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Dana Vowinckel
Gewässer im Ziplock

Dana Vowinckel
© Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag

Berlin – eine Stadt so vielfältig wie ihre Bewohner*innen. In Dana Vowinckels Debütroman Gewässer im Ziplock treten wir ein in das Leben von Avi, einem einfühlsamen Kantor aus dem Prenzlauer Berg, und seiner Tochter Margarita, die mit ihrer Leidenschaft und Schärfe das Gegenteil von ihm zu sein scheint. Trotz ihrer Gegensätze teilen sie eine unerschütterliche Bindung. Seit zwölf Jahren trägt Avi allein die Verantwortung für seine Tochter, nachdem ihre Mutter Marsha nach Jerusalem zog. 

Von Florina Evers

Doch Berlin ist nur einer der drei zentralen Schauplätze des Romans. Zu Beginn ist Margarita bei ihren Großeltern in Chicago, „in ihrem Haus im Universitätsviertel auf der South Side, das dreimal so groß war wie die Wohnung in Berlin und mindestens dreimal so still.“ Alles dort widert sie an: die Kirschstückchen im Joghurt, die Geräusche ihrer Großmutter beim Essen, dass sie mit 15 noch immer Sweetheart genannt wird. Am schlimmsten sind die sechs Wochen Abstand zu Nico, der ihre Gedanken bestimmt. Ihre Toilettenpausen werden zu kleinen Oasen des Glücks, weil sie dort in Ruhe ihr Handy checken kann.

Gewässer im Ziplock © Florina Evers Margarita rebelliert im Stillen und hütet sich davor, ihre hässlichen Gedanken laut auszusprechen. Doch ihre Großeltern bemerken ihr bockiges Verhalten und beschließen in Absprache mit Avi, sie zu ihrer Mutter nach Jerusalem zu schicken. Für Margarita ein Albtraum, denn Israel und ihre Mutter sind ihr fremd.

Ihr unfreiwilliges Abenteuer beginnt kurz nach der Ankunft, denn Marsha fehlt in der Eingangshalle. Ist ihre Mutter in all den Jahren nicht verlässlicher geworden? Wird ihre Reise durch das Heilige Land sie näherbringen oder einen größeren Keil zwischen sie treiben? Und was ist mit Avi, der in Berlin seinem Alltag als Kantor nachgeht, aber gedanklich nie weit von Marsha und Margarita entfernt ist?

Intensiv, sinnlich und authentisch

Gewässer im Ziplock erzählt von einem Sommer, in dem so viel passiert, gefühlt und hinterfragt wird, wie es nur bei einer jungen Protagonistin wie der fünfzehnjährigen Margarita der Fall sein kann. Diese spezifischen Gedanken und Beschreibungen einer intensiv fühlenden Teenagerin, sorgen beim Lesen für Gänsehaut. So denkt Margarita nachts auf ihrer Reise durch Israel: 

Vielleicht tötet mich eine Bombe im Schlaf, […] und alle sehen meine hässlichen Nippel.
Dana Vowinckel: Gewässer im Ziplock. Suhrkamp, 2023.

Solche Sätze machen das Lesen des Romans zu einer fast körperlichen und intimen Erfahrung, verstärkt durch anschauliche Beschreibungen des Essens und der Umgebung.

Besonders eindrucksvoll ist die sinnliche Sprache in den Beschreibungen jüdischer Bräuche und Gottesdienste, meist aus Avis Sicht. Diese Passagen sorgen dafür, dass man, selbst wenn man noch nie eine Synagoge betreten hat, ein klares Bild vor Augen hat und bestimmte Gerüche in der Nase, die einem Avis und Margaritas Erleben näherbringen.

Die Synagoge war voll für einen Sommerabend. Durch das bunte Glas in den Fenstern fiel Sonnenlicht auf die Bima¹, und ein paar hellblaue Flecken tanzten auf den Seiten seines aufgeschlagenen Gebetbuches. Es roch nach Holzlack und klebrigen Kinderhänden.
Dana Vowinckel: Gewässer im Ziplock. Suhrkamp, 2023.

Ein Glossar am Ende des Romans ermöglicht es, unbekannte Begriffe aus dem Judentum nachzuschlagen. Diese Ergänzung bereichert das Leseerlebnis und passt zur beiläufigen Thematisierung von Religion und Glauben im Roman. Durch Avis Beruf als Kantor und Margaritas Reise nach Israel sind Glaubensfragen ständige Begleiter und mischen sich unter die Alltagssorgen und Fragen der Zugehörigkeit.

In einem Interview wird Dana Vowinckel gefragt, worum es in ihrem Roman geht. Sie antwortet, dass sie untersuchen wollte, ob und wie jüdisches Leben in unserer modernen Welt möglich ist. Der Roman liefert keine klare Antwort, aber als Leserin steht für mich fest, dass unsere Welt besser wäre, besonders für jüdisch lebende Menschen, wenn es mehr Romane wie Gewässer im Ziplock  gäbe.

Diese Romane bereichern uns mit komplexen, liebenswerten Figuren wie Avi und Margarita, in denen wir uns wiedererkennen und dazulernen können. Weil der Roman genau das schafft, ist er auch ein politisches Buch, das perfekt in unsere Zeit passt.

Dana Vowinckel wurde 1996 in Berlin geboren und studierte Linguistik und Literaturwissenschaft in Berlin, Toulouse und Cambridge. Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2021 wurde sie für einen Auszug aus Gewässer im Ziplock mit dem Deutschlandfunk-Preis ausgezeichnet. 2023 wurde ihr ein Arbeitsstipendium des Berliner Senats zugesprochen. 2024 ist sie Stipendiatin bei Art Omi. Dana Vowinckel lebt in Berlin.

[1] Bima: Pult im Synagogenraum, auf das die Tora gelegt wird, wenn aus ihr gelesen wird, und von dem aus die Gebete geleitet werden

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