Nahaufnahme
Eisiger Tod bei Pädaste

Gutshaus Pädaste auf der estnischen Insel Muhu
Gutshaus Pädaste auf der estnischen Insel Muhu | © privat

Am Morgen des 16. Februar 1919 brechen Alexander Baron von Buxhoeveden und sein jüngerer Bruder Arthur zu Pferd von Pädaste nach Kuivastu auf. Kuivastu, wie auch Pädaste ein Gut der Familie von Buxhoeveden, liegt etwa acht Kilometer nordostwärts von Pädaste, am Meer. Jetzt ist es zugefroren. Die Brüder möchten über die verschneite Eisfläche aufs Festland reiten. Und dann weiter nach Deutschland.

Denn die Zeiten sind unruhig: der erste Weltkrieg ist zu Ende gegangen, die russische Revolution über Russland hinweggefegt. Estland hat zwar 1918 seine Unabhängigkeit erklärt, aber die Rote Armee will das Baltikum besetzen.  Estnische mit den noch anwesenden deutschen Truppen versuchen, sie zurückzudrängen. Jedoch, auch das Baltenregiment verfolgt eigene Interessen, was wiederum zu Konfrontationen mit den Esten führt. Die siebenhundert Jahre andauernde Vorherrschaft  der deutschen Oberschicht, die auch unter russischer Herrschaft weiterbestanden hatte, liegt in den letzten Zügen. Alles ist im Umbruch - eine komplizierte Gemengelage, in der immer wieder Racheakte und Massaker verübt werden.
 
Kurz vor Kuivastu stellt sich den beiden Buxhoevedens plötzlich ein Trupp bewaffneter Männer entgegen. Ihr Anführer ist Viktor Kingisepp, Führer und Gründer der kommunistischen Partei Estlands.  Alexander von Buxhoeveden, zu dem Zeitpunkt 63 Jahre alt, war Kammerherr und Jagdmeister des Zaren Nikolaus II. und ist als Landmarschall von Ösel (so  nannten die Deutschbalten die Insel Saaremaa) eine allseits bekannte Persönlichkeit. Photos zeigen ihn als Grandseigneur. Seine Vorfahren gehören seit dem 13. Jahrhundert zu den führenden Familien im Baltikum. Er selbst ist gut vernetzt, verfügt durch seine Frau über ein beträchtliches Vermögen und soll ungefähr 2000 Untergebene gehabt haben.  Dass die Begegnung mit dem gewaltbereiten Kommunisten Kingisepp und seinen Männern kein gutes Ende nehmen wird, wird er geahnt haben.
 
Charlotte, seine Frau, hat mit den fünf Kindern bereits das Land verlassen. Von Schweden aus möchte sie weiter nach Deutschland. Später wird sie in Liechtenstein einen Antrag auf Staatsbürgerschaft stellen. Charlotte entstammt dem St. Petersburger Zweig der Familie Siemens, die es zu großem Wohlstand gebracht hat.  Als temperamentvoll wird sie beschrieben, den Künsten zugetan. Sie verfasst selbst kitschig-blumige Romane mit so schönen Titeln wie „Unsere Engel auf Erden“ oder „L’amour“.
 
Viktor Kingisepp erschießt die Brüder nicht gleich, sondern bringt sie zum vereisten Hafen von Kuivastu. Einen seiner Männer hat er mit einem Auftrag vorgeschickt: Frauen sollen Wasser zum Kochen aufsetzen und am Hafen soll die zugefrorenen Fläche freigehakt werden.
Dort angelangt, treiben Kingisepps Leute die beiden Männer  gnadenlos vor sich her – direkt unters Eis. Oben wird das heiße Wasser ausgegossen. Der Schnee schmilzt, und wie unter Glas können die Menschen den Todeskampf verfolgen. Den Buxhoevedenschen Besitz in Kuivaste brennen die Rebellen anschließend nieder, nicht ohne vorher den Getränkekeller geplündert zu haben. Ihr Rausch hat möglicherweise verhindert, dass auch Pädaste ein Raub der Flammen wurde.
 
So könnte es gewesen sein. Oder auch ganz anders.
 
„Ja,“ sagt der 86jährige Bruno Pao aus Kuressaare, „Meine Tante hat bei Buxhoevedens im Haushalt gearbeitet und davon erzählt. Dass das heiße Wasser ausgegossen wurde, um die Männer unterm Eis sterben zu sehen.“
„Stimmt“, sagt auch Marika, die sich auf dem Friedhof von Kudjape, kurz vor der Inselhauptstadt Kuressaare, um die Grabstätte der Buxhoevedens kümmert.  „Ich habe das auch so gehört. Das wird hier so berichtet.“
 
Etwas anders gibt Artikel in den „Baltischen Blättern“ von 1919 unter der Überschrift „Die Schreckenstage von Oesel“ (heute Saaremaa) die Ereignisse wider:  „Wie tierisch die Roten in diesen Tagen gehaust haben, sollen folgende Beispiele beweisen: Der Landmarschall Axel Baron Buxhoeveden befand sich mit seinem Bruder auf der Fahrt nach Reval. In Kuiwast auf der Insel Moon (Muhu) erschoss man sie, beraubte sie sämtlicher Wertsachen und versenkte die Leichen unters Eis.“

Alexander Baron von Buxhoeveden  (1856 - 1919) Alexander Baron von Buxhoeveden (1856 - 1919) | © Siemens-Haus Goslar Über das Reiseziel, die Zahl der Reisenden, die Fortbewegungsmittel, die Todesarten kursieren unterschiedliche Versionen: Einer zufolge soll der Landmarschall mit einer ganzen Schlittenkolonne unterwegs zum Festland gewesen sein, um zu fliehen, und wird angehalten. Die Reisenden werden erschossen, die Leichen in Löcher im Eis geworfen. Viktor Kingisepp wird in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Eine andere Quelle berichtet, die Buxhoevedens seien selbst bewaffnet gewesen, hätten aber eigenartiger Weise nicht geschossen.
 
„Vielleicht war es doch Viktor Kingisepp“, sagt Volker von Buxhoeveden, ein Nachfahre der Familie, der heute wieder in Tallinn lebt, „wir wissen es nicht genau. Aber die Brüder wurden erschossen. Ich glaube nicht, dass sie lebend unters Eis getrieben wurden, auch wenn sich die Geschichte hartnäckig hält.“  Aus einem Ordner holt er Kopien von Photos hervor. Winzige Aufnahmen zeigen zwei Leichen, übersät von Blutergüssen und möglicherweise Schusswunden. So genau ist das nicht zu erkennen.
 
Tatsache ist, dass Alexander und Arthur von Buxhoeveden am 16. Februar 1919 in Kuivastu ermordet wurden. Und dass Viktor Kingisepp selbst vom estnischen Verfassungsschutz  am 3. Mai 1922 in Tallinn festgenommen und einem Schnellverfahren zum Tode verurteilt wurde. Am gleichen Tag wurde er erschossen, seine Leiche ins Meer geworfen.
 
Ehepaar von Buxhoeveden mit ihren beiden Kindern Ehepaar von Buxhoeveden mit ihren beiden Kindern | © Siemens-Haus Goslar Und Pädaste? Charlotte von Buxhoeveden verkaufte das Gut kurz nach dem Tod ihres Mannes. Wie viele der über tausend Herrenhäuser in Estland wurde auch Pädaste einer anderen Nutzung zugeführt. Das rettete das Haus vor dem Zerfall – ein Schicksal, das viele der einst prachtvollen Gebäude ereilte. Pädaste wurde 1940 erst als Kulturhaus genutzt, war dann Hauptquartier des deutschen, ab 1941 des sowjetischen Heereskommandos. Nach dem Krieg wurden in den Kellern von Pädaste Fische gelagert und später, bis 1980 war es Sitz eines Altersheims. „Und dann ging das Dach kaputt“, sagt Martin Breuer. „Keiner hat‘s repariert, und irgendwann wurden die alten Menschen verlegt. Zum Teil in Einrichtungen für psychisch Kranke, dabei waren sie gar nicht krank. Und weit weg von ihren Orten, so dass sie gar nicht mehr besucht werden konnten.“ Der Holländer war fasziniert von dem Haus, seiner einzigartigen Lage direkt am Meer, seiner Geschichte. 1996 kaufte er, gemeinsam mit einem Esten, die heruntergekommenen Gebäude und sanierte sie.
 
Heute ist Pädaste ein kleines Luxushotel. Alles ist gepflegt, auf die Geschichte des Hauses wurde bei der umfangreichen Renovierung behutsam eingegangen. Die einsame Lage direkt am Meer ist wunderbar, und das Gourmetrestaurant trägt in Erinnerung an seinen einstigen Besitzer den Namen „Alexander“. Der wäre von der raffinierten Speisekarte möglicherweise überrascht. 

Die Abbildungen wurden entnommen aus: Bodo von Dewitz/Ludwig Scheidegger (Hrsg.): Die Geschichte von Gostilitzy. – Thomas Helms Verlag, 2009. - S. 162.