Schaufenster Enkelgeneration
Die sprachwissenschaftliche Sicht

Prof. Dr. Riehl
Prof. Dr. Riehl | © Marc Bäder

Die Sprachwissenschaftlerin Prof. Dr. Claudia Maria Riehl begleitet das Projekt „Schaufenster Enkelgeneration“. Susan Zerwinsky vom Goethe-Institut Prag sprach mit ihr über ihr Fachgebiet Minderheitensprachen.

Frau Prof. Riehl, was fasziniert die Sprachwissenschaft an „Minderheitensprachen"?

Zunächst einmal muss man sich bewusst machen, dass es ja ganz unterschiedliche Arten von Minderheitensprachen gibt: So gibt es Sprachen, die nur von kleinen Gruppen gesprochen werden und die es sonst nirgends mehr auf der Welt gibt. Beispiele hierfür sind die vielen Indianersprachen oder die Sprachen der Aborigines in Australien und Neuguinea. Aber auch bei uns in Europa gibt es eine Reihe solcher Sprachen, z.B. Baskisch, Gälisch oder Sorbisch. Und dann gibt es Minderheitensprachen, die noch ein sog. sprachliches Mutterland haben, wie die deutschsprachigen Minderheiten, die in vielen Ländern der Erde vertreten sind - nicht nur in Europa, sondern auch in den USA, in Südamerika, Südafrika oder Australien. Diese Gruppen, die wie Inseln in einem großen anderssprachigen Meer verstreut sind, nennt man Sprachinseln. Sie sind für die Forschung deshalb interessant, weil man hier die Entwicklung der Sprache in der Isolation vom sprachlichen Mutterland beobachten kann.

Stichwort „Sprachinseln“: Welche Aspekte interessieren Sie dabei besonders?

Die Linguistik interessiert sich besonders für drei Gebiete: Das ist einmal die Entwicklung der Sprache selbst, dann die Mehrsprachigkeit der Sprecher und schließlich der Zusammenhang von Sprache und Gesellschaft, d.h. wer wann welche Sprachen spricht.
Aus der sprachsystematischen Perspektive betrachtet, gibt es verschiedene Aspekte, die wir besonders in den Blick nehmen: Zum einen haben Minderheiten haben oft einen alten Wortschatz oder alte Dialektstrukturen erhalten, die bereits im geschlossenen deutschen Sprachraum ausgestorben sind. Dann haben sich Sprachen bzw. der entsprechende Dialekt, der von der Minderheit gesprochen wird, in der Isolation in eine bestimmte Richtung weiterentwickelt, die in der Sprache selbst schon angelegt ist: So beobachten wir ja im Deutschen einen Abbau der Kasus, etwa das Verschwinden des Genitivs. Bei einigen deutschen Sprachminderheiten ist nun auch bereits der Dativ nicht mehr vorhanden, die Leute sagen dann: mit die Mutter, bei die Bauern, von den Stalin, mit das Fleisch usw.

Und schließlich übernimmt die Minderheitensprache Wortschatz und Strukturen aus der Umgebungssprache und verändert sich auch dadurch. Ein Beispiel aus dem Ungarndeutschen: Unser unoka is an dr egyetem in Pest, sie werd közgazdász. [Unsere Enkelin ist an der Universität in Budapest, sie wird Ökonomin.] Außerdem kann man bei Sprechern der Minderheitensprachen auch Beobachtungen machen, wie die Sprachen im Gehirn repräsentiert sind. Denn bei mehrsprachigen Personen lassen sich viele kognitive Prozesse beobachten, die durch den Gebrauch mehrerer Sprachen entstehen: Die Sprecher wechseln häufig zwischen den Sprachen – das nennt man Code-Switching – und wenn sie das unbeabsichtigt tun, lässt das Rückschlüsse darauf zu, wie die Sprachen in unserem Gehirn vernetzt sind.

Und schließlich ist ein wichtiger Aspekt, wie Sprache und Gesellschaft sich gegenseitig beeinflussen. Dabei ist die zentrale Frage: Wer gebraucht welche Sprache mit wem und warum? Hier werden zum einen die außersprachlichen Faktoren untersucht, die dafür verantwortlich sind, warum z.B. manche deutschsprachigen Minderheiten noch die Sprache erhalten haben – wie etwa die Deutschen in Rumänien – und andere sie kaum noch verwenden – wie etwa die Deutschen in Tschechien. Zum anderen stellt man sich die Frage, welchen Einfluss die Einstellungen der Sprecher darauf haben, warum man die Minderheitensprache spricht oder nicht.

Wie sehen Sie die Situation der deutschen Sprache in Mittelost- und Osteuropa? Was haben Sie bereits an Erkenntnissen gewonnen? Was erhoffen Sie, noch zu erforschen?

In unserem Forschungsprojekt zu Mittel- und Osteuropa, das ich mit Professor Eichinger vom Institut für Deutsche Sprache und Kolleginnen und Kollegen aus den jeweiligen Ländern durchgeführt habe, konnten wir feststellen, dass die deutsche Sprache in vielen Regionen leider nur noch von der älteren und mittleren Generation gesprochen wird. In der mittleren Generation finden sich bereits viele Einflüsse der Umgebungssprache, z.B. aus dem Tschechischen, Polnischen oder Ukrainischen.

Das betrifft ganz besonders den Wortschatz: Hier werden immer mehr Wörter in das Deutsche integriert, wie im Deutsch der tschechischen Minderheit, z.B. die Verwaltungseinheiten (kraj 'Bezirk', okres 'Kreis', výbor 'Ausschuss'), aber auch Nahrungsmittel und Speisen (malina 'Himbeere', kascha 'Brei' (tschech. kaše), topinka 'gebackene Brotscheibe'), Bezeichnungen für Tiere (straka 'Elster'), Personen (baba 'alte Frau'), Berufe (sklenař 'Glaser'), Wohnen (chalupa 'Hütte') u.v.m. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch sog. Gesprächswörter übernommen werden: Das sind kleine Wörter, wie das deutsche also oder das engl. well, die keine eigentliche Bedeutung haben, sondern lediglich die Aufmerksamkeit des Hörers steuern oder Pausen füllen. Solche Wörter, wie etwa russ. ẹto, tschech. tak oder ungar. hát, durchziehen dann den ganzen Text der deutschen Minderheitensprecher und dadurch bekommen die Äußerungen dann einen ganz anderen Duktus.

Der Einfluss der Umgebungssprache weitet sich aber auch auf die Grammatik aus, hier zwei Beispiele aus dem Deutschen in Tschechien: Es gibt eine Tendenz, das Reflexivpronomen nicht zu flektieren. Im Deutschen verwendet man ja mich, dich, sich etc., im Tschechischen nur ein einziges für alle Personen, nämlich se. Und so sagen dann etwa die Sprecher: Ihr müsst sich schreiben gleich (tschech. 'musíte se psát stejně') statt müsst euch gleich schreiben.
Ein anderes Beispiel wäre, dass man das zu im Infinitiv weglässt, analog zum Tschechischen, wo der Infinitiv nur durch die einfache Verbform ausgedrückt wird: aber ich hab mich sehr geschämt deutsch reden (tschech. 'ale velmi jsem se styděla mluvit německy') statt: geschämt deutsch zu reden.

Gibt es Besonderheiten in Mittelosteuropa und Osteuropa, die gerade dieses Gebiet für die Forschung so interessant machen?

Mittelosteuropa und Osteuropa sind deshalb faszinierend, weil hier einerseits sehr alte deutsche Sprachgebiete existieren, etwa in Tschechien, Polen und der Slowakei, die schon sehr früh im Mittelalter, nämlich bereits im 11. und 12. Jhd., besiedelt wurden. Andererseits gibt es neuere Siedlungsgebiete, die im Zuge der Besiedlungspolitik von Maria Theresia und ihren Nachfolgern im 18. Jh. entstanden, wie die meisten deutschsprachigen Gebiete in Ungarn, einige in Rumänien oder der heutigen Ukraine. Daneben findet man in Tschechien und Polen noch Relikte der Gebiete, die bis zum zweiten Weltkrieg große zusammenhängende deutschsprachige Territorien bildeten. Diese grenzten direkt an den deutschen Sprachraum an und bildeten eigene deutsche Dialekte aus: Sieht man sich etwa den Sprachatlas des Deutschen Reiches an, der Ende des 19. Jhds. von Georg Wenker begründet wurde, dann findet man dort unter den deutschen Mundarten Ostpommersch, Preussisch, Schlesisch, Böhmisch und Mährisch, die heute alle auf den Gebieten des heutigen Tschechiens und Polens liegen. Interessant für die Sprachwissenschaft ist nun, inwiefern es eine Rolle spielt, wo die jeweiligen Gebiete liegen, wie groß sie sind und wie die jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Umstände sich auf den Erhalt der deutschen Sprache auswirken.

Was genau untersuchen Sie aktuell hier in Tschechien, Polen, Ungarn, der Slowakei und Slowenien?

Wir stellen hier Fragen zu den Themenbereichen, die ich bereits erwähnt habe, etwa Fragen nach der Beschaffenheit der Sprache, die gesprochen wird, z.B. welche Dialekte überhaupt noch gesprochen werden und was diese an alten Merkmalen erhalten, die bereits in anderen Dialekten verloren gegangen sind. Weiter fragen wir, wie die Sprache sich in den letzten Generationen durch den verstärkten Einfluss der Umgebungssprachen, also des Tschechischen, Polnischen, Ungarischen etc. verändert hat. Dann wollen wir herausfinden, welche Rolle die deutsche Standardsprache, die in der Schule gelehrt wird, spielt oder wie groß der Einfluss der Medien ist.

Ein weiterer wichtiger Forschungspunkt betrifft die Bereiche, in denen die deutsche Sprache noch verwendet wird. Hierbei stellt sich zum einen die Frage nach den Personen, mit denen man Deutsch spricht. Dann fragen wir danach, ob es noch bestimmte Domänen gibt, etwa den Bereich des Denkens, Träumens, Fluchens oder die Sprache mit Gott, in denen überwiegend die deutsche Sprache verwendet wird. Oder wer überhaupt noch Deutsch erhalten hat und warum und ob es noch Personen gibt, mit denen der alte Dialekt gesprochen wird. Da es nur noch wenige junge Leute gibt, die den Dialekt als Muttersprache gelernt haben, fragen wir auch danach, warum junge Leute, die aus der deutschen Minderheit stammen, die deutsche Sprache lernen: Sind das nur wirtschaftliche Gründe oder auch Gründe wie Herkunft und Identität?

Der letzte Aspekt interessiert uns im Kontext unseres Projektes besonders. Mit welcher Fragestellung untersuchen Sie unsere Videoessays?

Für uns ist interessant zu sehen, ob es noch junge Menschen gibt, die den alten Dialekt sprechen. Dabei interessiert zunächst auch wieder eine sprachsystematische Frage: Wie hat sich etwa dieser Dialekt durch den Einfluss der tschechischen Sprache verändert, die ja bei der jungen Generation die dominante Sprache ist? Hier kann man etwa alte Aufnahmen zum Vergleich heranziehen, die noch vor dem Weltkrieg gemacht wurden, oder auch Aufnahmen, die im Rahmen des Atlasses der deutschen Mundarten auf dem Gebiet der Tschechischen Republik gemacht wurden. Dann aber ist für uns wichtig, herauszufinden, wo die jungen Leute den Dialekt gelernt haben und warum etwa die Eltern die Sprache weitergegeben haben, obwohl Deutsch ja lange Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verpönt war. Wir wollen wissen, wie die Situation für die jungen Leute war, ob sie etwa benachteiligt wurden, weil sie Deutsche waren.

In diesem Zusammenhang stellen wir auch die Frage nach der Rolle der Sprache für die Identitätsbildung, eine Fragestellung, die auch die Soziologen und Ethnologen interessiert. Dabei geht es darum, welche Rolle die Sprache für die Identität der jungen Leute spielt: Als was bezeichnen sie sich selbst (z.B. als Tschechen, Deutschtschechen, Egerländer, Böhmen, Mähren o.ä)? Dabei ist auch interessant zu sehen, ob es Unterschiede zwischen den jeweiligen Regionen gibt: Einmal zwischen den Deutschen in Polen, Tschechien, Ungarn, Slowakei etc., aber auch innerhalb der jeweiligen Staaten: Hat etwa ein Angehöriger der deutschen Minderheit im Egerland ein anderes Verständnis als einer aus Mähren? Und wir versuchen dabei besonders herauszufinden, welchen Einfluss die Identitätsbildung durch Sprache und die Einstellung zur Sprache für den Spracherhalt hat.

Bitte geben Sie uns eine abschließende Einschätzung: Welche Faktoren helfen dabei, Minderheitensprachen als solche zu erhalten?

Es gibt natürlich eine ganze Reihe von Faktoren, die zusammenspielen, allerdings fallen die Kombination der Faktoren und ihre Gewichtung in den verschiedenen historischen Epochen unterschiedlich aus. Bis zum Ersten Weltkrieg waren vor allem Faktoren wie der Status des Deutschen als Kirchensprache, das Prestige der Sprache, der geringe Ausbau der Umgebungssprachen (v.a. als Amtssprachen) und die relativ hohe Zahl der Kommunikationspartner dafür ausschlaggebend, dass die Sprache erhalten wurde.

Heute sind im Wesentlichen Faktoren wie der Erhalt des Deutschen als Schulsprache, ein Zugang zu Medien im Deutschen sowie der Verbleib intellektueller Schichten in der Minderheit – wie das etwa in Rumänien der Fall ist – zentral für den Erhalt der Sprache. Aus unseren bisherigen Forschungen geht hervor, dass dabei besonders die Schulpolitik eine Rolle spielt, d.h. inwiefern der Unterricht in der deutschen Sprache gefördert wird. Dabei ist natürlich die Einstellung der Politiker gegenüber der Förderung von Minderheitensprachen wichtig, aber auch die Einstellung der Eltern: zum einen, dass sie es unterstützen, dass ihre Kinder die deutsche Sprache in der Schule lernen, zum anderen dass sie den Nutzen der Mehrsprachigkeit für ihre Kinder erkennen und sehen, dass Mehrsprachigkeit eine wichtige Ressource ist, die eine Reihe von Vorteilen bringt, psychologische, kognitive und natürlich auch ökonomische. Und was man nicht vergessen darf: Mehrsprachige Menschen haben eine bedeutende Funktion in einem multikulturellen Europa der Zukunft: nämlich als Vermittler zwischen Sprachen und Kulturen.
 

Prof. Dr. Claudia Maria Riehl leitet das Institut für Deutsch als Fremdsprache der Ludwigs-Maximilian-Universität in München. Die Erforschung von Minderheitensprachen gehört zu Ihren Arbeitsschwerpunkten. Das Projekt Sprache und Identität: Schaufenster Enkelgeneration wird von Frau Prof. Riehl wissenschaftlich begleitet, kommentiert und ausgewertet.