„Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ von Lukas Bärfuss

Die sexuellen Neurosen unserer Eltern
© Foto: Dmitrijus Matvejevas

Das Mädchen Dora hatte jahrelang im seelischen Dämmerzustand gelebt, unter dem Einfluss von ruhigstellenden Psychopharmaka, die ihr vom Arzt und den Eltern verabreicht wurden. Der Grund war, sie und ihre Umwelt vor ihrer geistigen Andersartigkeit zu schützen, die sich vor allem in wilden und unkontrollierbaren Gefühlsausbrüchen äußerte, und ihr ein "normales" Leben zu ermöglichen; sogar einer Arbeit kann sie nachgehen, als Aushilfe in einem Gemüseladen, in dem sie großzügigerweise von einem wohlwollenden Chef angestellt wurde. Eines Tages sollen, auf Wunsch der Mutter, die Medikamente abgesetzt werden - die Mutter möchte die wahre Persönlichkeit ihrer Tochter kennenlernen. Dora erwacht aus ihrer künstlich hergestellten Folgsamkeit: Sie entwickelt einen enormen Lebenshunger, zeigt ihren eigenen Willen und entdeckt vor allem ihre Sexualität. Und dies in einem Maß, das die Vorstellungen der Erwachsenen, wie Dora diese auszuleben hätte, bei weitem übersteigt. So läßt sie sich auf einen durchreisenden Parfumvertreter ein, der sie mißhandelt und vergewaltigt. Die Eltern sind entsetzt, doch für Dora erscheint dies wie ein gelungener Ausbruch aus ihrer überbehüteten Umgebung. Die Ermahnungen und Ratschläge von Arzt, Eltern und Arbeitgeber erreichen sie nicht mehr, sie tut sich keinen Zwang an, trifft in ihren naiv und ungebremst hervorgebrachten Meinungen die wunden Punkte der scheinbar toleranten Erwachsenenwelt und kostet dabei ungehemmt ihre Lebenslust aus. Diese ist am Schluß nicht einmal dann zerstört, als die Eltern sie, in einem Akt der Doppelmoral und dem vermeintlichen Glauben, ethisch verantwortungsvoll in Doras Leben eingreifen zu müssen, zur Abtreibung schicken und zwangssterilisieren lassen.

Stimmen zur Inszenierung in Litauen

Der Stil des neuen Stücks ist den Künstlern zufolge an ein unwiderstehliches Theatergenre angelehnt. Die Macher der „Sexuellen Neurosen unserer Eltern“, der Bühnenautor Lukas Bärfuss mit Regisseurin Ramunė Kudzmanaitė und dem gesamten Team sind der Meinung, dass „ein Phänomen, über das man nicht lachen kann, nicht vollständig erforscht“ ist. Lustige Szenen sind jedoch nicht das Einzige, das dem Zuschauer während der Aufführung begegnet. Dank der talentierten Schauspieler werden auch die schmerzhaften Themen des Lebens erörtert, die das Werk des Autors dominieren: die Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlichen Alters oder unterschiedlicher Überzeugungen.
(alytausgidas.lt, 09.09.2008)

Das aufmerksame und kundige Publikum, das den subtilen kreativen Stil der Regisseurin Ramunė Kudzmanaitė und die künstlerische Einheit des hingebungsvollen kreativen Teams schätzt, strömt in die Säle des Schauspielhauses in Kaunas, ins Kleine Staatstheater und die Kleine Bühne des Nationaltheaters in Vilnius. Auf der letztgenannten Bühne entstand eine Nische für zwei neue Stücke der Künstlerin: „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ nach dem Stück des jungen Schweizer Dramatikers Lukas Bärfuss (2007) und „Die sonnigen Tage“ (2008). [...] Die letzteren Inszenierungen von Ramunė Kudzmanaitė lassen sich auch ideell verknüpfen und vereinen: ihr rücksichtsvolles, ruhiges und positives Hinhören, ihr Einfühlen in jemanden, der „anders“ als die meisten ist, ihre künstlerische Reife, die kleinen Helden zu lieben, zu hören, zu verstehen und zu rechtfertigen und deren „kleinen, stillen“ Schmerz zu einem unerträglich lauten, offenen und klaren Gellen zu erheben.
(Ingrida Ragelskienė, „Über jeden von uns“, bernardinai.lt, 19.012009)

Inszenierung in Litauen

Premiere 23.03.2007
Regie Ramunė Kudzmanaitė
Bühne Laura Luišaitytė
Musik Faustas Latėnas
Mit Miglė Polikevičiūtė, Monika Bičiūnaitė, Rimantas Bagdzevičius, Šarūnas Puidokas, Vaiva Mainelytė, Remigijus Bučius, Evaldas Jaras
Übersetzung Jūratė Pieslytė

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