Tankred Dorst zum 90. Geburtstag
Immerwährende Neugier

Tankred Dorst und Ursula Ehler bei der Verleihung des Faust 2012;
Tankred Dorst und Ursula Ehler bei der Verleihung des Faust 2012; | Foto (Ausschnitt): © Markus Nass

Wir feiern am 19. Dezember 2015 Tankred Dorsts 90. Geburtstag. Zu diesem Anlass möchte ich ein paar Zeilen über diesen besonderen Menschen schreiben. Ein Leben voller Schaffenskraft und neugierig-spielerischer Energie zusammenzufassen, scheint eine schier unmögliche Aufgabe, denn seine Kreativität richtet sich nicht nur auf eine künstlerische Gattung.

Als zwölfjähriger Junge schreibt er sein erstes Theaterstück. Mit 14 Jahren steht Tankred auf dem Platz vor dem Coburger Theater, schaut hinauf zu dem einzig erleuchteten Fenster und vermutet dahinter einen Dramaturgen, der wohl die großen Werke der Weltliteratur zu Ende schreibt. Vielleicht fasste er damals schon den Entschluss, bedeutende historische und literarische Figuren neu zu denken. Ernst Toller (Toller), Heinrich Heine (Harrys Kopf), Knut Hamsun (Eiszeit) inspirierten Tankred Dorst ebenso wie die mythischen Märchen- und Sagenfiguren unter anderem aus der Artus-Epik. Als Universaldrama gilt bis heute sein Stück Merlin oder Das wüste Land. Dorst selbst sagt über diesen Text, es sei ein „Steinbruch, aus dem sich der Regisseur die Brocken für seine Inszenierung herausschlagen kann“. Seit seiner Uraufführung 1981 am Düsseldorfer Schauspielhaus haben über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren Regisseure in ihren ganz eigenen Inszenierungen gezeigt, welche Vielfalt und kreative Freiheit Tankred Dorsts Text zulässt.

Dorst ist einer der erfolgreichsten international gespielten Dramatiker mit Aufführungen unter anderem in Lissabon, Edinburgh, Bukarest und Vietnam. Man könnte meinen, dass damit sein literarisches Schaffen ausgefüllt wäre. Doch Tankred Dorst schreibt zudem Prosawerke, Drehbücher, Hörspiele und Libretti sowie Kinder- und Puppentheaterstücke. Sein Debüt als Opernregisseur gab er im Alter von 80 Jahren bei den Bayreuther Festspielen und inszenierte dort gleich den kompletten Ring des Nibelungen. Mit seinen Filmen Klaras Mutter (1978), Mosch (1980) und Eisenhans (1983) sucht er motivisch nach dem Verbleib der Utopien, stellt immer wieder die Frage, was ein selbstbestimmtes Leben ausmacht, fragt nach Schuld und Unschuld des Menschen und wie und ob es gelingen kann gegen Konventionen anzustehen. Es sind eindringliche Autorenfilme, die irritieren, verstören, die unbequem sind, weil sie nicht einer gängigen Erzähltradition folgen.

Zusammenarbeit mit Ursula Ehler

Tankred Dorsts unbedingte Neugierde an Stoffen, Menschen, an der Verschiedenartigkeit des Erzählens offenbart einen wahren Reichtum an Wärme und Freude am Umgang mit Menschen und an ihren Geschichten. Das wahrlich Wundervolle ist der permanente Dialog, den Dorst sucht. „Unser Leben ist ein Gespräch“, sagt Tankred Dorst über die Zusammenarbeit mit seiner Frau und wichtigsten Dialogpartnerin Ursula Ehler. Als Autorenkollektiv erfinden sie Figuren, indem sie über sie reden, sie lassen sie aufeinanderprallen, leben mit ihnen. Die Personen und ihre Handlungen entstehen in einem dramaturgischen Ping-Pong-Spiel der sich gegenseitig zugeworfenen szenischen Einfälle. Oft teilen sie in diesem Schaffensprozess ihre Ansichten, sie sind aber auch unterschiedlich genug, um „riskante Auseinandersetzungen“ zu führen, wie Ursula Ehler sagt. Ihr gemeinsames Werk ist im Lauf der Zeit auf 40 Stücke angewachsen. Das einzigartige Künstlerpaar lernte sich Mitte der 1960er-Jahre, während Dorsts Arbeit an Toller kennen. „Er erzählte mir (von Toller)“, so Ehler, „und ich konnte und wollte nicht ahnen, dass aus dieser Begegnung schließlich eine große Nähe entstand, ein Gespinst aus Leben und Arbeit, in dem wir uns immer noch bewegen.“ Das Stück Eiszeit, uraufgeführt 1973 in Bochum, war ihr erstes gemeinsames Werk. „Wir schreiben das Theater neu!“ lautete die Devise des Uraufführungs-Regisseurs Peter Zadek.

Das war auch die Zeit eines großen Umbruchs in Dorsts Schreiben, in der das Theater zur „Werkstatt“ wurde. „Der Autor hat Einfälle, er liefert Dialoge, Konstellationen, szenische Anlässe, Rohstoff“, sagt Dorst, „Erst auf der Bühne wird das Ganze endgültig fixiert, montiert, in Theater verwandelt.“ Tankred Dorst und Ursula Ehler sind Autoren, die anbieten, ihre Gedanken über die Welt, ihre Erlebnisse, und Anstöße geben wollen. 1992 gründeten sie gemeinsam mit Manfred Beilharz das Autorenfestival Bonner Biennale und schufen damit eine Plattform für neue europäische Dramatik. Ihr vorurteilsfreier, ganz heutiger, immer reflektierender Blick auf zeitgenössische Dramatik zeichnet ihre kuratorische Arbeit aus.

Tankred Dorst und Ursula Ehler haben das zeitgenössische deutsche Nachkriegsdrama und -theater wie kaum andere durchlebt und geprägt. Mit ihren Stücken und Stoffen reagieren sie auf die großen Wandlungen der Welt – ihr Theater hat immer einen direkten Bezug zur Gegenwart, ist stets zeitgenössische Kunst. Mit ihrer stofflichen Vielfalt und ihren unterschiedlichen Tonarten haben sie das Theater stets vor neue Aufgaben gestellt, es nie bedient, sondern immer herausgefordert.

Herzlichen Dank für Deine immerwährende Neugierde, lieber Tankred.
 

Unsere Autorin Yvonne Büdenhölzer lernte Tankred Dorst 2000 als Hospitantin bei der Bonner Biennale Neue Stücke aus Europa kennen. Zehn Jahre später (in der Spielzeit 2009/10) kuratierte sie gemeinsam mit Tankred Dorst, Ursula Ehler und Manfred Beilharz die 10. Festivalausgabe der Biennale Neue Stücke aus Europa in Mainz und Wiesbaden. 2012 hielt sie die Laudatio auf Tankred Dorst und Ursula Ehler zur Verleihung des Faust-Preises. Wir haben Sie gebeten, für Goethe.de eine persönliche Gratulation zu schreiben.