Von Chinese Paladin zu Honor of Kings
Dreißig Jahre chinesischsprachige Videospiele

Ich werde nie den Sommer 1998 vergessen, als mir mein Vater den ersten Computer meines Lebens kaufte, einen zusammengebauten Desktop-Computer zum Preis von 7000 Yuan.

Der Händler, der uns beim Montieren half, hatte mir darauf unaufgefordert zwei Videospiele installiert: Tomb Raider 2 und Quake 3. Beides waren echte Meilensteine in der Spielegeschichte, aber ich konnte ihnen damals nicht wirklich viel abgewinnen. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, war mein Englisch wahrscheinlich nicht gut genug, um mir die Spiele selbst beizubringen.

Stardom 2, ein von SoftStar 1998 auf den Markt gebrachtes „Love Develop Game“ Stardom 2 © SoftStar 1998 Zum Glück entdeckte ich auf dem Computermarkt in der Innenstadt bald einen Laden, der mit raubkopierten Spielen handelte. Damals lag das wirtschaftliche Niveau einfacher Familien in Festlandchina weit unter dem der Einwohner Taiwans oder Hongkongs aus derselben Schicht. An Original-Spiele-CDs, die zwischen mehrere Dutzend bis mehrere hundert Yuan teuer waren, wären wir Kinder entweder gar nicht herangekommen, oder wir hätten längst nicht genug Geld gehabt, um sie uns zu kaufen. So kam der Raubkopiermarkt wie gerufen. Tatsächlich handelte es sich bei den allermeisten Spielen, die damals im Umlauf waren, um Raubkopien zu 5-10 Yuan. Und von sinisierten japanischen, europäischen oder US-amerikanischen Spielen abgesehen, waren unter den raubkopierten CDs die taiwanischen Computerspiele aus den 1990er Jahren am beliebtesten.
 
Die 1990er Jahre waren das Goldene Zeitalter der taiwanischen Computerspiele. Durch die Loslösung von der Softwareindustrie entstanden damals eine Reihe von Spieleunternehmen. Unternehmen, die von der Industriestrategie der Regierung zu Beginn der 1980er Jahre ebenso profitierten wie von der Verbreitung von Heimcomputern während der 1990er Jahre. Zudem besteht zwischen Taiwan und Japan aufgrund ihrer Kolonialgeschichte kulturell eine gewisse Nähe, sodass viele der ersten Gamedesigner mit japanischen Spieleklassikern wie zum Beispiel Dragon Quest aufgewachsen sind. Anders als in der kulturellen Atmosphäre des heutigen Taiwan, in der lokale geistige Strömungen vorherrschen, empfand die junge und mittlere Generation Taiwans zu dieser Zeit noch eine starke Zugehörigkeit zur traditionellen chinesischen Kultur. Die Handlung vieler auf Taiwan populärer Martial-Arts-, Historien- oder Liebesfilme spielte auf dem alten oder neuzeitlichen chinesischen Festland. Während der gesamten 1990er Jahre entstanden daraufhin alle möglichen Arten von Martial-Arts-, Fantasy- und Historienspielen. Außer den beiden „Schwerter-Reihen“ der Firma SoftStar Entertainment - Chinese Paladin und Das Schwert der Xuan-Yuan – die zu beiden Seiten der Taiwan-Straße einfach jeder kennt, gibt es mittlerweile noch die aus Werken der Wuxia-Romanautoren Jin Yong und Gu Long adaptierten Serien Die Helden von Jin Yong und Twin Heroes sowie die auf der Zeit der Drei Reiche aufbauende Alternative Geschichte der Drei Reiche und andere Spiele.

Chinese Paladin:Sword and Fairy,Softstar, 1995. Screenshot by Yang Jing Chinese Paladin:Sword and Fairy © SoftStar 1995 Damals vermittelte das taiwanische Gamedesign den Spielern mit chinesischer Muttersprache auf kultureller Ebene nicht nur ein Gefühl natürlicher Vertrautheit, sondern es war auch technisch und spielmechanisch ziemlich ausgereift. In jeder Ausgabe des in Festlandchina beliebten Computerspielemagazins PopSoft nahmen taiwanische Computer-Rollenspiele auf der Spielebestenliste oft monatelang die ersten Plätze ein. Dies hing auch damit zusammen, dass sich auf dem Festland allmählich PCs für den Heimgebrauch verbreiteten. Denn anders als Spieler in Nordamerika und Japan besaßen Spielerinnen in China anfänglich keine Videospielkonsolen. Und außerdem konnte man sich dort nur in sehr wenigen Haushalten ins Internet einwählen, um online zu spielen. Das bedeutete, dass die Konsolenspiele aus Taiwan mit ihren abwechslungsreichen Inhalten und ihren sympathischen Stories auf Platz eins der Beliebtheitsskala standen. Tatsächlich gab es zur selben Zeit auf dem Festland ebenfalls zahlreiche hervorragende Spieleentwickler. Aber weil sie unter dem ungleichen Verhältnis von 1:10 zwischen Originalspielen und Raubkopien litten und nur auf ein begrenztes Reservoir an Talenten zurückgreifen konnten, waren viele Firmen nicht dauerhaft dazu imstande, erfolgreiche Produkte zu entwickeln. Mit Ausnahme der immer noch dynamischen Firma Xishanju, die Das Schicksal der Schwertkampfhelden als dritte „Schwerter-Reihe“ produzierte, ging ein Großteil davon mit der Zeit unter.

Twin Heroes 2, ein von UserJoy Technology 2000 veröffentlichtes Computer-Rollenspiel Twin Heroes 2 © UserJoy Technology 2000 Aber die Geschichte hat sich schon immer in unerwartete Richtungen entwickelt. Nach dem Jahr 2000 wurden die Menschen auf beiden Seiten der Taiwan-Straße gemeinsam Zeugen des rasanten Aufstiegs der Spiele (vor allem der Onlinespiele) aus Festlandschina und des gleichzeitigen Niedergangs der taiwanischen Spieleindustrie. Das hatte teilweise mit dem gewaltigen Boom von Internetfirmen in China und dem Anstieg des dortigen Pro-Kopf-Einkommens zu tun. Die offizielle Ideologie betrachtete Onlinespiele zwar gewohnheitsmäßig als geistiges Opium, aber die Elite des Internets wurde sich schnell des riesigen Marktes und der Profitabilität von Onlinespielen bewusst. Lei Jun (der Gründer von Xiaomi Technology), der damals noch bei Xishanju arbeitete, unternahm einmal eine Studienreise nach Südkorea, wo die Spieleindustrie bereits hochentwickelt war. Danach konzentrierte er die Kräfte der Firma auf die Entwicklung des Internetspiels Sword Net 3.
 
Zu den Firmen auf dem Festland, die im gleichen Zeitraum die Bezahlmechanismen studierten, die bei südkoreanischen Spielen verwendet wurden, zählten außerdem The9 Limited, Shanda und andere. Diese Firmen vermarkteten entweder Spiele aus Eigenproduktion oder übernahmen die Vertretung für große US-amerikanische oder koreanische Onlinespiele. Das auf der anderen Seite der Meerenge liegende Taiwan wählte einen dritten Weg, indem seine Firmen weiterhin dem Vorbild Japans folgten und um Onlinespiele einen Bogen machten. So verloren die Hersteller zum einen den aufstrebenden Markt für chinesischsprachige Spiele auf dem Festland. Zum anderen standen sie bei der Herausforderung, die Spiele von 2D zu 3D upzugraden, auch noch auf der Verliererseite. Tatsächlich waren bereits ab Anfang 2000 etliche taiwanische Gamedesigner nach China abgewandert, hatten dort eigene Niederlassungen eröffnet oder waren Festlandsunternehmen beigetreten. Zahlreiche wertvolle Erfahrungen wurden dabei weitergegeben. Von da an kam die einheimische Spieleentwicklung Taiwans allerdings nicht mehr auf die Beine. Viele früher mächtige Spieleunternehmen verkamen entweder zu lokalen Vertretungen für ausländische Spiele oder sie verpackten ihr früheres geistiges Eigentum neu und verknüpften es mit populärer Spielmechanik. Einhergehend mit den Veränderungen des politischen Klimas ist die heutige taiwanische Spieleproduktion für ihre Independent Games bekannt, die sich durch eine schier unerschöpfliche Originalität auszeichnen. Ständig werden raffiniert gestaltete Spiele zu geringen Kosten auf den Markt gebracht, in denen Taiwans Heimatkultur und Geschichte eine Rolle spielen.

Honor of Kings, ein Handyspiel von Tencent aus dem Jahr 2015 Honor of Kings © Tencent 2015 Wenn Chinese Paladin das Spiel der 1990er Jahre war, das jede chinesischsprachige Gamerin begeisterte, dann ist das in den letzten Jahren angesagteste Spiel wahrscheinlich das von Tencent produzierte Handyspiel Honor of Kings. Tencent, ein auf sozialen Netzwerken und Spielen gegründetes Unternehmen, nahm sich bei der Konstruktion des Spiels das seit einem Jahrzehnt nicht totzukriegende MOBA-Genre (Multiplayer Online Battle Arena) zum Vorbild und borgte sich alle möglichen Elemente aus der chinesischen Kultur. Honor of Kings fesselt Gamer aller Schichten, unabhängig von Geschlecht und Alter, sodass seit dem Launch die tägliche Aktivitätsrate erstaunlich hoch ist. Die Überlegenheit von Tencents mächtiger Matrix seines sozialen Netzwerks versteht sich im Zeitalter der Handyspiele von selbst. Während sich andere Spielefirmen um Markt und Werbekanäle sorgen müssen, ist Tencent seine eigene Plattform und liefert sich seinen Besucherverkehr selbst. Aber in der Popularität von Honor of Kings spiegeln sich auch eine Menge Probleme des heutigen Spielemarktes wider, zum Beispiel, dass er viel stärker an Profit und Vermarktung orientiert ist als an Balance und gutem Design.
Doraemon Monopoly, ein von Gameone 1998 herausgebrachtes Monopoly-Spiel ”Doraemon Monopol” © Gameone 1998 Das gewissermaßen zwischen dem Festland und Taiwan liegende Hongkong spielte stets nur die Rolle des Konsumenten dieser beliebten Spiele. Obwohl es weltweit mehrere hundert Videospiele mit Hongkong-Setting gibt, hatte die Spielebranche der Stadt von jeher strukturelle Probleme. Vor allem die IT-Industrie selbst ist nicht ausreichend entwickelt, sodass es ihr kaum gelingt, ehrgeizige und qualifizierte Gamedesignerinnen an sich zu ziehen. Zwar sind vor Ort in den zurückliegenden zwanzig Jahren etliche aufsehenerregende Spielefirmen entstanden, wie zum Beispiel das Firedog Studio, das Cupid Bistro produzierte, oder Gameone, der Entwickler von Doraemon Monopoly. Aber insgesamt ist Hongkongs Spieleindustrie nie dazu in der Lage gewesen, Maßstäbe zu setzen. In den letzten beiden Jahren sind eine Reihe von Kleinproduktionen mit hoher Qualität erschienen, etwa Glorious Years von Kowloonia Limited oder Paranormal HH von Ghostpie Studio. In beide Spiele sind zahlreiche Elemente aus der Kultur Hongkongs verwoben, wodurch viele Gamer auf sie aufmerksam wurden.

Die Zeit schreitet voran und wir haben die 2020er Jahre, einen weiteren historischen Knotenpunkt mit stürmischer Weltlage. Welchen Weg die Spieleindustrie zu beiden Seiten der Taiwan-Straße einschlagen wird, bleibt abzuwarten.