Kultur

Filme deinen Tag!

Falcon.cz

Der Dokumentarfilm „Tschechien, deine Heimat!“ versucht zu definieren, was es bedeutet, Tscheche zu sein

„Tschechien, deine Heimat!“ ist vor allem deshalb nicht langweilig, weil die auftretenden Tschechen, beziehungsweise ihre Beiträge, nicht langweilig sind. Foto: © Falcon.cz

Was ist – neben anderen bedeutenden Ereignissen – am 11. Mai 2012 passiert? In Tschechien hat an diesem Tag ein originelles Experiment gestartet. Ein Experiment mit einem unklaren Ergebnis. Ein paar Hundert Tschechen reagierten nämlich auf den Aufruf des Filmemachers Adolf Zika; sie schnappten sich eine Kamera und filmten ihren Tag. Zika sichtete die 100 Stunden Filmmaterial und machte daraus den Film Tschechien, deine Heimat! (Země česká, domov tvůj) – ein einzigartiger Einblick in die tschechische Realität eines schönen, sonnigen Mai-Tages. Der Streifen kam im Herbst in die Kinos, und am 17. November zeigte ihn das Tschechische Fernsehen.

Die über 500 Teilnehmer haben – ohne zu übertreiben – alles aufgezeichnet. Den Sonnenaufgang, die Freude über einen neuen Job, aber auch eine Geburt oder die Routineabläufe eines Krematoriums. Kein einziger Beitrag ging auf „wichtige“ Ereignisse in Tschechien oder der Welt ein. Wie wenig oder gar nicht die Ereignisse in den Nachrichten oder die Medien in unser Leben eingreifen, ist aber nicht das Thema des Films. Adolf Zika hat die Teilnehmer des Projektes aufgefordert, auf Fragen zu antworten, die ihren Bezug zur Heimat betreffen. „Bin ich stolz darauf, Tscheche zu sein? Würde ich eine tschechische Fahne auf meinem T-Shirt tragen? Was zeichnet die Tschechen aus? Glaube ich an die Zukunft der Europäischen Union? Was bedeutet für mich Glück? Was die Liebe? Freude? Wäre ich bereit auf persönliche Vorteile zugunsten höherer allgemeiner Ziele zu verzichten?“

„Für eine junge Frau ist Jesus der größte Held, für eine andere bedeutet Reichtum das größte Glück und eine dritte sieht in den Kindern das Licht der Welt.“ Foto: © Falcon.cz

Das sind nicht gerade triviale Fragen, und sie werden von den Tschechen, die sich an dem Projekt beteiligt haben, unterschiedlich beantwortet. Einige vertreten die Meinung, dass die Tschechen eine Bande von Gaunern sind, andere betonen die Verdienste in der Vergangenheit und bedauern ihre Unfähigkeit in der Gegenwart. Die einen glauben nicht an die europäische Integration, die anderen sind der Überzeugung, dass man in Europa nicht abseits stehen sollte. Für eine junge Frau ist Jesus der größte Held, für eine andere bedeutet Reichtum das größte Glück und eine dritte sieht in den Kindern das Licht der Welt. Es gibt einfach so viel Antworten wie Stimmen in dem Film zu Wort kommen. Falls es Zika also darum gegangen ist, aus den Antworten eine Art Quintessenz des „Tschechentums“ zu extrahieren, ist dies misslungen. Was zu erwarten war.


Einblick überall

Das Werk kann also nur dadurch fesseln, in welchem Maße die einzelnen Ausschnitte aus dem Leben der Tschechen spannend, originell, interessant, lustig oder dramatisch sind. Zu Anfang sieht es in dieser Hinsicht blass aus: Das Land wacht auf, die Bäckereien backen, es wird gefrühstückt, die Kinder gehen zur Schule und die letzten Stammgäste verlassen die Bars. Während der Schilderung des Vormittags wird es schon spannender. Gefilmt wird am höchsten Punkt der Stadt Ostrava, eine Geburt wird verewigt und es gibt Einblicke in einen Flugsimulator. Gedreht wird in einem Synchronstudio und auch unter Sportlern mit Behinderung, die sich auf die Paralympics in London vorbereiten. Originell ist auch der Einblick in eine Familie, deren ein Elternteil transsexuell ist. Für den wahrscheinlich stärksten Moment des ganzen Filmes sorgt der Vater, der seine drei kleinen Kinder zu einem Spaziergang auf den jüdischen Friedhof mitnimmt und ihnen dort aus einem Buch vorliest, das die Nazi-Gräueltaten beschreibt. Die Szene bedarf keines Kommentars.

„Die über 500 Teilnehmer haben – ohne zu übertreiben – alles aufgezeichnet.“ Foto: © Falcon.cz

Tschechien, deine Heimat! ist vor allem deshalb nicht langweilig, weil die auftretenden Tschechen, beziehungsweise ihre Beiträge, nicht langweilig sind. Irgendwelche allgemeinen Schlussfolgerungen bezüglich des Zustands der Gesellschaft, der allgemeinen Stimmung und der nationalen Identität können aber aus dem Film nicht gezogen werden. Auf der Hand liegt eine einzige Schlussfolgerung: Unsere Leben haben genauso viele Facetten wie es Menschen gibt.

Jan Škoda
Übersetzung: Ivan Dramlitsch

Copyright: Goethe-Institut Prag
März 2013

    Über das Projekt „Země česká, domov Tvůj“

    Der Filmemacher Adolf Zika forderte die Bewohner Tschechiens auf, mit einer Kamera ihren 11. Mai 2012 festzuhalten. Insgesamt bekam er über 500 Beiträge in unterschiedlichen Formaten (Serverupload, DVD, Flashdiscs, DVC-Kassetten) zugeschickt, über 100 Stunden Material. Die Grobschnitt-Version hatte eine Länge von 4 Stunden. Die Endfassung wurde auf 92 Minuten gekürzt. Der Film hat rund 1000 Schnitte, woran über zwei Monate gearbeitet wurde. Der jüngste Teilnehmer des Projekts war 8 Jahre alt, der älteste 85. Im Film tauchen 147 verschiedene Orte auf.

    www.zemeceskadomovtvuj.cz

    Adolf Zika

    Der 40-jährige Adolf Zika bezeichnet sich selbst als Fotograf und Regisseur, betrachtet man allerdings seine Arbeit der vergangenen Jahre, drängen sich etwas andere, präzisere Berufsbezeichnungen auf. Adolf ist ein unverfälschter Chronist des Lebens und Dokumentarist des (nicht) Alltäglichen. 2006 gab er das Buch Ein Tag meines Lebens heraus, in dem er ein Jahr seines Lebens in 3285 Fotos festhielt. Zwei Jahre später trieb er dieses Projekt weiter, indem er in Zusammenarbeit mit Dutzenden tschechischen Spitzenfotografen das Buch Ein Tag der Tschechischen Republik herausgab, das das Leben im gesamten Land festhielt. 2009 ging er mit dem Foto-Projekt Week of Life noch einen Schritt weiter, in dem das Leben von Menschen in 43 verschiedenen Ländern dokumentiert wurde. Der vorläufige Höhepunkt seines Werks stellt der im November 2012 vorgestellte Film Země česká, domov Tvůj! dar.

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