Jessica Lind
Kleine Monster
Auf die eigenen Kinder haben Eltern oft einen verklärten Blick – besonders in den ersten zehn Jahren, bevor die Pubertät einsetzt, die den Nachwuchs für eine gewisse Zeit in nicht wieder erkennbare und äußerst launische Kratzbürsten verwandelt. Doch solange die Kinder klein sind, sind sie die süßesten, klügsten und liebenswertesten kleinen Racker. Von der rosaroten Brille, durch die Eltern oft ihre eigenen Kinder betrachten, kann sicher jede*r Lehrer*in ein Lied singen. Doch wie reagiert man, wenn dem eigenen „Sonnenschein“ plötzlich unzüchtiges Verhalten vorgeworfen wird?
Von Florina Evers
Das erleben Pia und Jakob, als sie von der Klassenlehrerin ihres siebenjährigen Sohns Luca zum Gespräch bestellt werden, weil es einen „Vorfall“ gab. Etwas ist zwischen Luca und einem Mädchen aus seiner Klasse passiert. Was das genau war, bleibt offen, denn es gibt keine Zeug*innen, nur die Anklage des Mädchens. Luca wiederum bleibt stumm. Er teilt seine Wahrheit nicht mit Pia und Jakob und er scheint weder das Bedürfnis zu haben, sich zu rechtfertigen, noch sich zu entschuldigen.
Während Vater Jakob, Musiker und Künstler, das Vertrauen in seinen Sohn behält, fällt es Mutter Pia schwerer, den Vorfall und die Anschuldigungen ruhen zu lassen. Sie hat ein starkes Verlangen nach der Wahrheit und beobachtet ihren Sohn in den nächsten Tagen und Wochen genau, um herauszufinden, was im Klassenraum passiert ist. Die Ungewissheit, dass Luca etwas Schlimmes getan haben könnte, belastet sie sehr. Pias Misstrauen überträgt sich auf die eigene Wahrnehmung und zieht Risse durch das Bild der perfekten Familie. Trotz Momenten der Zärtlichkeit und Annäherung zwischen Mutter und Sohn wird die kleine Lücke zwischen Ver- und Misstrauen größer – man spürt förmlich, wie die Lücke zum alles verschlingenden Loch wird, wie der Zweifel den Blick der Mutter auf ihr Kind trübt – oder schärft, je nachdem, welcher Wahrheit man sich verschreibt.
Wir liegen zusammen im Bett und ich küsse seinen Bauch und er küsst mich zurück, seine weichen Lippen auf meiner Haut, bis er zubeißt. Ich zucke erschrocken zurück und merke erst da, dass ich ihn mit meinem Ellbogen eingeklemmt hatte.
Als die Familie Jakobs Schwester besucht, wird Pia unruhig, als sie sieht, wie Luca mit seiner jüngeren Cousine verschwindet. Nachts geht sie sogar so weit, Lucas Tür zu verschließen. Sie traut ihrem Kind nicht mehr. Sie traut sich selbst nicht mehr.
Die Wahrheit als Grauzone
Während Pia sich im Misstrauen verfängt, führen Zeitsprünge zurück in ihre schwierige Kindheit. Mit jedem Rückblick wird klarer, warum Pia den „Vorfall“ nicht so leicht wegsteckt wie ihr Mann. Ihre Adoptivschwester Romi wurde nach einem ungeklärten traumatischen Vorfall zum schwarzen Schaf der Familie gemacht. Pia erlebte früh, dass Wahrheit oft eine Grauzone ist und es darauf ankommt, wer lauter schreit. Sie fragt sich, warum sie das Misstrauen nun mit ihrem eigenen Sohn wiederholt. Sind es alte Familienmuster, die schwer zu durchbrechen sind?
Pia hat auch den leisen Verdacht, dass sie als Mutter unzulänglich war und Lucas Verhalten auf ihre Inkompetenz zurückzuführen ist. Im Gegensatz zu Jakob, der Beziehungsratgeber las, verließ sie sich immer auf ihre Intuition. Nun fragt sie sich, ob das ausgereicht hat oder ob sie ihre eigene Erziehung reproduziert hat.
Die Liebe ist keine Selbstverständlichkeit für mich. Die Mutterhaut, die ich trage, passt mir nicht wie angegossen. Ich bin nicht Aschenputtel, ich bin eine ihrer Schwestern, die sich erst die Ferse abschneiden muss oder den großen Zeh. Und ich sitze hier und lasse die Tränen zu, weil ich weiß, dass Luca etwas Besseres verdient hat.
Vom Verlag wird Kleine Monster als Roman klassifiziert, doch durch die angespannte Atmosphäre und den Angstzustand der Mutter, der sich so eindrucksvoll auf die Leser*innen überträgt, liest er sich stellenweise wie ein feinfühliger Thriller, der bis zum Ende Spannung aufbaut, zum Nachdenken anregt und zeigt: Wenn wir nach dunklen Eigenschaften in Menschen suchen – egal ob jung oder alt – werden wir fündig. Doch ob das Dunkle dann im eigenen Blick liegt, der sich wie ein Schatten auf die Person gegenüber überträgt, oder ob das Dunkle in der Person gegenüber liegt, bleibt manchmal offen. Diese Einsicht teilt auch Pia am Ende des Romans und beschließt: „Es ist Zeit, in den Schattierungen zu leben“.
Jessica Lind wurde 1988 in St. Pölten, Österreich, geboren und lebt heute mit ihrer Familie als Drehbuchautorin und Schriftstellerin in Wien. Sie studierte an der Filmakademie Wien und schrieb u. a. mit der Regisseurin Magdalena Lauritsch den Film Rubikon. 2015 gewann sie mit der Erzählung Mama den open mike Wettbewerb, woraus ihr gleichnamiger Debütroman hervorging. Mit ihrem zweiten Roman, Kleine Monster, erscheint sie erstmals bei Hanser Berlin.