Roberto Uribe  „Ich arbeite von den verschiedenen Peripherien aus, an denen ich mich befinde“

Roberto Uribe, „Melting Traces“, 2014.
Roberto Uribe, „Melting Traces“, 2014. Foto: Roberto Uribe

Der in Berlin lebende Architekt und Künstler Roberto Uribe Castro spricht darüber, wie die Erinnerung an Gewalt und Kolonialismus in der Gegenwart einen Platz findet und wie er sich auf die Suche nach kollektiven Gesten der Wiedergutmachung in Kunst und Architektur begibt.

Sie haben Architektur studiert. Welchen Einfluss hat das auf Ihre Kunst?

Die Architektur hat mir Werkzeuge an die Hand gegeben, um die Welt und die Zeit, in der ich lebe, zu verstehen. Später erkannte ich, dass es dabei nicht nur um Gestaltung geht, sondern auch um soziales und ethnografisches Verständnis und die Verbindung zwischen Stadt, Erinnerung und öffentlichem Raum. 

Welche Rolle spielen Bogotá und Berlin bei Ihrer Arbeit?

In beiden Städten sind Spuren von Gewalt zu finden. In Bogotá prägen der Bogotazo [1948] und die Besetzung des Justizpalasts [1985] immer noch die Art des Wohnens. Berlin dagegen beeindruckt mich wegen seines Bemühens, der Erinnerung zu begegnen, auch wenn ich heute einen schwächeren kritischen Geist wahrnehme, was sich in der Debatte über Palästina und der Repression bestimmter öffentlich geäußerter Meinungen zeigt. An beiden Städten liebe ich, dass Erinnerung in Straßen eindringt und auf jeweils eigene Art und Weise interpretiert wird.

Vor Ihrer individuellen künstlerischen Tätigkeit haben Sie für die kolumbianische Künstlerin Doris Salcedo gearbeitet. Was haben Sie dabei gelernt?

Ganz Entscheidendes! Ich hatte mich zunächst auf eine funktionale und ästhetische Architektur fokussiert und begann nun, sie als einen Beruf zu begreifen, der unsere Wohn- und Lebensformen infrage stellen kann. Durch die Zusammenarbeit mit Doris Salcedo konnte ich an Untitled (8. Istanbul Biennale, 2003) mitwirken, einer Installation von übereinandergeworfenen Stühlen in einer Gebäudelücke. So lernte ich, die Stadt als Archiv und als Arbeitsort zu betrachten, und verstand, wie wichtig Beobachtung, Spurensuche und die Sichtbarmachung von Verbindungen zwischen weniger offensichtlichen Realitäten und Geschichten sind.

Kautschuk als Symbol der Ausbeutung Amerikas und des Kongos kommt ebenfalls in Ihrem Werk vor. Was hat Sie dazu gebracht, sich mit diesem Material zu beschäftigen?

Ich ging nicht vom Material aus, sondern von den Geschichten. In La Chorrera im kolumbianischen Departement Amazonas erfuhr ich, dass die indigene Gemeinschaft Roger Casement verehrt. Dieser irische Diplomat prangerte die dort verübten kolonialen Gräueltaten an, was den Menschen zufolge die Auslöschung ihres Volkes verhinderte. Das brachte mich dazu, mich mit der Geschichte des Kautschuks und ihren heutigen Spuren – Gewalt und Umweltverschmutzung – auseinanderzusetzen. Während ich an Imágenes del caucho („Bilder des Kautschuks“, 2022) arbeitete, las ich One River von Wade Davis, und laut diesem Buch wurde Casement von der britischen Krone dazu instrumentalisiert, die Firma Casa Arana und den Kautschuk mithilfe der Gewächshäuser von Kew Gardens nach Asien zu bringen. Diese dunkle Seite – Gewächshäuser als Komplizen der Ausbeutung – wird fast nie erzählt. So tauchten zahlreiche Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Material und Architektur auf.

Sie haben auf die transformatorische Macht oraler und ritueller Traditionen hingewiesen. Welchen Platz haben diese in Ihrem Werk?

Im Westen dominiert das Schrifttum alles Orale und Rituelle. Diese Hierarchie möchte ich infrage stellen und untersuchen, wie das Zeremonielle und Kollektive unsere Beziehung zum Raum transformieren. In O Jehovah Quam Ampla Sunt Tua Opera! (2020) arbeitete ich mit diesen Ausdrucksformen: Ich verlegte Vogelpräparate aus dem Muesum Koenig – einen Andenkondor, einen afrikanischen Kuckuck, einen Wellensittich und einen Storch – in die Schlosskirche der Universität Bonn und brachte dort den biblischen Wahlspruch aus dem Museumsfoyer an, der meiner Arbeit den Titel gibt. Es handelte sich um eine symbolische Überführung von fetischisierten Objekten der Wissenschaft an diesen religiösen Ort, eine Übung der Rekontextualisierung, um alles neu zu verstehen.
Roberto Uribe, „O Jehovah Quam Ampla Sunt Tua Opera“, 2020.

Roberto Uribe, „O Jehovah Quam Ampla Sunt Tua Opera“, 2020. | Foto: Roberto Uribe

Ihr Werk steht im Dialog mit zum Schweigen gebrachten Erinnerungen. Wie übersetzen Sie diese in konkrete Vorschläge?

Erinnerung wird aktiviert, wenn zum Schweigen gebrachte Ereignisse in der Gegenwart einen Platz bekommen. 2013 präsentierte ich im Rahmen des Wettbewerbs REcall (Beyond Memorialisation) das Projekt Melting Traces, bei dem tausend Eisblöcke im römischen Stadtteil Quadraro aufgestellt wurden – einer für jeden Mann, der von den Nazis von dort deportiert wurde. Und in jedem Eisblock befand sich ein Alltagsgegenstand, der das unterbrochene Leben darstellte. Bei der Ausstellung der Finalisten in Berlin wurde zwar nur eine kleine Version der Installation umgesetzt, aber das Projekt zeigt, wie die gesammelten Informationen wieder Gestalt annehmen und sichtbar machen können, was wir so schwer begreifen.

Wie gehen Sie damit um, als kolumbianischer Migrant in Deutschland Geschichten aus dem Globalen Süden zu erzählen?

Ich nehme eine eindeutige Position ein: die des Migranten, Schwulen und Architekten in der Gruppe der Erwerbstätigen, die in Deutschland leben. In Kolumbien sind eindringliche lokale Stimmen zu Themen zu hören, zu denen ich arbeite, wie koloniales Erbe und die Moderne. Meine Stimme soll nicht von ihrem, sondern von meinem Standort aus zu hören sein. Durch meinen Werdegang befinde ich mich an einem Punkt dazwischen: Ich habe Architektur in Lateinamerika studiert, ein in Europa wertloser Abschluss, und ich habe nie eine Kunsthochschule besucht. Die Künstler sehen mich als Architekten und die Architekten als Künstler. Aber das ist nur eine der verschiedenen Peripherien, an denen ich mich befinde, und ich bin mir bewusst, dass ich aus einem Land komme, in dem Bildung ein Privileg ist und in dem mein Beruf teilweise mit Vertreibung und Umweltverschmutzung verbunden wird. Ich spreche also von diesem Standort aus, und ich empfinde es als meine Pflicht, dabei äußerst verantwortungsvoll zu sein. Und wenn ich Affinitäten zu widersprüchlichen Persönlichkeiten wie Roger Casement entdecke, erinnert mich das daran, dass meine Stimme in einem Kontext verortet ist, der nicht immer ganz mir gehört.

Auf welche Verbindungen zwischen kolonialer Vergangenheit und Klimakrise sind Sie während Ihres Aufenthalts in der Vila Sul des Goethe-Instituts in Salvador de Bahia gestoßen?

An Salvador faszinierte mich, dass es als Küstenstadt durch die Kolonialgeschichte geprägt wurde und heute in besonderem Maße der Klimakrise ausgesetzt ist. Anhand von climate apartheid möchte ich zeigen, wie historisch rassifizierte oder ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen heute in die gefährlichsten Stadtzonen abgedrängt werden. Die Verbindung zwischen Kolonialismus und urbaner Realität ist in Salvador offensichtlich. Außerdem habe ich beobachtet, wie gewisse koloniale Gesten – etwa die portugiesischen padrões – und gewisse Nutzungsformen des öffentlichen Raums Kennzeichen für Rassismus sind.
Roberto Uribe, „Padrões“, 2025.

Roberto Uribe, „Padrões“, 2025. | Foto: Svenja Rudolph

Mit Blick auf die Zukunft – in welcher Rolle würden Sie Ihre künstlerische Praxis in der Gesellschaft gern sehen?

Aktuell interessiert mich die gesellschaftliche Rolle der Kulturinstitutionen: Wie können sie für eine kollektive Arbeit und symbolische Wiedergutmachung geöffnet werden? Zum Beispiel arbeiten wir gerade mit dem Museum für Moderne Kunst von Bahia zusammen, um die alte Lithografiemaschine wieder in Gang zu setzen und mit den erhaltenen Lithografiesteinen in verschiedenen lokalen Gemeinden wieder in Betrieb zu nehmen. Solche Projekte, bei denen Architektur und Kunst zusammenwirken, motivieren mich derzeit am meisten.
Der Künstler Roberto Uribe.

Der Künstler Roberto Uribe. | Foto: Klaus Heymach

 

Das Residenzprogramm VILA SUL wurde 2016 ins Leben gerufen. Es verfolgt eine thematische Orientierung – das übergeordnete Thema ist der „Süden“. Davon ausgehend, stehen jedes Jahr bestimmte Schwerpunkte, wie etwa „Afrikanisches Erbe/Postkolonialismus“, „Stadtentwicklungen“ und „Nachhaltigkeit“ im Fokus (2023-2025). Der Schwerpunkt 2026 liegt auf dem Thema „Fabrics of Narratives – Erzähl-Stoffe“.

Residenz VILA SUL – Goethe-Institut Salvador-Bahia – Brasilien
https://www.goethe.de/ins/br/de/sta/sal/res.html

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