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Keine Illusionen?

„Never rarely sometimes always“ von Eliza Hittman
Für „Never rarely sometimes always“ von Eliza Hittman gab es bei der 70. Berlinale den Großen Preis der Jury. | Foto: © 2019 Courtesy of Focus Features

Die Wettbewerbsfilme blicken laut Carlo Chatrian eher illusionslos auf die Gegenwart. Ist die Düsternis der Filme angemessen oder wäre ein positiv-konstruktiver Blick auf die Welt wünschenswert?

Gabriele Magro Foto: © privat Gabriele Magro - Italien: Auf die Wirtschaftskrise des Jahres 2008 folgte eine kulturelle Krise, die das gesamte nächste Jahrzehnt prägen sollte. Institutionen und Werte, die bisher als Fundamente der westlichen Gesellschaft galten, wurden in ihren Grundfesten erschüttert: Demokratie, Freizügigkeit, Familie, Religion, soziale Sicherheit. Möglicherweise verdeutlicht die desillusionierte und düstere Perspektive vieler Figuren, die in den Wettbewerbsfilmen der diesjährigen Ausgabe um ihren Platz in der Welt kämpfen, wie dringend wir in der heutigen Zeit Bilanz ziehen müssen.

Ieva Šukytė Foto: © privat Ieva Sukyte - Litauen: Da die Welt, in der wir heute leben, mit vielen Problemen wie Rassismus, der Diskriminierung von Minderheiten und dem Klimawandel konfrontiert ist, können sich die Filme nicht vor der Realität verstecken. Die Regisseur*innen aus der ganzen Welt beleuchten die Probleme ihrer Länder und kulturelle Fragen, was für uns heute wichtiger ist, als ein positives Bild der Welt zu entwerfen.

Erick Estrada Foto: © privat Erick Estrada - Mexiko: Wie immer liebe ich den Wettbewerb, doch in diesem Jahr gefällt er mir besonders gut. Es stimmt, dass er von einer gewissen Illusionslosigkeit geprägt ist, doch ich finde es wichtig, Filme zu sehen, die einen kritischen Blick auf die Welt werfen, denn zurzeit ist die Welt kein angenehmer Ort. Sich damit in Filmen und Geschichten auseinanderzusetzen, ist der beste Weg, um einen wirklichen Wandel auszulösen. Filme müssen uns wieder herausfordern.


Sarah Ward Foto: © Privat Sarah Ward - Australien: Auch wenn Siberia von Abel Ferrara möglicherweise der am meisten polarisierende Wettbewerbsbeitrag der diesjährigen Berlinale war, ist er doch eine hervorragende Metapher für die inhaltliche Vielfalt, die wir in diesem Herzstück des Festivals erleben dürfen. Wie sich die von Willem Dafoe verkörperte Figur auf die Suche begibt, so begeben sich auch Cineast*innen auf eine Reise in eine andere Welt, wenn sie sich mit dem Programm eines Filmfestivals auseinandersetzen. Dabei werden sie auch mit der gesamten Bandbreite an Emotionen und Sichtweisen konfrontiert: Filme mit verschlungenen und nervenaufreibenden Wendungen (The Intruder von Natalia Meta), scharfsinniger Ironie (Die Frau, die rannte von Hong Sang-soo), melancholischem Herzschmerz (Le Sel des Larmes von Philippe Garrel) oder erschütternden und aktuellen Schicksalen (Never Rarely Sometimes Always von Eliza Hittman), um nur einige zu nennen, die mir auf Anhieb in den Sinn kommen.

Javier H. Estrada Foto: © privat Javier H. Estrada - Spanien: Es stimmt, dass der Wettbewerb kein positives Bild vermittelte, doch für mich bildet er leider den aktuellen Zustand der Welt ab. Beispielsweise zeigt der Gewinner des Goldenen Bären, There Is No Evil von Mohammad Rasoulof, meines Erachtens, dass sich die Realität im Iran wohl kaum besonders optimistisch darstellen lässt. Es gab aber auch intime Betrachtungen, wie Siberia von Abel Ferrara, der uns mit seinen Bildern auf die verschlungenen Pfade der menschlichen Seele führte und damit ein zeitloses und universelles Thema behandelte.

Yun-hua Chen Foto: © privat Yun-hua Chen - China: Das Kino ist nicht der richtige Ort, um sich einen positiven und konstruktiven Blick auf die Welt zu verschaffen. Es ist der Ort, an dem sich das wahre Antlitz der Welt zeigt, das wunderschön und hässlich, hoffnungsvoll und hoffnungslos zugleich sein kann. Gute Filme regen ihre Zuschauer*innen an, die passenden Fragen zu stellen und miteinander ins Gespräch zu kommen. Sie sollen nicht dazu dienen, der Lebenswirklichkeit zu entfliehen. Düster oder nicht, ein guter Film ist ein guter Film. Vor diesem Hintergrund ist Effacer l’Historique ein hervorragendes Beispiel dafür, wie sich das Kino wirkungsvoll dafür nutzten lässt, unseren Alltag, der auf so absurde und tragische Weise von Technologie und Bürokratie bestimmt wird, humorvoll abzubilden.

Michal Zielinski Foto: © privat Michal Zielinski - Polen: Aus psychologischer Sicht neigen alle Menschen dazu, gefährlichen Dingen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. In einigen Nachrichtenredaktionen heißt es sogar: Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Insbesondere in unserer globalisierten und vernetzten Welt sollten wir uns ganz bewusst um einen Ausgleich zwischen Gut und Böse bemühen. Mir persönlich gefallen die düsteren Geschichten besser, weil sie mir das Gefühl vermitteln, dem wirklichen Leben näher zu sein. Letzten Endes kommt damit jedoch mein persönlicher psychologischer Bias zum Ausdruck, den ich ausgleichen sollte, um mir ein realistisches Bild von der Welt zu verschaffen. Ganz gleich, wie viele schlechte Dinge es in der Welt gibt, es geschieht immer auch Gutes. Mitunter finde ich es mutig, positiv auf die Welt zu blicken.

Anjana Singh Foto: © privat Anjana Singh - Indien: Meiner Meinung nach ist es sehr wichtig, die Gegenwart in der vollen Breite zu zeigen, finde es aber unabdingbar, Handlungsempfehlungen zu vermitteln, damit man nicht mit einem Gefühl der Wut und Ohnmacht aus dem Kino geht. Eine Lösungsorientierung wäre sinnvoll, ist aber vielleicht nicht immer möglich.

Egor Moskvitin Foto: © Privat Egor Moskvitin - Russland: Ich erinnere mich, dass die letztjährige Berlinale mit dem Film The Kindness of Strangers eröffnet wurde. Darauf folgten allerdings zwei Dutzend Filme, die sich mit der Brutalität und dem Bösen in uns Menschen auseinandersetzten. Ich liebe diesen ironischen Blick, der sich für mich in diesem Jahr jedoch zu einer Art schwarzem Humor weiterentwickelte: Der Eröffnungsfilm war eine Fabel, auf die Filme über die dunkle Seite der Welt folgten. Meiner Meinung nach sollte Kunst ihre Entstehungszeit widerspiegeln. Deshalb begrüße ich die pessimistische Grundstimmung der diesjährigen Festivalausgabe. Gleichzeitig glaube ich aber auch, dass Kunst an den hohen Anspruch, die mutigen Taten und die großzügigen Opfer erinnern sollte, zu denen Menschen in der Lage sind. Aus diesem Grund ziehe ich Geschichten vor, die einen negativen Blick auf die Welt, aber einen positiven Blick auf die Menschheit werfen. Zum Glück waren solche Filme in diesem Jahr reichlich im Programm vertreten.

Hyunjin Park Foto: © privat Hyunjin Park - Korea: Im diesjährigen Wettbewerb gibt es meines Erachtens viele Werke, die einen klaren und unaufgeregten Blick auf die Realität vermitteln. Eine unverstellte und illusionsfreie Sicht auf die Realität ist zwar deprimierend, wirft aus meiner Sicht aber auch existenzielle Fragen auf. Und ist es im Grunde nicht positiv und konstruktiv, sich mit solchen Fragen auseinandersetzen?

Berlinale-Blogger Andrea D'Addio Foto: © Privat Andrea D'Addio - Italien: Ich habe keine besondere Vorlieben und mag Filme, die Zuschauer*innen auf kluge, stilvolle und sachliche Weise zum Nachdenken anregen. Wenn dies passiert, ganz gleich, ob es in einem Film um das aktuelle Zeitgeschehen oder um die menschliche Seele geht, dann behandeln sie auf gewisse Weise auch unsere Gegenwart.

Camila Gonzatto Foto: © Privat

Camila Gonzatto - Brasilien: Die Filme sind ein Spiegel ihrer Zeit und der Herausforderungen, denen sich die Welt stellen muss, in der Tradition und Konservatismus zunehmen und den sozialen Fortschritten der letzten Jahrzehnte frontal gegenüberstehen. Das ruft dieses Obskure hervor. Aus meiner Sicht ist es nicht die finsterste Berlinale. In den Sektionen Panorama und Forum zum Beispiel hat in den vergangenen Jahren der Krieg in Syrien sehr intensive Filme hervorgebracht. Nach wie vor ist der Film eine Kunst, die imstande ist zu mobilisieren und zum Nachdenken anzuregen. Ich finde es wichtig, in schwierigen Zeiten solche Filme zu haben.

 
Philipp Bühler Foto: © Privat Philipp Bühler - Deutschland: Der Begriff „Publikumsfestival“ führt ein wenig in die Irre, die Berlinale ist doch seit Längerem geradezu das Festival des düsteren Films. Daran hat sich in der 70. Ausgabe, so ich das beurteilen kann, wenig geändert. Reine Unterhaltungsware findet sich hier kaum, und wird auch nicht vermisst. Schön wäre es dennoch, wenn sich illusionslose, politische oder sonst wie herausfordernde Filme an andern zumindest messen müssten. Einseitige Kost ist auf Dauer nicht gesund, auch in der Filmkunst.

Berlinale-Bloggerin Jutta Brendemühl Foto (Ausschnitt): © Goethe-Institut Jutta Brendemühl - Kanada: Ob angemessen oder nicht, die Dystopie ist unsere Realität, ein Zeichen der Zeit. Man denke nur an den schrecklichen Massenmord, der mit der Eröffnung der Berlinale zusammenfiel. Ich wünschte, mehr Filme wären ergreifender, wirkungsvoller, radikaler gewesen. Einige schienen viele politische Themen zu streifen, aber dann nicht so zu liefern, wie sie hätten liefern können. Sie waren düster, aber nicht tiefgründig genug. Das gilt nicht für den Film Berlin Alexanderplatz, der sich das heutige Europa frontal und auf einen Schlag vorgenommen hat – sehr düster, aber nicht ohne Hoffnung.

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