War der Surrealismus eine Reaktion auf den Faschismus oder gar sein radikales Gegenbild? Wie reagiert die Kunst heute auf bizarre politische Tendenzen? Ein Gespräch mit Adrian Djukić, der 2024 zusammen mit Stephanie Weber und Karin Althaus die Ausstellung „Aber hier leben? Nein danke.“ kuratiert hat.
Herr Djukić, der Surrealismus gilt als eine der radikalsten künstlerischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Woran liegt das?
Das liegt vor allem an ihrer Entstehungszeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Einige Gründungsmitglieder hatten bereits im Ersten Weltkrieg gekämpft und waren angewidert von der Idee ein Land zu vertreten. Die Surrealist*innen wussten, dass die ganze Gesellschaft sich verändern muss, wenn die Welt nicht erneut in einen Kriegszustand münden sollte. Sie waren informiert über tagespolitisches Geschehen, aber auch philosophisch sehr belesen und gingen davon aus, dass es eine größere Revolution braucht, um aus den Problemen, die sich damals schon wieder massiv aufgebaut hatten, herauszukommen.
Ein weiterer Beweis ihrer Radikalität lag im Versuch die Kunst zu verändern, die in ihren Augen gescheitert war. Gleichzeitig positionierten sie sich in politischen Fragen, Antikolonialismus, Antikapitalismus, Internationalismus waren schon in den 1920er Jahren explizit formulierte Standpunkte. Also echte Maximalforderungen.
Surrealistische Kunst betont das Bizarre, Traumhafte und Unbewusste. Wie genau äußerte sich das?
Die Aufklärung wurde als gescheitert betrachtet, da im Namen des sogenannten gesunden Menschenverstands immer noch Verbrechen begangen, Länder unterworfen und Kriege geführt wurden. Also lehnten sie die Realität entschieden ab. Mit dem Traum und dem Unbewussten oder Grotesken kamen Kategorien ins Spiel, die eine erweiterte Betrachtung dieser Realität möglich machten. Der Traum und die künstlerische Arbeit sollten Einfluss nehmen auf die Realität, um bessere, aufregendere Vorstellungswelten zu ermöglichen.
Konkret sah das ganz unterschiedlich aus: Surrealist*innen archivierten ihre Träume, die sie zum Beispiel in Zeitschriften mitteilten. Sie arbeiteten mit Techniken, die ihnen die Kontrolle über ihre Bilder stellenweise entzogen, durch Feuer auf Negativen, Doppelbelichtungen oder Leim auf Fotoplatten. Oft war ihre Kunst experimentell und es wurde auf das Prinzip der Collage zurückgegriffen, um möglichst überraschende Verknüpfungen zu erreichen. Der Traum war also weniger Flucht als ein Druckmittel gegen eine von Zwecken und Ausbeutung zugerichtete Welt.
Der Begriff „bizarr“ beschreibt seit der Renaissance Erscheinungen, die die Ordnung der Welt infrage stellen. Ob psychische Ausnahmezustände und Träume oder verwegene Einfälle und geniale Schöpfungen. Welche Rolle spielte das Bizarre für den Surrealismus?
Es ist ganz wichtig gewesen. Der Surrealismus begann als literarische Bewegung und fand sich schon bald in allen Bereichen der bildenden Kunst wieder. Als Darstellung einer auf irgendeine Weise entfremdeten Welt oder als ästhetisches Mittel, um durch neue Kombinationen von Vorhandenem die Ordnung der Realität infrage zu stellen. Die Wirklichkeit wurde also mit Unerwartetem gekreuzt, was beispielweise in der surrealistischen Fotografie sehr gut zu sehen ist.
Bizarre oder groteske Effekte, die die Surrealist*innen am meisten geschätzt haben, erzeugten Paradoxe und Ambivalenzen. Dabei ist die Kunst nicht gut oder böse, sondern hat ihre eigene Qualität. Auch das verstanden viele von ihnen als antifaschistisches Werkzeug gegen eine zu enge Welt.
Gab es Künstler*innen, die das Bizarre besonders stark zum Kern ihrer Arbeit gemacht haben?
Es ist schwierig, einzelne besonders hervorzuheben. Ein Beispiel ist der kubanische Maler Wifredo Lam, der im Spanischen Bürgerkrieg gegen den Franco-Faschismus gekämpft hat. Als er 1941 auf einem Schiff aus Europa floh, zeichnete er Wesen, die weder Mensch noch Tier noch Pflanze, sondern alles auf einmal sind. Ein anderes Beispiel ist die Redaktion der Zeitschrift Tropiques auf Martinique, dort arbeiteten Suzanne Césaire oder René Ménil mit thematischen Kreuzungen. Sie waren nicht an kultureller Reinheit interessiert, sondern an einer möglichst zukunftsweisenden Verbindung verschiedener Denkrichtungen und Ästhetiken.
Auf die Spitze trieb das Bizarre vielleicht Aimé Césaire in seinen Schriften, ein Vordenker der Black Liberation, der die Zeitschrift mitbegründet hat und dem Surrealismus ebenfalls nahestand. Er kehrte das Ganze um: Das Bizarre ist die Welt selbst, nicht irgendeine fremdartige Kunst. Das werde insbesondere am Kolonialismus deutlich, einer Barbarei, die zuallererst den Kolonisator entzivilisiert, ihn verroht und entwürdigt.
Surrealisten wie André Breton oder Max Ernst verstanden ihre Kunst also nicht nur als Experiment, sondern auch als Widerstand gegen Rationalität und autoritäre Systeme. Faschistische Regime setzten dagegen auf Ordnung, Klarheit und Disziplin. War der Surrealismus das Gegenbild zum Faschismus?
In seinen Grundideen war der Surrealismus von Anfang an definitiv antifaschistisch. Dennoch gab es auch Surrealist*innen, die mit dem Faschismus geliebäugelt haben, das Irrationale kann sich leider auch sehr harmonisch in den Faschismus fügen. Jedoch sprechen die unzähligen Artikel, Pamphlete, Zeitschriften und Biografien, in denen sich Künstler*innen gegenseitig in Privatwohnungen vor der Gestapo verstecken, sich Pässe fälschen oder in der Résistance kämpfen und internationale solidarische Netzwerke aufbauen, eine deutliche Sprache, was die Grundüberzeugungen der Bewegung betrifft.
Auch wurde viel Energie in die Analyse des Faschismus investiert, um ihn besser bekämpfen zu können, und neben Widerstand wurde auch ein anti-autoritärer Humor entwickelt, der noch die hilflosen Versuche der heutigen Rechten, so etwas wie Humor und Coolness zu entwickeln, lächerlich erscheinen lässt.
Können wir den Surrealismus als antifaschistische Kunstbewegung bezeichnen, weil er das Normale und Konventionelle sprengt? Konkret: Wo Faschismus Gleichschaltung erzwingen will, feiert der Surrealismus das Abweichende, das Unbewusste, das „Wilde“?
Das hat sicher lange gestimmt und der Surrealismus war sehr erfolgreich darin zu erkennen, was normal und konventionell war und deshalb bekämpft werden muss. Dieser Nonkonformismus wurde in harten Auseinandersetzungen untereinander sehr aufmerksam gepflegt. Kurz gesagt: Surrealist*innen wollten einen abweichenden Individualismus mit gleichzeitig mehr Kollektivität verwirklichen.
Dennoch wurde ihnen schon in den 1960er Jahren klar, dass allein diese Abweichungen nicht mehr ausreichen würden, weil sie zum Teil selbst systemisch geworden waren. Auch heute wird von rechts ja selbstverständlich mit dem „Wilden“ operiert – allerdings unter autoritären Vorzeichen –, hier ist der Surrealismus in vielem von den Falschen überholt worden.
Wie reagiert die Kunst heute auf neue autoritäre oder „bizarr“ anmutende politische Tendenzen?
Ich möchte es umdrehen und von der surrealistischen Kunst aus positiv wenden. Im Surrealismus sollte die Kunst nicht einfach aktuelle Geschehnisse verhandeln, auf ein Bild wurde also nicht geschrieben „Ich bin gegen den Krieg“. So etwas galt als eine Verkürzung der Möglichkeiten der Kunst. Die machte etwas Eigenes, vielleicht Verstörendes, auf jeden Fall Intensives. Das hinderte die Künstler*innen aber nicht daran, sehr aktiv am politischen Geschehen teilzunehmen. Heute beobachte ich, dass Kunst oft nur auf aktuelle Entwicklungen reagiert und dann politische Aussagen in Form von Werken formuliert.
Was können wir aus der antifaschistischen Geschichte des Surrealismus für unsere Gegenwart lernen?
Die Philosophin Elisabeth Lenk hat es so beschrieben: Indem die Surrealist*innen kritische Theorie und surreale Praxis miteinander verknüpft haben, konnten sie dem Politischen eine neue Dimension hinzufügen. Noch in den widrigsten Situationen standen sie drüber, haben gemeinsam Kunst in Lagern gemacht und Ausstellungen in Baumkronen veranstaltet, beim Warten auf Ausreisegenehmigungen. Wir sehen Claude Cahun, nach einem durch das Kriegsende zum Glück verhinderten Todesurteil, im Fotoporträt souverän auf einen kleinen Reichsadler beißen. Die Überlegenheit der Surrealist*innen hing nicht von der Gunst Autoritärer ab. Diese Vielfalt der Ebenen fehlt heute manchmal. Von der Mischung aus hohem Niveau, Angriffslust und Humor können wir in jedem Fall etwas lernen.