Ein Programm, das den Bogen von Stars (1963), Jürgen Böttchers erstes Gruppenportrait von Arbeiterinnen im Betrieb, bis zu seinem letzten Film zu diesem Thema, Die Küche (1986), spannt. Dazwischen ein sommerlicher Ausflug in einen Steinbruch Im Lohmgrund, wo eine Skulptur ensteht, und zum Abschluss der Programme bei Close-Up: Böttcher poetisches Meisterwerk Rangierer.
Mit einer Einführung von Diana Mavroleon, die auch im Anschluss an die Filmvorführung zusammen mit Martin Brady und Franziska Nössig über das Programm sprechen wird.
Stars
Böttchers erster Film, der Frauen bei der Arbeit zeigt, ist das Gruppenporträt einer Frauenbrigade in der NARVA-Glühbirnenfabrik in Berlin, wo jede Arbeiterin mehr als 30.000 Wolframdrahte (Wendeln) pro Monat unter dem Mikroskop oder der Lupe auf ihre Qualität hin untersuchen muss. Die Frauen sind „Stars“, aber, wie es der Filmkommentar erklärt, nicht von der Sorte, wie man sie in den Filmen des Westens findet. Böttcher beweist, ähnlich wie in dem späteren Film
Wäscherinnen (1972, siehe Programm 1) viel Sensibilität für den herzlichen Umgang der Frauen miteinander, für ihre Sprache und die Scherze, mit denen sie die monotone, konzentrierte Arbeit auflockern. Auch werden wir ZeugInnen einer Diskussion über die Vorteile und Nachteile des Rückkehr zur Arbeit nach der Geburt eines Kindes und sehen das Modell der DDR, Babys zur Arbeit zu bringen, wo sich eine Betriebskrankenschwester um sie kümmert, in der Praxis.
DDR 1963, s/w, DCP (35mm), 20 Min. Mit englischen Untertiteln.
Im Lohmgrund
Der Lohmgrund ist ein Sandsteinbruch an der Elbe in Sachsen. Hier wird nicht nur der weiche Stein für die Skulpturen vieler historischer Gebäude im nahe gelegenen Dresden gewonnen, sondern auch für Bildhauer, wie die Künstler, die Böttcher und sein Kameramann Thomas Plenert einen Sommer beogachten. Wir erkennen Böttchers Freund Peter Makolies wieder, einen der Protagonisten von
Drei von vielen (1961) (siehe Programm 1), der mit immer feineren Werkzeugen eine Figur aus einem Steinblock schnitzt. Der Film fängt aber auch die harte und gefährliche Arbeit der Steinbrucharbeiter ein. Kunst wird als Ergebnis eines geduldig und mit Geschick und Sachkenntnis ausgeführten Arbeitsprozesses gezeigt. Dennoch durchzieht ein Gefühl von Kameradschaft und sommerlicher Freude den Film, der auf Böttchers künstlerische Anfänge in Dresden in den 1950er Jahren zurückweist.
DDR 1976 - 1977, s/w, DCP (35mm), 27 Min. Mit englischen Untertiteln.
Die Küche
Einmal mehr zeigt uns Böttcher eindrücklicher Bilder von einem Arbeitsplatz, in diesem Fall von der riesigen, überwiegend von Frauen betriebenen Küche der Neptunwerften in Rostock. Der Film folgt einer Schicht vom frühen Morgen bis zur Reinigung der Küche nach dem Mittagessen. Im Laufe des Tages nimmt das Arbeitstempo zu und kulminiert in der Hektik der Essenausgabe an fast 5000 Werftarbeiter am Mittag. Zurückhaltend beobachten Böttcher und sein Kameramann Thomas Plenert diese sich täglich wiederholende Dramaturgie, die sich in den Handlungen, Gesten und Gesprächen der Frauen vermischt mit einem komplexen Soundtrack aus Stimmen und Küchengeräuschen entfaltet. Zwei Jahre nach
Rangierer, dem letzten Film in diesem Programm, gedreht, ist
Die Küche Böttchers letzte Studie über die Arbeitswelt der DDR und schließt damit einen Zirkel von Filmen, der 1962 mit
Ofenbauer begann.
DDR 1986, s/w, DCP (35mm), 43 Min. Mit englischen Untertiteln.
Rangierer
Böttchers poetischem Meisterwerk über Arbeiter in einem Dresdener Güterbahnhof. Bis zu 1600 Waggons pro Schicht müssen entkoppelt, bewegt, neu gekoppelt werden, ob bei Tag oder Nacht, bei Schnee, Eis oder Nebel. In einem intuitiven Zusammenspiel fangen Böttcher und Kameramann Thomas Plenert die Beziehung zwischen Arbeitern und Maschinen auf präzise und zugleich magische Weise ein. Deutlich zeigt der Film den Druck auf die Männer, genau zu funktionieren, die Gefahr, der sie ausgesetzt sind, die Kombination aus Anstrengung, Können und exaktem Timing. All dies scheint im Einklang mit dem DDR-Ideal harter engagierter Arbeit zu stehen. Die Abwesenheit jeglicher Gespräche weist jedoch in eine andere Richtung und spiegelt Böttchers Frustration über ein System wider, das keine freie Meinungsäußerung zulässt. Wenn die Männer eh nicht sagen dürfen, was sie wollen, warum sie dann überhaupt reden lassen?
Rangierer ist daher sowohl eine virtuose, abstrakte Studie von Bewegungen, Formen und Kontrasten – ein filmisches Ballett zu einen Soundtrack ‚konkreter Musik‘ (komponiert mit den vor Ort aufgenommenen mechanischen Geräuschen) – als auch ein wortloses Zeugnis stillen Widerstandes.
DDR 1984, s/w, DCP (35mm), 22 Min. Mit englischen Untertiteln.
Dauer: 112 Minuten
Diana Mavroleon arbeitet mit Experimental- und Dokumentarfilm. Sie macht Programme für Resonance Radio, ist Gründungsmitglied des European Media Arts Network und ist Korrespondentin für S.E. Asia. Zurzeit recherchiert sie für einen Dokumentarfilm über ‘den Einfluss der Globalisierung auf die traditionellen Musiker in der Thar Wüste im Western Rajasthan’. Daneben ist sie auch als qualifizierte biodynamische Gärtnerin und Landschafts-/Gartendesignerin tätig.
Martin Brady ist emeritierter Dozent für Germanistik und Filmwissenschaft am King's College London. Er hat zum europäischen Film, zu Musik, Literatur, Behinderung, Architektur und bildender Kunst publiziert. Er ist Übersetzter von Victor Klemperers LTI – Notizbuch eines Philologen und
Franziska Nössig unterrichtet im German Department am King’s College London, wo sie Anfang des Jahres über Jürgen Böttcher promovierte. Sie hat zu Böttchers Experimentalfilm-Trilogie Verwandlungen veröffentlicht und seine Filme u.a. bei der Deutschen Botschaft in London und der Weimarer Kunstgesellschaft vorgestellt.
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