In einer Zeit, in der sich der weiße Nationalismus erneut auf dem Vormarsch befindet, wird Hannah Arendts Werk zum Totalitarismus oft als Orientierungshilfe für unsere sozialpolitische Krise bezeichnet. Aus der Perspektive Südafrikas offenbart die Lektüre ihres Werkes jedoch ein grundlegendes Paradox.
Nach etwas mehr als 30 Jahren Demokratie in Südafrika fand im Oval Office des Weißen Hauses in Washington, D.C, ein seltsames Treffen zwischen dem südafrikanischen Präsident Cyril Ramaphosa und US-Präsident Donald Trump zur „Stärkung der bilateralen Beziehungen“ statt. Denn die Veranstaltung geriet eher zu einer effekthascherischen politischen Inszenierung, als dass es zu ernsthaften diplomatischen Gesprächen gekommen wäre. Der Präsident der Vereinigten Staaten präsentierte Ausschnitte aus Boulevardzeitungen wie offizielle Dokumente und untermalte jedes Bild dieser bizarren Auswahl mit dem Kommentar: „Tod. Tod. Tod. Tod.“ Alles unter der Headline: Völkermord an Weißen in Südafrika.In den nächsten Tagen wurde in den internationalen Medien über die Bedeutung dieses Treffens gerätselt. Unzählige Faktenchecks haben gezeigt: Es gibt keinen Völkermord an Weißen, nur grassierende Ungleichheit und Kriminalität.
In diesem Beispiel ist Südafrika kein souveräner Nationalstaat, der Verhandlungen über Handel oder Diplomatie führt, sondern wird als Parabel für eine Apokalypse der „Rassengesellschaft“ inszeniert. Die Schlagzeilen vermitteln kein realistisches Bild des Landes, sondern vielmehr eine Fantasievorstellung von weißem Opfertum – in einer Umkehrung der Geschichte, in der sich die Profiteure vergangener Enteignungen selbst als Entrechtete betrachten.
Eine eigenartige gegenseitige Bedingtheit der Gegensätze
Seit die ersten Schiffe der Niederländischen Ostindien-Kompanie Mitte des 17. Jahrhunderts versucht haben, das Kap zu umrunden und anschließend zu besetzen, nimmt das heute als Südafrika bekannte Gebiet einen übergroßen und unveränderten Platz in den weltweiten Vorstellungen von „Rasse“ ein.In zahlreichen Momenten der Geschichte diente das Land nicht nur als paradigmatischer Schauplatz der imperialen Eroberung und rassistischen Unterdrückung, sondern übte gleichzeitig auch eine große symbolische Strahlkraft auf die Träume und Solidaritätsgefühle der Anhänger*innen des Befreiungskampfes aus. Seine Konturen wurden sowohl von der europäischen Kolonialkartografie als auch von geistigen, kulturellen und politischen Strömungen in Afrika bestimmt und erstrecken sich weit über die physischen Landesgrenzen hinaus in die Spekulationsräume derer, die die Rasseordnung entwickeln, hinterfragen und umgestalten.
Seit Jahrzehnten bemühen all diejenigen, die die mögliche oder tatsächliche Herrschaft einer Schwarzen Mehrheit in Unruhe versetzt, das Bild von Todeslagern als rhetorisches Mittel und betrachten Veränderungen des Landeigentums oder der staatlichen Politik als existenzielle Bedrohung für das Überleben der Weißen. Eine solche metaphorische Übertragung historischer europäischer Gräueltaten auf den südafrikanischen Kontext und den Post-Apartheidstaat als dämonischen Täter würde Achille Mbembe als Umkehrung des Kolonialismus bezeichnen: Die ehemals Begünstigten der rassistischen Herrschaft verdrehen die Tatsachen, indem sie sich selbst zum Opfer stilisieren.
Im finsteren Herz dieser rhetorischen Strategie liegt etwas zutiefst Absurdes, das an Hannah Arendts Überlegungen zur totalen Herrschaft und die damit einhergehende „eigenartige gegenseitige Bedingtheit der Gegensätze“ erinnert. Das Absurde kommt hier in der Gegenüberstellung nicht miteinander vereinbarer Realitäten zum Ausdruck, wie dem Mythos der Weißen Opferschaft mit der fortgesetzten strukturellen Dominanz des weißen Kapitals; der Tatsache, dass sich diejenigen als Opfer humanitären Leids betrachten, die in vielen Fällen für die genannten Ausbeutungsverhältnisse verantwortlich sind; dem Ruf nach weltweitem Mitgefühl für diejenigen, die ihre Privilegien in der Vergangenheit mit systemischer Gewalt verteidigt haben. Von diesem Spannungsverhältnis zwischen Fakt und Fälschung, Leid und Dominanz, Grausamkeit und Straflosigkeit wird das derzeitige politische Klima bestimmt.
Arendt reproduziert koloniale Vorstellungswelten
In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft äußert Arendt scharfe Kritik an den „Rassefanatikern“ in Südafrika und wertet das besessene Festhalten des Landes an der Rassenordnung als Symptom für einen ideologischen Verfall der Politik in ein brutales Dominanzverhalten. Sie zeigt Parallelen zwischen dem südafrikanischen Apartheidregime und der Vernichtungsstrategie des NS-Regimes auf. Doch bei aller Kritik an der rücksichtslosen autoritären Rassenpolitik des Apartheidregimes reproduziert Arendt auch mit wenig kritischer Distanz eben jene zivilisatorischen Hierarchien, die das Fundament dieser Politik gebildet haben.Zum Beispiel in der folgenden Bemerkung:
„Der […] Rassebegriff war der Notbehelf, mit dem Europäer auf menschliche Stämme reagierten, die sie nicht nur nicht verstehen konnten, sondern die als Menschen, als ihresgleichen anzuerkennen sie nicht bereit waren. Der Rassebegriff der Buren entspringt aus dem Entsetzen vor Wesen, die weder Mensch noch Tier zu sein schienen und gespensterhaft, ohne alle faßbare zivilisatorische oder politische Realität, den schwarzen Kontinent bevölkerten und übervölkerten. Aus dem Entsetzen, daß solche Wesen auch Menschen sein könnten, entsprang der Entschluß“ […] „wie ein Blitz aus heiterem Himmel: „Rottet die Bestien aus.“
Hier bemüht Arendt für das konzeptionelle Gerüst ihrer Kritik koloniale Tropen der Vergangenheit. Schwarze in Afrika sind für sie „Wilde“, die mit ihrer Gegenwart lediglich die Monstrosität von Afrika verkörpern und deren menschliche Existenz von Europäer*innen nur als Problem wahrgenommen wird. Sie stellt den Rassebegriff als eine Art ideologische Notlösung dar, doch die Begriffe, mit denen sie diesen „Notfall“ beschreibt, sind von weißen kolonialen Vorstellungswelten durchsetzt.
An anderer Stelle führt sie aus:
„Die Buren sind die ersten Kolonialmenschen, die sich nie wieder in normale europäische Verhältnisse hätten schicken können, weil ihnen das grundsätzliche Ethos des Europäers, der in einer von ihm selbst mitgeschaffenen und dauernd mitveränderten Welt lebt, nicht mehr begreiflich war. […] rücksichtlos von der trägen, parasitären Ausbeutung […] sanken sie selbst auf die Stufe jener barbarischen Stämme […]. Was [die Eingeborenen] auch physisch erschreckend und abstoßend machte, war die katastrophale Unterlegenheit oder Zugehörigkeit zur Natur, der sie keine menschliche Welt entgegensetzen konnten. […] Indem die Buren die Eingeborenen nicht als Menschen, sondern als […] Rohstoff […] ansahen […]. Wäre dieser Prozeß […] weiter gelaufen, so hätte an seinem Ende der weiße Buren-Stamm sich in nichts als durch die Hautfarbe von seinen schwarzen Nachbarn unterschieden.“
Laut Arendt „vegetieren“ Schwarze in Afrika in einer eintönigen, prähistorischen Zeit dahin; ihr Verhältnis zu ihrem Land reduziert sie auf das „wilder Tiere“, und das größte Grauen geht in ihrer Darstellung nicht von der Gewalt der kolonialen Unterdrückung, sondern von einem möglichen Absinken der Weißen aus. Dabei fürchtet sie weniger den Zusammenbruch einer ungerechten Rassenordnung, sondern vielmehr das Wegfallen der Unterschiede zwischen den Rassen, das in ihren Augen einem Niedergang der Zivilisation gleichkäme.
Daraus ergibt sich ein Paradox. Denn obwohl Arendt die Politik der Rassentrennung als „Wahn“ verurteilt, reproduziert sie im selben Atemzug koloniale Vorstellungswelten, wenn sie die Existenz Schwarzer als einförmig, trübsinnig und wild bezeichnet. Sie bezieht ihr Entsetzen nicht auf die Entmenschlichung der Kolonisierten, sondern auf ein mögliches Absinken der Weißen auf dieselbe Stufe des Animalischen.
Arendt und Mandela
Ein weiteres Paradox zeigt sich in einem kleineren, privateren Vorfall: der Diskussion über den Balzan-Preis. Die Geschichte beginnt, wie David D. Kim in seinem dreiteiligen Essay Why Didn’t Hannah Arendt Nominate Nelson Mandela for the Balzan Prize? beschreibt, in dem für Arendt äußerst turbulenten Jahr 1963. Sie war gerade von einer kurzen Atempause in Europa zurückgekehrt, als der Feuersturm über Eichmann in Jerusalem losbrach. Jenseits des Atlantiks war Medgar Evers in Mississippi ermordet worden; in Südafrika reagierte das Apartheidregime mit neuen repressiven Gesetzen und Massenverhaftungen auf die Ereignisse von Sharpeville.Zu dieser Zeit bat sie ihr ehemaliger Lehrer Karl Jaspers, der in der Jury des Balzan-Preises zur Förderung von Humanität, Frieden und Brüderlichkeit unter den Völkern saß, um Empfehlungen für Preisträger*innen. Mit dem neuen und ausgesprochen ambitionierten Preis sollten „Initiativen zur Förderung von Frieden zwischen den Völkern“ ausgezeichnet werden.
Arendt nahm sich diese Bitte zu Herzen. In Paris führte sie ein vertrauliches Gespräch mit dem südafrikanischen Schriftsteller Dan Jacobson, der ihr Unterlagen zu möglichen Kandidaten überreichte. Drei Namen standen auf der Liste: Alan Paton, liberaler Autor von Denn sie sollen getröstet werden, Trevor Huddleston, anglikanischer Bischof aus England, der gemeinsam mit den Schwarzen Bewohner*innen von Sophiatown gegen deren Zwangsräumung gekämpft hatte, und Nelson Mandela, der zu dieser Zeit im Gefängnis saß. Jacobson schickte ihr Mandelas Reden aus dem Treason Trial mit handschriftlichen Korrekturen sowie biografische Informationen zu seiner anwaltlichen Tätigkeit mit Oliver Tambo und seiner Präsidentschaft in der ANC Youth League.
Man könnten meinen, Arendt, die Südafrika in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft bereits als Rassengesellschaft diagnostiziert hatte, könnte die Gelegenheit nutzen und Mandela vorschlagen, der den Widerstand gegen dieses System am sichtbarsten verkörperte und dafür mit seiner Freiheit bezahlte. Doch das tat sie nicht. Am 9. August 1963 schickte Arendt Jacobsons Material an Jaspers und legte dem Umschlag selbst verfasste Kurzbiografien bei. Sie nannte „TREVOR HUDDLESTON“ an erster Stelle, lobte sein weißes Christentum, sein Engagement für den gewaltlosen Widerstand und seine Beliebtheit bei den Schwarzen in Südafrika. Zu Mandela stellte sie kurz fest, er sei ein Rechtsanwalt, „N-Wort“ (Anm. der Red.: Um rassistische Sprache nicht zu reproduzieren, haben wir dieses Zitat bewusst verändert) und stamme von „Stammeskönigen“ ab. Er habe Streiks organisiert, im Untergrund gelebt, sei von einem „Informanten“ verraten worden und habe bei seinem Prozess „eine ganz hervorragende Rede“ gehalten. Doch sie verwies ihn auf den zweiten Platz.
Kim macht deutlich, wie aufschlussreich diese Zurückweisung ist. Weder hatte Arendt Mandelas Reden gründlich gelesen, noch hatte sie dem Umschlag mit den Unterlagen auch die von Jacobson verfasste ausführlichere Biografie beigefügt. Sie unterstrich Huddlestons Charisma, seine moralische Klarheit und die Tatsache, dass er in Europa Anerkennung genoss. Mandela dagegen widmete sie nur einige wenige flüchtige Zeilen, die von Andeutungen auf „Terror“ getrübt waren. Für einen Preis, der Initiativen zur Förderung von „Frieden zwischen den Völkern“ auszeichnete, konnte oder wollte Arendt als Figur des Friedens keinen Schwarzen Revolutionär vorschlagen, der sich für den bewaffneten Kampf entschieden hatte. Ihre politische Vorstellungskraft verlangte nach einem moralischen Beobachter, der sich in den Rahmen der Zivilisation fügte. Huddleston passte in diese Rolle, Mandela dagegen nicht.
Das Arendtsche Paradox
Das Paradox wiederholt sich: Obwohl Arendt den Rassebegriff als ideologische Wahnvorstellung der Buren bezeichnete, berief sie sich in ihren Begründungen auf eben jene Hierarchien, die sie eigentlich kritisch hinterfragen wollte. Sie unterstützte den Kampf gegen die Apartheid, aber nur, wenn er von einer Weißen Person des Gewissens geführt wurde, der in Europa Autorität besaß. Sie zeigte Anerkennung für Mandelas Leid, jedoch nicht für seine Politik. Nicht die fortgesetzte Dauer der rassistischen Herrschaft löste bei ihr Entsetzen aus, sondern das Gespenst der revolutionären Gewalt, das Wegfallen der Grenzen zwischen Politik und Krieg, das für sie mit einem Niedergang der Zivilisation selbst gleichzusetzen war.Auch aus der Diskussion um den Balzan-Preis lässt sich zwischen den Zeilen die zivilisatorische Hierarchie ablesen, auf die sie ihre Schriften stützt. Während sie den Schwarzen Widerstand als exzessiv, „fanatisch“, gewaltbereit bezeichnet, erhebt sie die Weiße Solidarität zum echten Garanten universeller menschlicher Werte. Auch wenn, wie Kim anmerkt, Arendts Urteil nur den Wenigsten bekannt sein mag, weil es nie veröffentlicht wurde, macht es doch ihre Denkmuster deutlich: Ihre Rassismuskritik endet abrupt an der Grenze des Schwarzen politischen Aktivismus, und es gelingt ihr nicht, ihre Verurteilung des „Fanatismus“ von kolonialen Vorstellungswelten zu lösen.
Oktober 2025