Ein historischer Überblick
Religionen in Litauen

Die Kathedrale der Himmelfahrt der Gottesmutter in Vilnius ist die Hauptkirche der orthodoxen Christen in Litauen
Die Kathedrale der Himmelfahrt der Gottesmutter in Vilnius ist die Hauptkirche der orthodoxen Christen in Litauen | © colourbox.com

Litauen gilt neben Polen und Kroatien als eines der katholischsten Länder Europas. Nach dem Zensus von 2011 bekennen sich 77% der litauischen Bevölkerung zum römisch-katholischen Glauben. In Wahrheit ist Religion in Litauen aber ein vielschichtiges Phänomen, dessen verschiedene Phasen die wechselvolle Geschichte des Landes wiederspiegeln.

Historisch gesehen herrschten bis zu der sogenannten offiziellen Taufe Litauens im Jahre 1387 in dem entstehenden Großfürstentum Litauen, zu dem eine Reihe slawischer Länder gehörten, mehrere örtliche Kulte. Man verehrte Gottheiten wie Saulė (Sonnengöttin), Mėnuo (Mondgott), Perkūnas (Donnergott), Žemyna (Erdgöttin) oder Medeina (Waldgöttin), die über verschiedene Naturkräfte herrschten, oder Dievas (Gott) und Velnias (Teufel), die auf das Leben der Menschen Einfluss nahmen. Man verehrte und pflegte heilige Haine, heilige Wasserstätten und heilige Steine sowie die Bräuche der Vorfahren. Teile dieser Bräuche gingen als Volkstradition in den katholischen Glauben über, der ab Ende des 14. Jahrhunderts eingeführt wurde. Bis heute gibt es immer noch keine als sicher geltende, von Ethnologen, Religionswissenschaftlern, Archäologen oder Historikern erstellte Rekonstruktion der Religion der alten Litauer bis zur Christianisierung.

Allmähliche Öffnung zum christlichen Glauben

Der erste Kontakt zu der heute in Litauen dominierenden römisch-katholischen sowie der christlich-orthodoxen Kirche in den Ländern des Großfürstentums Litauen entstand erst im 10. Jahrhundert, als katholische Missionare aus dem Westen kamen (Erzbischof Bruno von Querfurt kam 1009 in Litauen ums Leben) sowie nach der Taufe der Kiewer Rus im Jahre 988. Ab 1054 drang der Katholizismus aus Polen und Livland vor und die orthodoxe Kirche aus der Kiewer Rus, in erster Linie durch die Kultur- und Handelsbeziehungen mit den benachbarten slawischen Ländern.

Im Zuge der Vereinigung der von baltischen Volksstämmen besiedelten Gebiete im 13. Jahrhundert schloss König Mindaugas seinem Reich auch einen Teil der Länder an, in denen der christlich-orthodoxe Glaube herrschte. Im 14.Jahrhundert machte der Anteil der orthodoxen Christen etwa 2/3 der Bevölkerung aus. Unter Großfürst Gediminas wurde 1316 oder 1317 die erste orthodoxe Metropolie von Litauen gegründet. 1251 empfingen Mindaugas und ein Teil des Adels die römisch-katholische Taufe, 1254 gründete Papst Innozenz IV ein litauisches Bistum. Doch mit dieser Taufe war noch nicht ganz Litauen christianisiert. Etwa ein Jahrhundert lang schwankten die Herrscher des Großfürstentums Litauen zwischen drei Optionen: beim alten Glauben zu bleiben, den katholischen oder den christlich-orthodoxen Glauben anzunehmen. So entstanden bereits vor der offiziellen Christianisierung in den Ländern des Großfürstentums eine Anzahl von katholischen und orthodoxen Kirchen und Klöstern.

Religiöse Vielfalt als wesentliches Merkmal

Schon zum Ende des 14. Jahrhunderts gab es im Großfürstentum Litauen auch jüdische Gemeinden. In Verbindung mit Großfürst Vytautas Magnus steht auch die Ansiedlung der Karäer in Litauen, zuerst in Trakai Anfang des 15.Jahrhunderts. Nach der offiziellen Christianisierung durch die katholische Kirche versuchte diese sich in Litauen als hegemoniale Religion durchzusetzen, hatte aber in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wie in ganz Europa mit den Herausforderungen der Reformation zu kämpfen. Nach einer kurzen Zeit der Wirrnis behielt die katholische Kirche zwar ihre dominierende Stellung, aber auch die lutherische und die reformierte evangelische Kirche fassten in Litauen Fuß. Die religiöse Vielfalt blieb bis zu den drei Teilungen des Litauisch-polnischen Staates Ende des 18. Jahrhunderts ein wesentliches Merkmal des Großfürstentums Litauen.

Die Moschee von Nemėžis – eine Moschee der Tataren in der Nähe von Vilnius. Die Moschee von Nemėžis – eine Moschee der Tataren in der Nähe von Vilnius. | © Goethe-Institut/Rūta Kuckaitė Der Großteil des litauischen Großfürstentums wurde dem Russischen Reich angeschlossen, was die Säkularisierung bremste. Auf den Aufstand von 1863 folgten Repressionen gegen die katholische Kirche. Die Juden wiederum mussten im 19. Jahrhundert eine Vielzahl staatlicher Maßnahmen erdulden, die ihre „Umerziehung“ zu treuen Untertanen Russlands zum Ziel hatten. Alle Maßnahmen der Regierung zur Russifizierung und zum Ausbau der orthodoxen Kirche in den ehemaligen Ländern des litauischen Großfürstentums sowie die wirtschaftlichen Reformen verliefen gleichzeitig mit der Entdeckung der modernen nationalen Identität, die nicht mit der religiösen Identität übereinstimmte, und einer Welle des Romantizismus, die einen Blick zurück auf die „nationale“ Kultur erlaubte, indem man sich auf die Suche nach dem geistigen Ursprung der Litauer und den Verbindungen zu Indien begab.

Unterdrückung und Verfolgung

Dies führte zur Entstehung einer neuen Spiritualität und zum Aufkeimen einer neuen Religiosität. In erster Linie handelte es sich um Wiederbelebungsversuche der vorchristlichen „Religion der Urväter“, deren größter Theoretiker und Praktiker Vydūnas (mit bürgerlichem Namen Wilhelm Storost, 1868-1953) war. Das Selbstverständnis der ethnischen Identität wurde mit der ethnischen Kultur und der litauischen Sprache gleichgesetzt und verschmolz sowohl mit dem katholischen Glauben als auch mit den Bemühungen, sich das neu gewonnene vorchristliche religiöse Erbe bewusst zu machen. Diese Tendenzen, die im unabhängigen litauischen Staat (von 1918 bis 1940) noch zunahmen, hielten das gesamte 20. Jahrhundert an, auch unter den Repressionen und Verfolgungen nach der Okkupation Litauens durch die UdSSR. Die katholische Kirche mobilisierte Dissidenten und organisierte im Untergrund klösterliches Leben und ein alternatives Priesterseminar.

Neben der halblegalen Existenz der katholischen Kirche und vieler anderer „traditioneller“ Religionen gab es Intellektuelle und Studenten, die sich sozusagen halb im Untergrund und mithilfe der damals verfügbaren Literatur über die philosophisch-religiösen Lehren Indiens kulturell-religiös weiterbildeten, und die „neoheidnische“ Gemeinschaft, die sich an die legale ethnografische Bewegung „Ramuva“ der Vilniusser Universität anlehnte. Anfang der 1980er erreichte auch die Hare-Krishna-Bewegung Litauen. Erst mit dem Anfang der Unabhängigkeitsbewegung 1988 und der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Litauens 1991 kamen die Religionsgemeinschaften aus dem Untergrund hervor, konnten unbehelligt existieren und ihre frühere Stellung in der Gesellschaft wiederherstellen.

Neue Einflüsse und alte Traditionen

Im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts strömten auch neue religiöse Bewegungen sowie Missionare verschiedener in Litauen bisher kaum bekannter Kirchen ins Land. Die sowjetische Zwangssäkularisierung der Gesellschaft führte dazu, dass Atheismus oder Antiklerikalismus sowie Kritik an der katholischen Kirche Assoziationen zu der zwangsatheistischen Vergangenheit wecken.

Sowohl in den Reihen der litauischen katholischen Kirche als auch in der erstarkenden neoheidnischen Bewegung ist die Verbindung zu nationalistischen Ideen sehr eng. Ungeachtet der religiösen Passivität der Mehrheit in der Bevölkerung herrschen in der Gesellschaft ziemlich konservative Ansichten zur Religion, begleitet von sektophoben Einstellungen gegenüber neuen religiösen Bewegungen.