ukraine, in Weißrussland, auch in der russischen Enklave um Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg. Koepps Blick auf all diese Orte ist keineswegs ein touristischer, vielmehr geht es stets darum, sie in ihrer historischen Bedingtheit zu portraitieren. So stößt Koepp etwa, wenn er gen Osten reist, oft auf Spuren, die die deutsche Geschichte dort hinterlassen hat.
 
In Sarmatien Foto (Zuschnitt): © Edition Salzgeber In dieser Phase rückt ein Element ins Zentrum seines Werks, das schon von Anfang an wichtig war, aber erst in den “Reisefilmen” durch Osteuropa voll zur Geltung kommt: Naturaufnahmen. In fast allen Filmen Koepps seit der Wiedervereinigung finden sich Landschaftstableus von teils überirdischer Schönheit, von seinem Kameramann Thomas Plenert mit einem unvergleichlichen Sinn für die Dynamiken natürlichen Lichts in Szene gesetzt. Aller Schönheit zum Trotz sind die Naturbilder in Koepps Filmen doch nie bloß dekorativ. Vielmehr ist in ihnen eine Idee von Geschichtlichkeit gespeichert. Wenn in den Filmen immer wieder von Zerrissenem die Rede ist, von Krieg, Völkermord, Vertreibung und Migration, dann sind die Landschaftsaufnahmen das Verbindende, dasjenige, was die Geschichte überdauert. In gewisser Weise zumindest, denn natürlich ist auch die Landschaft nichts Ewiges, auch sie verändert sich. In den neueren Koepp-Filmen zum Beispiel tauchen immer öfter die Windräder auf, die inzwischen in ganz Europa zum Landschaftsbild dazugehören. Im allerneuesten, Seestück, einer filmischen Reise entlang der Küste der Ostsee, sind die Naturaufnahmen besonders schön, aber auch besonders brüchig: Sehr direkt geht es um die Folgen der Umweltverschmutzung, um die immer unbarmherzigere Unterwerfung der Natur durch den Menschen.
 
Söhne Foto (Zuschnitt): © Edition Salzgeber Söhne Foto (Zuschnitt): © Edition Salzgeber Seestück ist vielleicht Koepps pessimistischer Film. Durch eine Naturbeherrschung, die sowohl von Menschen als auch von der Geschichte abstrahiert, droht ein Band zu zerreißen, das zentral ist für sein Kino: In Koepps Filmen geht die Landschaft eine Verbindung ein mit den Wünschen und Hoffnungen der Menschen, die in ihr leben, oder die einmal in ihr gelebt haben und sich an sie erinnern. Ein rührendes Beispiel dafür ist Söhne (2007), die Chronik einer Familie, die am Ende des zweiten Weltkriegs auseinandergerissen wird: Zwei Söhne wachsen mit ihrer Mutter in Westdeutschland auf, zwei weitere bei Pflegeeltern in Polen, und dann gibt es noch einen fünften Bruder, den nicht die Blutsverwandtschaft, sondern das Chaos der Geschichte in die Familie gespült hat. In den folgenden Jahrzehnten finden die Geschwister nur langsam wieder zusammen; vollends erst in Koepps Film, wenn fünf Brüder sich vor der Kamera um einem Baum vor dem Elternhaus ihrer Vorfahren versammeln, und damit ein familiäres Urbild wiederherstellen, das es faktisch nie gegeben hat.
 
Der vielleicht eindrücklichste Landschaftsfilm Koepps ist In Sarmatien (2013), eine poetische, filmisch ausgesprochen frei gestaltete Bilanzierung und Verdichtung von Themen und Motiven, die sein gesamtes Werk durchziehen. “Sarmatien” wurde in der Antike ein weit ausladende Gebiet zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer genannt, das heute die Territorien von Weißrussland, Ukraine, Moldawien sowie der baltischen Staaten umfasst. Geografisch betrachtet ist Sarmatien das Zentrum Europas, in der politischen Realität jedoch fast ein Niemandsland, geprägt von Armut, Landflucht, der Erinnerung an alte und der Furcht vor neuen kriegerischen Auseinandersetzungen. Im Film sind diese Spannungen fühlbar und tatsächlich wurde kurz nach Ende der Dreharbeiten die ukrainische Krim-Halbinsel von russischen Truppen besetzt. Gleichzeitig jedoch evoziert Koepps Film, über alle Grenzziehungen hinweg, die Utopie eines anderen, mit sich selbst versöhnten Sarmatien, eines Sarmatien, das im geteilten, sehnsuchtsvollen Blick auf die sarmatischen Landschaften zusammenfindet.

In Sarmatien Foto (Zuschnitt): © Edition Salzgeber Herr Zwilling Foto (Zuschnitt): © Edition Salzgeber Frau Zuckermann Foto (Zuschnitt): © Edition Salzgeber Zu den Bewohnern Sarmatiens zählen auch die beiden Titelfiguren des heute vielleicht bekanntesten Films des Regisseurs: In Herr Zwilling und Frau Zuckermann (1998) filmt Koepp die Gespräche zweier alter Juden im westukrainischen Czernowitz. Frau Zuckermann ist über 90, Herr Zwilling ein paar Jahre jünger, beide haben sie den Holocaust überlebt und auch die Pogrome der Sowjetzeit überstanden. Heute sind sie die letzten Zeugen einer Zeit, in der Czernowitz ein Zentrum jüdischen Lebens in Europa war. Allabendlich besucht Herr Zwilling Frau Zuckermann, um sich über das Tagesgeschehen auszutauschen. Wobei es, wie Frau Zuckermann sagt, zumeist gar nicht so viel zu bereden gibt. Das Beisammensein dieser beiden Exilanten der Weltgeschichte ist Wunder genug. Denn tatsächlich: Wenn Herr Zwilling und Frau Zuckermann still nebeneinander sitzen, vor Volker Koepps Kamera, dann ist es, als würde eine untergegangene Welt momenthaft wieder lebendig werden. Da sind wir wieder beim Kern von Koepps Kino: Die Kamera blickt auf Menschen, die blicken   zurück und im Wechselspiel dieser Blicke wird etwas sichtbar. zurück und im Wechselspiel dieser Blicke wird etwas sichtbar.